



LYZ STIEHLT DEN ROSENKRANZ
Während Lyz sich weiter mit Téo zankte, betrachtete Inez ihre Freundin nachdenklich. Sie kannte sie jetzt schon seit etwa vierzehn Jahren: Sie hatten damals als Kinder gemeinsam in den alten Sandgruben von Vita Nera gespielt, wenn ihre Eltern arbeiten waren – bevor diese eines Tages einfach spurlos verschwanden.
Kein seltenes Schicksal in der Vita Nera: Ungezahlte Schulden, unnachgiebige Confesseure oder ein Haus, das einen schlechten Tag hatte – es gab viele Gründe, weshalb jemand in La Perdante verschwand.
Lyz war dabei immer an ihrer Seite geblieben, egal welche Probleme sie hatte oder wie groß die Sorge vor dem nächsten Tag war. Als Inez von einem Tag auf den anderen ohne Eltern war, hatte Lyz’ Mutter sich nach langem Zureden ein Herz gefasst und sie bei sich aufgenommen – nicht selbstverständlich, bedenkt man die finanzielle Lage, in der die Familie steckte. Mit der Zeit konnte Inez schließlich auf eigenen Beinen stehen und quartierte sich in einer winzigen Wohnung direkt vor der Viadombra ein – Lyz und ihren kleinen Bruder Kynoz besuchte sie dennoch jeden Tag.
Alles, was Lyz verdiente, steckte sie in die Versorgung ihrer Familie. Es musste Essen auf den Tisch, Kynoz brauchte Schulsachen, und hin und wieder waren Medikamente notwendig, um die Kopfschmerzen ihrer Mutter in den Griff zu bekommen. Ja, es war kein einfaches Leben – aber Lyz hatte sich dennoch nie unterkriegen lassen.
Inez ließ ihren Blick auf ihrem Gesicht verweilen. Lyz hasste lange Haare und schnitt sie sich immer mit dem erstbesten Werkzeug kurz, das sie fand. Ihre blauen Augen bildeten einen harten Kontrast zu den dunklen Haaren und dem feinen Gesicht. An ihrem Hals prangte das Tattoo einer Katzenpfote – der einzige Luxus, den sie sich erlaubt hatte, als sie an einem Tag eine vergoldete Hand von einem Händler der Trinitriad geklaut hatte. Das Tattoo lugte verstohlen hinter dem Kleid hervor, als wolle es sich vergewissern, ob die Luft rein war. Wie sie da stand, fiel Inez nicht auf, dass Lyz ihren Blick inzwischen bemerkt hatte.
»Äh, Liebes? Alles in Ordnung? Ist irgendwas an mir?« Lyz blickte sie mit großen Augen verständnislos an. Auch Téo hatte den Streit kurz vergessen und schaute zu seiner Freundin.
Inez schüttelte den Kopf und spürte, wie ihr eine leichte Röte ins Gesicht stieg. Es musste die warme Luft im Casino sein. Sie zwang sich zu einem Lächeln.
»Ich hatte mir grad nur gedacht, dass Lyz das am besten übernehmen sollte. Ich mein, wir haben nicht umsonst eine Meisterdiebin bei uns, oder?«
Lyz und Téo starrten sie gleichermaßen verständnislos an – bevor die erste ein breites Grinsen aufsetzte und der zweite einen tiefen Seufzer ausstieß.
»Haha! Sag ich doch, ich bin die beste Wahl!« Übermannt von ihrer Euphorie schlang Lyz die Arme um ihre Freundin und drückte sie fest an sich. Ein leichter Anflug ihres Parfüms schlich sich zu Inez – eine Mischung aus Lavendel und Rauch … und etwas, das nur Lyz gehörte.
Da, schon wieder stieg ihr das Blut zu Kopf. Was war nur los mit ihr?
»Ihr werdet schon wissen, was ihr tut«, murmelte Téo und lehnte sich mit verschränkten Händen gegen eine Säule. »Also gut, was machen wir?«
Lyz löste sich von ihrer Freundin und setzte eine professionelle Miene auf – wie immer, wenn es um Diebstahl ging. Sie deutete auf einen der zahlreichen Kellner, die sich nahezu ungesehen durch die Menge bewegten. »Seht ihr, wie viel Alk die durch die Gegend tragen? Wenn sich ein Gast unglücklicherweise zu schnell … in die falsche Richtung … zum falschen Zeitpunkt … umdrehen würde, gäbe es sicherlich eine große Sauerei.« Sie hielt theatralisch die Hand ans Kinn und seufzte. »Es müsste sich nur jemand finden …«
Inez und Téo drehten sich zeitgleich zueinander um.
»Ich nicht.«
»Verdammt!«
Téo verzog das Gesicht und nickte schließlich schicksalsergeben. »Na gut. Aber bleib in meiner Nähe. Falls doch was schiefgeht.«
»Was denn? Hast du Angst, deinen Anzug zu ruinieren?«
Lyz schnalzte ungeduldig mit der Zunge. »Ihr müsst nur dafür sorgen, dass unser Mann in Grün für ein paar Sekunden in eine andere Richtung schaut – und dann sind wir um einen Rosenkranz reicher. Klar soweit?« Sie stemmte die Hände in die Hüften und blickte Inez und Téo mit hochgezogenen Augenbrauen an.
Die beiden Komplizen nickten.
»Gut. Dann legen wir mal los.« Mit diesen Worten ging Lyz sicheren Schrittes in Richtung des Mannes in Grün, dessen Blick weiterhin an diversen langen Beinen kleben blieb. Kurz neben dem Mann, der sie einmal von oben bis unten musterte und seine Aufmerksamkeit dann wieder dem Alkohol widmete, kam sie zum Stehen. Schwungvoll setzte sie sich vor einen Automaten, warf einen Jeton ein und zeigte zunächst drei ausgestreckte Finger, dann den emporgereckten Daumen – ihr Zeichen, dass es losgehen konnte.
»Wieso muss ich eigentlich immer die unangenehmen Sachen machen«, murmelte Téo und blickte leicht panisch zu den Kellnern hinüber.
Es war bemerkenswert: In technischen Dingen reichte ihm keiner das Wasser, aber wenn es um soziale Situationen oder das Rampenlicht ging, war er völlig überfordert. Wobei, das stimmte nicht ganz: Wenn jemand Téo die technische Expertise abstritt, zerriss er denjenigen in der Luft.
»Du schaffst das schon. Ich bin doch direkt hinter dir.« Inez klopfte ihm aufmunternd auf den Rücken und deutete auf einen Kellner, der auf direktem Weg zu dem Mann in Grün war. »Jetzt oder nie, Mastermind.« Das Mastermind schluckte – und nickte ganz leicht, bevor es sich zunächst unsicher, dann immer schneller auf den Weg machte. Inez konnte die Sekunden zählen, die ihn von dem Kellner trennten.
3 – Sie sah die zahlreichen silbernen Flaschen auf dem Tablett, deren Flüssigkeit leicht hin und her schwappte.
2 – War das ein »Perdante Veneno«? Sie hatte mit Lyz vor einigen Jahren eine Flasche gestohlen und in einer Nacht ausgetrunken …
1 – … was im Nachhinein keine gute Idee war, die Kopfschmerzen, die sie am nächsten … –
Mit einem gewaltigen Rumms erwischte Téo den Kellner an der Schulter und fiel mit ihm zu Boden. Die Unsicherheit, die Téo natürlicherweise mitbrachte, machte das Schauspiel perfekt: Niemand sonst hätte es so glaubwürdig rübergebracht. Aus dem Augenwinkel sah Inez, dass Lyz’ Platz inzwischen leer war.
»Ach du meine Güte, bitte entschuldigen Sie, das ist mir so tausendfach unangenehm …« Das Knäuel, das aus Téo und dem Kellner bestand, hatte sich inzwischen entwirrt und wieder auf die Beine gefunden. Auf dem gesamten Boden lagen silberfarbene Glasscherben und Alkoholreste, die im Licht des Casinos eigenartig schimmerten. Eine Meute von Menschen hatte sich um sie versammelt und gab Ratschläge und Beschimpfungen zum Besten. Auch der Mann in Grün beugte sich fasziniert nach vorn.
»Wirklich, ich habe keine Augen im Kopf, wissen Sie, das kommt von diesem ständigen Arbeiten am Bildschirm.« Der Kellner hatte inzwischen begonnen, die Reste seiner Lieferung vom Boden zu wischen, und schüttelte gutmütig den Kopf, um den Gast ja nicht zu verärgern. Auch die herumstehenden Wachleute beruhigten sich, winkten ab und waren gerade im Begriff zu gehen … als die herrische Stimme eines Mannes ertönte.
»Das hat der doch absichtlich gemacht! Das habe ich gesehen! Ein Taschendieb ist das, ganz bestimmt!«
Der Mann, der sich gerade eben noch am Roulette-Tisch befunden hatte, deutete auf Téo und winkte die Wachen herbei. »Prüfen Sie den! Der hatte diesen armen Mann schon die ganze Zeit im Blick. Ein Dieb ist er, das sag ich Ihnen aber!«
Auch die anderen Leute fingen an zu murmeln; einige nickten zustimmend, andere schüttelten verächtlich den Kopf. Der Mann in Grün war inzwischen aufgestanden und hatte sich zu der Meute dazugesellt. Von Lyz keine Spur.
Inez fluchte. Das hatte noch gefehlt. Jetzt brauchte es die Kavallerie.
Sie preschte durch die Menge und stellte sich neben Téo, der sich wie zu einem Rettungsanker zu ihr umdrehte und den die Wachen inzwischen misstrauisch beäugten. Der Mann redete sich inzwischen in Rage.
»Nehmen Sie den da mit, Sie sehen doch, wie schuldig der guckt!«
»Jetzt halten Sie doch mal die Luft an! Ist das das Verhalten, das im Sanctum Sins toleriert wird?« Inez funkelte den Mann böse an und wandte sich an die Umstehenden. »Sie sehen doch, wie aufgelöst der junge Mann ist.« Sie deutete auf das verdutzte Häufchen Elend, das Téo hieß. »Erinnern Sie sich an Ihre Manieren und machen Sie diesem Haus keine Schande!«
Der Mann schnaubte entrüstet. »Das sind doch Komplizen, allesamt! Nehmen Sie sie alle fest!«
Wie sehr du doch recht hast, dachte sich Inez bitter.
In diesem Moment drängte sich Lyz an dem Mann vorbei und stieß ihn unsanft zur Seite, bevor sie sich zu Inez gesellte. Sie räusperte sich und sprach direkt zu den Wachen, die dem Schauspiel inzwischen nicht mehr ganz folgen konnten. Ihr Finger deutete direkt auf den Schreihals.
»Ich habe diesen Hochstapler bei diesem Gentleman herumschleichen sehen … und …« – sie deutete auf den Mann in Grün. – » … ich bin mir ziemlich sicher, dass er ihn bestohlen hat.«
Beinahe zeitgleich warfen der Schreihals und der Mann in Grün die Hände in die Luft und stießen einen Wortschwall aus Flüchen und Entrüstungen aus. Der Mann in Grün fuhr hektisch seine Kleidung ab, bevor er erstarrte.
»Mein Portemonnaie! Mein Portemonnaie ist weg!«
Sofort stimmte die Menge um sie herum in wilde Diskussionen um den wahren Dieb ein und zeigte mit den Fingern auf Téo, den Schreihals und sogar auf Inez selbst. Die Wachen hatten sichtlich Mühe, den Tumult unter Kontrolle zu bekommen.
»Lachhaft! Hier, durchsuchen Sie mich doch! Ich bin unschuldig!« Der Schreihals baute sich bedrohlich vor Téo auf. »Gleich werden sie dich hier hochkant rausschmeißen, Bürschchen …« Er hob die Arme und ließ eine Wache gewähren, die begann, seine Taschen auszuleeren, während eine andere Wache bereits auf dem Weg zu Téo war.
Wenn sie das Etui fanden … oder den Datenkristall … dann war es das gewesen. Inez blickte zu Téo, der panisch zurückblickte. Hatte Lyz es überhaupt geschafft, den Rosenkranz zu stehlen? Der Mann in Grün war von einer Traube neugieriger Gäste umringt; sie konnte seinen Hals nicht sehen. Dann blickte sie Lyz direkt an.
Diese grinste verschmitzt und zwinkerte ihr zu.
Der Schreihals hatte sich inzwischen wieder in Rage geredet. »Nirgendwo in La Perdante ist man noch sicher. Es ist …« Der Mann unterbrach schlagartig seinen Monolog, als die Wache ein giftgrünes Portemonnaie aus einer Tasche zog, das dieselbe Farbe wie der Anzug des Mannes hatte.
Alle erstarrten. Dann brach ein neuer Tumult aus.
»Das war ich nicht! Ich wurde betrogen …« Die Stimme des Schreihals wurde leiser, als zwei Wachen ihn unter Gezeter aus dem Casino zogen und der Mann in Grün glücklich mit seinem Portemonnaie wiedervereint war – ihm fiel gar nicht auf, dass sein Rosenkranz ebenso fehlte.
Vermutlich war es die Mischung aus Euphorie und dem Alkohol.
Die Wachen neigten die Köpfe, entschuldigten sich für den Aufruhr und ließen die drei Freunde allein, die sich etwas weiter abseits in einer dunklen Ecke sammelten. Téo keuchte.
»Nie … nie … nie wieder, hört ihr? Den Scheiß mach ich nicht noch einmal mit.« Er schloss die Augen und lehnte sich gegen eine Wand, bevor er die Lider einen Spalt breit öffnete und Lyz ansah. »Ich hasse dich. Aber gute Arbeit.«
Er schloss die Augen wieder. »Ich hasse dich trotzdem noch.«
Lyz gluckste und hielt den Rosenkranz hoch, während sie Téos warnendes Schimpfen ignorierte. »Jackpot.« Dann lächelte sie Inez an – mit diesem Lächeln, bei dem sie die Augen schloss und den Kopf beiseite legte. »Hab doch gesagt, ich krieg’s hin.«
Inez stotterte kurz vor sich hin und nickte dann hastig. »Ja-ha, das war wirklich krass …« Lyz schaute sie schelmisch an und gab ihr schließlich den Rosenkranz, den Inez in ihrer Handtasche verschwinden ließ.
Jetzt reiß dich mal zusammen, Inez!
Téo war inzwischen wieder aus dem Reich der Toten erwacht und wischte sich über die Stirn. »Lasst uns von hier weg. Wir sind aktuell Publikumsmagnet Nummer eins.« Das stimmte: Seit dem Zwischenfall mit dem Kellner warfen die Leute Blicke auf sie – einige verstohlen, einige neugierig.
Die drei Diebe setzten sich in Bewegung, und Téo drehte sich zu Inez um. »Unser nächstes Ziel …« – er deutete auf Inez’ Handtasche, in der sich das Etui befand – »… ist der Pitboss. Zeig mal her.« Inez kramte eine Weile in ihrer Tasche und holte schließlich das Etui hervor, das eine hölzerne Vertäfelung hatte und mit Jade besetzt war. Téo begutachtete es noch einmal von allen Seiten, bevor er durchatmete und sich eine einzelne Schweißperle von der Stirn strich. »Dann los.«
Er deutete auf das Ende des Kirchenschiffs, vor dem zwei Frauen in goldenen Anzugkleidern einen Metalldetektor bewachten – denselben, den sie schon beim Betreten durchlaufen mussten. »Wir sollten weiter.«
So liefen die drei Freunde zur Schleuse des Sanctum und kamen schließlich vor den beiden Wachen an. Die rechte der beiden, die am Handgelenk einen goldenen Schädel trug, hielt respektvoll eine Hand vor die drei und bedeutete ihnen, anzuhalten.
»Guten Abend, meine Damen. Sie möchten im Sanctum spielen?«
Lyz nickte und stieß ein theatralisches Schnauben aus. »Hier ist mir zu wenig Risiko, verstehen Sie? Ich brauche etwas, das das Blut in Wallung bringt …« Sie zwickte Inez in den Arm.
Die Wache gluckste und deutete in Richtung der Kellner. »Noch mehr Wallung? Kriegen Sie.« Dann nickte sie und wies auf eine stählerne Box, die eine kleine Öffnung in Form eines Kreuzes hatte.
»Dürfte ich Sie bitten, Ihre VIP-Berechtigung zu legitimieren?«
Inez trat einen Schritt vor und hielt den Rosenkranz des Kaktus an die Öffnung. Sie formte ein kurzes Stoßgebet in ihrem Kopf und drückte schließlich das Kreuz in die Öffnung.
Hoffentlich hatten sie nichts übersehen.
Das Gerät brauchte eine ganze Weile, in der die Wache Inez und Lyz neugierig ansah. »Wenn Sie mir den Kommentar erlauben – Sie harmonieren ganz wundervoll miteinander.« Lyz senkte huldvoll den Kopf. »Ich danke Ihnen«, während Inez angestrengt versuchte, an etwas anderes zu denken. Dann ertönte der befreiende Klang eines kurzen Jingles – und die Maschine leuchtete grün auf.
»Vielen Dank. Treten Sie ein – und beten Sie um gutes Glück.« Die Wache trat zur Seite, und die Schleuse hinter ihr öffnete sich mit einem Zischen.
Sie hatten es geschafft.
Die drei Freunde beeilten sich, das Sanctum zu betreten, bevor irgendwer – der Mann in Grün, die Wachen, Himmel, irgendein Gast – noch Verdacht schöpfen konnte.
»Ich hoffe, ich habe das Schlimmste bereits überstanden«, seufzte Téo, bevor er in das Sanctum trat. Inez nickte nur.
Zu sehr war sie vom Sanctum verzaubert.
Während Lyz sich weiter mit Téo zankte, betrachtete Inez ihre Freundin nachdenklich. Sie kannte sie jetzt schon seit etwa vierzehn Jahren: Sie hatten damals als Kinder gemeinsam in den alten Sandgruben von Vita Nera gespielt, wenn ihre Eltern arbeiten waren – bevor diese eines Tages einfach spurlos verschwanden.
Kein seltenes Schicksal in der Vita Nera: Ungezahlte Schulden, unnachgiebige Confesseure oder ein Haus, das einen schlechten Tag hatte – es gab viele Gründe, weshalb jemand in La Perdante verschwand.
Lyz war dabei immer an ihrer Seite geblieben, egal welche Probleme sie hatte oder wie groß die Sorge vor dem nächsten Tag war. Als Inez von einem Tag auf den anderen ohne Eltern war, hatte Lyz’ Mutter sich nach langem Zureden ein Herz gefasst und sie bei sich aufgenommen – nicht selbstverständlich, bedenkt man die finanzielle Lage, in der die Familie steckte. Mit der Zeit konnte Inez schließlich auf eigenen Beinen stehen und quartierte sich in einer winzigen Wohnung direkt vor der Viadombra ein – Lyz und ihren kleinen Bruder Kynoz besuchte sie dennoch jeden Tag.
Alles, was Lyz verdiente, steckte sie in die Versorgung ihrer Familie. Es musste Essen auf den Tisch, Kynoz brauchte Schulsachen, und hin und wieder waren Medikamente notwendig, um die Kopfschmerzen ihrer Mutter in den Griff zu bekommen. Ja, es war kein einfaches Leben – aber Lyz hatte sich dennoch nie unterkriegen lassen.
Inez ließ ihren Blick auf ihrem Gesicht verweilen. Lyz hasste lange Haare und schnitt sie sich immer mit dem erstbesten Werkzeug kurz, das sie fand. Ihre blauen Augen bildeten einen harten Kontrast zu den dunklen Haaren und dem feinen Gesicht. An ihrem Hals prangte das Tattoo einer Katzenpfote – der einzige Luxus, den sie sich erlaubt hatte, als sie an einem Tag eine vergoldete Hand von einem Händler der Trinitriad geklaut hatte. Das Tattoo lugte verstohlen hinter dem Kleid hervor, als wolle es sich vergewissern, ob die Luft rein war. Wie sie da stand, fiel Inez nicht auf, dass Lyz ihren Blick inzwischen bemerkt hatte.
»Äh, Liebes? Alles in Ordnung? Ist irgendwas an mir?« Lyz blickte sie mit großen Augen verständnislos an. Auch Téo hatte den Streit kurz vergessen und schaute zu seiner Freundin.
Inez schüttelte den Kopf und spürte, wie ihr eine leichte Röte ins Gesicht stieg. Es musste die warme Luft im Casino sein. Sie zwang sich zu einem Lächeln.
»Ich hatte mir grad nur gedacht, dass Lyz das am besten übernehmen sollte. Ich mein, wir haben nicht umsonst eine Meisterdiebin bei uns, oder?«
Lyz und Téo starrten sie gleichermaßen verständnislos an – bevor die erste ein breites Grinsen aufsetzte und der zweite einen tiefen Seufzer ausstieß.
»Haha! Sag ich doch, ich bin die beste Wahl!« Übermannt von ihrer Euphorie schlang Lyz die Arme um ihre Freundin und drückte sie fest an sich. Ein leichter Anflug ihres Parfüms schlich sich zu Inez – eine Mischung aus Lavendel und Rauch … und etwas, das nur Lyz gehörte.
Da, schon wieder stieg ihr das Blut zu Kopf. Was war nur los mit ihr?
»Ihr werdet schon wissen, was ihr tut«, murmelte Téo und lehnte sich mit verschränkten Händen gegen eine Säule. »Also gut, was machen wir?«
Lyz löste sich von ihrer Freundin und setzte eine professionelle Miene auf – wie immer, wenn es um Diebstahl ging. Sie deutete auf einen der zahlreichen Kellner, die sich nahezu ungesehen durch die Menge bewegten. »Seht ihr, wie viel Alk die durch die Gegend tragen? Wenn sich ein Gast unglücklicherweise zu schnell … in die falsche Richtung … zum falschen Zeitpunkt … umdrehen würde, gäbe es sicherlich eine große Sauerei.« Sie hielt theatralisch die Hand ans Kinn und seufzte. »Es müsste sich nur jemand finden …«
Inez und Téo drehten sich zeitgleich zueinander um.
»Ich nicht.«
»Verdammt!«
Téo verzog das Gesicht und nickte schließlich schicksalsergeben. »Na gut. Aber bleib in meiner Nähe. Falls doch was schiefgeht.«
»Was denn? Hast du Angst, deinen Anzug zu ruinieren?«
Lyz schnalzte ungeduldig mit der Zunge. »Ihr müsst nur dafür sorgen, dass unser Mann in Grün für ein paar Sekunden in eine andere Richtung schaut – und dann sind wir um einen Rosenkranz reicher. Klar soweit?« Sie stemmte die Hände in die Hüften und blickte Inez und Téo mit hochgezogenen Augenbrauen an.
Die beiden Komplizen nickten.
»Gut. Dann legen wir mal los.« Mit diesen Worten ging Lyz sicheren Schrittes in Richtung des Mannes in Grün, dessen Blick weiterhin an diversen langen Beinen kleben blieb. Kurz neben dem Mann, der sie einmal von oben bis unten musterte und seine Aufmerksamkeit dann wieder dem Alkohol widmete, kam sie zum Stehen. Schwungvoll setzte sie sich vor einen Automaten, warf einen Jeton ein und zeigte zunächst drei ausgestreckte Finger, dann den emporgereckten Daumen – ihr Zeichen, dass es losgehen konnte.
»Wieso muss ich eigentlich immer die unangenehmen Sachen machen«, murmelte Téo und blickte leicht panisch zu den Kellnern hinüber.
Es war bemerkenswert: In technischen Dingen reichte ihm keiner das Wasser, aber wenn es um soziale Situationen oder das Rampenlicht ging, war er völlig überfordert. Wobei, das stimmte nicht ganz: Wenn jemand Téo die technische Expertise abstritt, zerriss er denjenigen in der Luft.
»Du schaffst das schon. Ich bin doch direkt hinter dir.« Inez klopfte ihm aufmunternd auf den Rücken und deutete auf einen Kellner, der auf direktem Weg zu dem Mann in Grün war. »Jetzt oder nie, Mastermind.« Das Mastermind schluckte – und nickte ganz leicht, bevor es sich zunächst unsicher, dann immer schneller auf den Weg machte. Inez konnte die Sekunden zählen, die ihn von dem Kellner trennten.
3 – Sie sah die zahlreichen silbernen Flaschen auf dem Tablett, deren Flüssigkeit leicht hin und her schwappte.
2 – War das ein »Perdante Veneno«? Sie hatte mit Lyz vor einigen Jahren eine Flasche gestohlen und in einer Nacht ausgetrunken …
1 – … was im Nachhinein keine gute Idee war, die Kopfschmerzen, die sie am nächsten … –
Mit einem gewaltigen Rumms erwischte Téo den Kellner an der Schulter und fiel mit ihm zu Boden. Die Unsicherheit, die Téo natürlicherweise mitbrachte, machte das Schauspiel perfekt: Niemand sonst hätte es so glaubwürdig rübergebracht. Aus dem Augenwinkel sah Inez, dass Lyz’ Platz inzwischen leer war.
»Ach du meine Güte, bitte entschuldigen Sie, das ist mir so tausendfach unangenehm …« Das Knäuel, das aus Téo und dem Kellner bestand, hatte sich inzwischen entwirrt und wieder auf die Beine gefunden. Auf dem gesamten Boden lagen silberfarbene Glasscherben und Alkoholreste, die im Licht des Casinos eigenartig schimmerten. Eine Meute von Menschen hatte sich um sie versammelt und gab Ratschläge und Beschimpfungen zum Besten. Auch der Mann in Grün beugte sich fasziniert nach vorn.
»Wirklich, ich habe keine Augen im Kopf, wissen Sie, das kommt von diesem ständigen Arbeiten am Bildschirm.« Der Kellner hatte inzwischen begonnen, die Reste seiner Lieferung vom Boden zu wischen, und schüttelte gutmütig den Kopf, um den Gast ja nicht zu verärgern. Auch die herumstehenden Wachleute beruhigten sich, winkten ab und waren gerade im Begriff zu gehen … als die herrische Stimme eines Mannes ertönte.
»Das hat der doch absichtlich gemacht! Das habe ich gesehen! Ein Taschendieb ist das, ganz bestimmt!«
Der Mann, der sich gerade eben noch am Roulette-Tisch befunden hatte, deutete auf Téo und winkte die Wachen herbei. »Prüfen Sie den! Der hatte diesen armen Mann schon die ganze Zeit im Blick. Ein Dieb ist er, das sag ich Ihnen aber!«
Auch die anderen Leute fingen an zu murmeln; einige nickten zustimmend, andere schüttelten verächtlich den Kopf. Der Mann in Grün war inzwischen aufgestanden und hatte sich zu der Meute dazugesellt. Von Lyz keine Spur.
Inez fluchte. Das hatte noch gefehlt. Jetzt brauchte es die Kavallerie.
Sie preschte durch die Menge und stellte sich neben Téo, der sich wie zu einem Rettungsanker zu ihr umdrehte und den die Wachen inzwischen misstrauisch beäugten. Der Mann redete sich inzwischen in Rage.
»Nehmen Sie den da mit, Sie sehen doch, wie schuldig der guckt!«
»Jetzt halten Sie doch mal die Luft an! Ist das das Verhalten, das im Sanctum Sins toleriert wird?« Inez funkelte den Mann böse an und wandte sich an die Umstehenden. »Sie sehen doch, wie aufgelöst der junge Mann ist.« Sie deutete auf das verdutzte Häufchen Elend, das Téo hieß. »Erinnern Sie sich an Ihre Manieren und machen Sie diesem Haus keine Schande!«
Der Mann schnaubte entrüstet. »Das sind doch Komplizen, allesamt! Nehmen Sie sie alle fest!«
Wie sehr du doch recht hast, dachte sich Inez bitter.
In diesem Moment drängte sich Lyz an dem Mann vorbei und stieß ihn unsanft zur Seite, bevor sie sich zu Inez gesellte. Sie räusperte sich und sprach direkt zu den Wachen, die dem Schauspiel inzwischen nicht mehr ganz folgen konnten. Ihr Finger deutete direkt auf den Schreihals.
»Ich habe diesen Hochstapler bei diesem Gentleman herumschleichen sehen … und …« – sie deutete auf den Mann in Grün. – » … ich bin mir ziemlich sicher, dass er ihn bestohlen hat.«
Beinahe zeitgleich warfen der Schreihals und der Mann in Grün die Hände in die Luft und stießen einen Wortschwall aus Flüchen und Entrüstungen aus. Der Mann in Grün fuhr hektisch seine Kleidung ab, bevor er erstarrte.
»Mein Portemonnaie! Mein Portemonnaie ist weg!«
Sofort stimmte die Menge um sie herum in wilde Diskussionen um den wahren Dieb ein und zeigte mit den Fingern auf Téo, den Schreihals und sogar auf Inez selbst. Die Wachen hatten sichtlich Mühe, den Tumult unter Kontrolle zu bekommen.
»Lachhaft! Hier, durchsuchen Sie mich doch! Ich bin unschuldig!« Der Schreihals baute sich bedrohlich vor Téo auf. »Gleich werden sie dich hier hochkant rausschmeißen, Bürschchen …« Er hob die Arme und ließ eine Wache gewähren, die begann, seine Taschen auszuleeren, während eine andere Wache bereits auf dem Weg zu Téo war.
Wenn sie das Etui fanden … oder den Datenkristall … dann war es das gewesen. Inez blickte zu Téo, der panisch zurückblickte. Hatte Lyz es überhaupt geschafft, den Rosenkranz zu stehlen? Der Mann in Grün war von einer Traube neugieriger Gäste umringt; sie konnte seinen Hals nicht sehen. Dann blickte sie Lyz direkt an.
Diese grinste verschmitzt und zwinkerte ihr zu.
Der Schreihals hatte sich inzwischen wieder in Rage geredet. »Nirgendwo in La Perdante ist man noch sicher. Es ist …« Der Mann unterbrach schlagartig seinen Monolog, als die Wache ein giftgrünes Portemonnaie aus einer Tasche zog, das dieselbe Farbe wie der Anzug des Mannes hatte.
Alle erstarrten. Dann brach ein neuer Tumult aus.
»Das war ich nicht! Ich wurde betrogen …« Die Stimme des Schreihals wurde leiser, als zwei Wachen ihn unter Gezeter aus dem Casino zogen und der Mann in Grün glücklich mit seinem Portemonnaie wiedervereint war – ihm fiel gar nicht auf, dass sein Rosenkranz ebenso fehlte.
Vermutlich war es die Mischung aus Euphorie und dem Alkohol.
Die Wachen neigten die Köpfe, entschuldigten sich für den Aufruhr und ließen die drei Freunde allein, die sich etwas weiter abseits in einer dunklen Ecke sammelten. Téo keuchte.
»Nie … nie … nie wieder, hört ihr? Den Scheiß mach ich nicht noch einmal mit.« Er schloss die Augen und lehnte sich gegen eine Wand, bevor er die Lider einen Spalt breit öffnete und Lyz ansah. »Ich hasse dich. Aber gute Arbeit.«
Er schloss die Augen wieder. »Ich hasse dich trotzdem noch.«
Lyz gluckste und hielt den Rosenkranz hoch, während sie Téos warnendes Schimpfen ignorierte. »Jackpot.« Dann lächelte sie Inez an – mit diesem Lächeln, bei dem sie die Augen schloss und den Kopf beiseite legte. »Hab doch gesagt, ich krieg’s hin.«
Inez stotterte kurz vor sich hin und nickte dann hastig. »Ja-ha, das war wirklich krass …« Lyz schaute sie schelmisch an und gab ihr schließlich den Rosenkranz, den Inez in ihrer Handtasche verschwinden ließ.
Jetzt reiß dich mal zusammen, Inez!
Téo war inzwischen wieder aus dem Reich der Toten erwacht und wischte sich über die Stirn. »Lasst uns von hier weg. Wir sind aktuell Publikumsmagnet Nummer eins.« Das stimmte: Seit dem Zwischenfall mit dem Kellner warfen die Leute Blicke auf sie – einige verstohlen, einige neugierig.
Die drei Diebe setzten sich in Bewegung, und Téo drehte sich zu Inez um. »Unser nächstes Ziel …« – er deutete auf Inez’ Handtasche, in der sich das Etui befand – »… ist der Pitboss. Zeig mal her.« Inez kramte eine Weile in ihrer Tasche und holte schließlich das Etui hervor, das eine hölzerne Vertäfelung hatte und mit Jade besetzt war. Téo begutachtete es noch einmal von allen Seiten, bevor er durchatmete und sich eine einzelne Schweißperle von der Stirn strich. »Dann los.«
Er deutete auf das Ende des Kirchenschiffs, vor dem zwei Frauen in goldenen Anzugkleidern einen Metalldetektor bewachten – denselben, den sie schon beim Betreten durchlaufen mussten. »Wir sollten weiter.«
So liefen die drei Freunde zur Schleuse des Sanctum und kamen schließlich vor den beiden Wachen an. Die rechte der beiden, die am Handgelenk einen goldenen Schädel trug, hielt respektvoll eine Hand vor die drei und bedeutete ihnen, anzuhalten.
»Guten Abend, meine Damen. Sie möchten im Sanctum spielen?«
Lyz nickte und stieß ein theatralisches Schnauben aus. »Hier ist mir zu wenig Risiko, verstehen Sie? Ich brauche etwas, das das Blut in Wallung bringt …« Sie zwickte Inez in den Arm.
Die Wache gluckste und deutete in Richtung der Kellner. »Noch mehr Wallung? Kriegen Sie.« Dann nickte sie und wies auf eine stählerne Box, die eine kleine Öffnung in Form eines Kreuzes hatte.
»Dürfte ich Sie bitten, Ihre VIP-Berechtigung zu legitimieren?«
Inez trat einen Schritt vor und hielt den Rosenkranz des Kaktus an die Öffnung. Sie formte ein kurzes Stoßgebet in ihrem Kopf und drückte schließlich das Kreuz in die Öffnung.
Hoffentlich hatten sie nichts übersehen.
Das Gerät brauchte eine ganze Weile, in der die Wache Inez und Lyz neugierig ansah. »Wenn Sie mir den Kommentar erlauben – Sie harmonieren ganz wundervoll miteinander.« Lyz senkte huldvoll den Kopf. »Ich danke Ihnen«, während Inez angestrengt versuchte, an etwas anderes zu denken. Dann ertönte der befreiende Klang eines kurzen Jingles – und die Maschine leuchtete grün auf.
»Vielen Dank. Treten Sie ein – und beten Sie um gutes Glück.« Die Wache trat zur Seite, und die Schleuse hinter ihr öffnete sich mit einem Zischen.
Sie hatten es geschafft.
Die drei Freunde beeilten sich, das Sanctum zu betreten, bevor irgendwer – der Mann in Grün, die Wachen, Himmel, irgendein Gast – noch Verdacht schöpfen konnte.
»Ich hoffe, ich habe das Schlimmste bereits überstanden«, seufzte Téo, bevor er in das Sanctum trat. Inez nickte nur.
Zu sehr war sie vom Sanctum verzaubert.
LYZ STIEHLT DEN ROSENKRANZ
LYZ STIEHLT DEN ROSENKRANZ

Während Lyz sich weiter mit Téo zankte, betrachtete Inez ihre Freundin nachdenklich. Sie kannte sie jetzt schon seit etwa vierzehn Jahren: Sie hatten damals als Kinder gemeinsam in den alten Sandgruben von Vita Nera gespielt, wenn ihre Eltern arbeiten waren – bevor diese eines Tages einfach spurlos verschwanden.
Kein seltenes Schicksal in der Vita Nera: Ungezahlte Schulden, unnachgiebige Confesseure oder ein Haus, das einen schlechten Tag hatte – es gab viele Gründe, weshalb jemand in La Perdante verschwand.
Lyz war dabei immer an ihrer Seite geblieben, egal welche Probleme sie hatte oder wie groß die Sorge vor dem nächsten Tag war. Als Inez von einem Tag auf den anderen ohne Eltern war, hatte Lyz’ Mutter sich nach langem Zureden ein Herz gefasst und sie bei sich aufgenommen – nicht selbstverständlich, bedenkt man die finanzielle Lage, in der die Familie steckte. Mit der Zeit konnte Inez schließlich auf eigenen Beinen stehen und quartierte sich in einer winzigen Wohnung direkt vor der Viadombra ein – Lyz und ihren kleinen Bruder Kynoz besuchte sie dennoch jeden Tag.
Alles, was Lyz verdiente, steckte sie in die Versorgung ihrer Familie. Es musste Essen auf den Tisch, Kynoz brauchte Schulsachen, und hin und wieder waren Medikamente notwendig, um die Kopfschmerzen ihrer Mutter in den Griff zu bekommen. Ja, es war kein einfaches Leben – aber Lyz hatte sich dennoch nie unterkriegen lassen.
Inez ließ ihren Blick auf ihrem Gesicht verweilen. Lyz hasste lange Haare und schnitt sie sich immer mit dem erstbesten Werkzeug kurz, das sie fand. Ihre blauen Augen bildeten einen harten Kontrast zu den dunklen Haaren und dem feinen Gesicht. An ihrem Hals prangte das Tattoo einer Katzenpfote – der einzige Luxus, den sie sich erlaubt hatte, als sie an einem Tag eine vergoldete Hand von einem Händler der Trinitriad geklaut hatte. Das Tattoo lugte verstohlen hinter dem Kleid hervor, als wolle es sich vergewissern, ob die Luft rein war. Wie sie da stand, fiel Inez nicht auf, dass Lyz ihren Blick inzwischen bemerkt hatte.
»Äh, Liebes? Alles in Ordnung? Ist irgendwas an mir?« Lyz blickte sie mit großen Augen verständnislos an. Auch Téo hatte den Streit kurz vergessen und schaute zu seiner Freundin.
Inez schüttelte den Kopf und spürte, wie ihr eine leichte Röte ins Gesicht stieg. Es musste die warme Luft im Casino sein. Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Ich hatte mir grad nur gedacht, dass Lyz das am besten übernehmen sollte. Ich mein, wir haben nicht umsonst eine Meisterdiebin bei uns, oder?«
Lyz und Téo starrten sie gleichermaßen verständnislos an – bevor die erste ein breites Grinsen aufsetzte und der zweite einen tiefen Seufzer ausstieß.
»Haha! Sag ich doch, ich bin die beste Wahl!« Übermannt von ihrer Euphorie schlang Lyz die Arme um ihre Freundin und drückte sie fest an sich. Ein leichter Anflug ihres Parfüms schlich sich zu Inez – eine Mischung aus Lavendel und Rauch … und etwas, das nur Lyz gehörte. Da, schon wieder stieg ihr das Blut zu Kopf. Was war nur los mit ihr?
»Ihr werdet schon wissen, was ihr tut«, murmelte Téo und lehnte sich mit verschränkten Händen gegen eine Säule. »Also gut, was machen wir?«
Lyz löste sich von ihrer Freundin und setzte eine professionelle Miene auf – wie immer, wenn es um Diebstahl ging. Sie deutete auf einen der zahlreichen Kellner, die sich nahezu ungesehen durch die Menge bewegten. »Seht ihr, wie viel Alk die durch die Gegend tragen? Wenn sich ein Gast unglücklicherweise zu schnell … in die falsche Richtung … zum falschen Zeitpunkt … umdrehen würde, gäbe es sicherlich eine große Sauerei.« Sie hielt theatralisch die Hand ans Kinn und seufzte. »Es müsste sich nur jemand finden …«
Inez und Téo drehten sich zeitgleich zueinander um.
»Ich nicht.«
»Verdammt!«
Téo verzog das Gesicht und nickte schließlich schicksalsergeben. »Na gut. Aber bleib in meiner Nähe. Falls doch was schiefgeht.«
»Was denn? Hast du Angst, deinen Anzug zu ruinieren?«
Lyz schnalzte ungeduldig mit der Zunge. »Ihr müsst nur dafür sorgen, dass unser Mann in Grün für ein paar Sekunden in eine andere Richtung schaut – und dann sind wir um einen Rosenkranz reicher. Klar soweit?« Sie stemmte die Hände in die Hüften und blickte Inez und Téo mit hochgezogenen Augenbrauen an.
Die beiden Komplizen nickten.
»Gut. Dann legen wir mal los.« Mit diesen Worten ging Lyz sicheren Schrittes in Richtung des Mannes in Grün, dessen Blick weiterhin an diversen langen Beinen kleben blieb. Kurz neben dem Mann, der sie einmal von oben bis unten musterte und seine Aufmerksamkeit dann wieder dem Alkohol widmete, kam sie zum Stehen. Schwungvoll setzte sie sich vor einen Automaten, warf einen Jeton ein und zeigte zunächst drei ausgestreckte Finger, dann den emporgereckten Daumen – ihr Zeichen, dass es losgehen konnte.
»Wieso muss ich eigentlich immer die unangenehmen Sachen machen«, murmelte Téo und blickte leicht panisch zu den Kellnern hinüber.
Es war bemerkenswert: In technischen Dingen reichte ihm keiner das Wasser, aber wenn es um soziale Situationen oder das Rampenlicht ging, war er völlig überfordert. Wobei, das stimmte nicht ganz: Wenn jemand Téo die technische Expertise abstritt, zerriss er denjenigen in der Luft.
»Du schaffst das schon. Ich bin doch direkt hinter dir.« Inez klopfte ihm aufmunternd auf den Rücken und deutete auf einen Kellner, der auf direktem Weg zu dem Mann in Grün war. »Jetzt oder nie, Mastermind.« Das Mastermind schluckte – und nickte ganz leicht, bevor es sich zunächst unsicher, dann immer schneller auf den Weg machte. Inez konnte die Sekunden zählen, die ihn von dem Kellner trennten.
3 – Sie sah die zahlreichen silbernen Flaschen auf dem Tablett, deren Flüssigkeit leicht hin und her schwappte.
2 – War das ein »Perdante Veneno«? Sie hatte mit Lyz vor einigen Jahren eine Flasche gestohlen und in einer Nacht ausgetrunken …
1 – … was im Nachhinein keine gute Idee war, die Kopfschmerzen, die sie am nächsten … –
Mit einem gewaltigen Rumms erwischte Téo den Kellner an der Schulter und fiel mit ihm zu Boden. Die Unsicherheit, die Téo natürlicherweise mitbrachte, machte das Schauspiel perfekt: Niemand sonst hätte es so glaubwürdig rübergebracht. Aus dem Augenwinkel sah Inez, dass Lyz’ Platz inzwischen leer war.
»Ach du meine Güte, bitte entschuldigen Sie, das ist mir so tausendfach unangenehm …« Das Knäuel, das aus Téo und dem Kellner bestand, hatte sich inzwischen entwirrt und wieder auf die Beine gefunden. Auf dem gesamten Boden lagen silberfarbene Glasscherben und Alkoholreste, die im Licht des Casinos eigenartig schimmerten. Eine Meute von Menschen hatte sich um sie versammelt und gab Ratschläge und Beschimpfungen zum Besten. Auch der Mann in Grün beugte sich fasziniert nach vorn.
»Wirklich, ich habe keine Augen im Kopf, wissen Sie, das kommt von diesem ständigen Arbeiten am Bildschirm.« Der Kellner hatte inzwischen begonnen, die Reste seiner Lieferung vom Boden zu wischen, und schüttelte gutmütig den Kopf, um den Gast ja nicht zu verärgern. Auch die herumstehenden Wachleute beruhigten sich, winkten ab und waren gerade im Begriff zu gehen … als die herrische Stimme eines Mannes ertönte.
»Das hat der doch absichtlich gemacht! Das habe ich gesehen! Ein Taschendieb ist das, ganz bestimmt!«
Der Mann, der sich gerade eben noch am Roulette-Tisch befunden hatte, deutete auf Téo und winkte die Wachen herbei. »Prüfen Sie den! Der hatte diesen armen Mann schon die ganze Zeit im Blick. Ein Dieb ist er, das sag ich Ihnen aber!« Auch die anderen Leute fingen an zu murmeln; einige nickten zustimmend, andere schüttelten verächtlich den Kopf. Der Mann in Grün war inzwischen aufgestanden und hatte sich zu der Meute dazugesellt. Von Lyz keine Spur.
Inez fluchte. Das hatte noch gefehlt. Jetzt brauchte es die Kavallerie.
Sie preschte durch die Menge und stellte sich neben Téo, der sich wie zu einem Rettungsanker zu ihr umdrehte und den die Wachen inzwischen misstrauisch beäugten. Der Mann redete sich inzwischen in Rage.
»Nehmen Sie den da mit, Sie sehen doch, wie schuldig der guckt!«
»Jetzt halten Sie doch mal die Luft an! Ist das das Verhalten, das im Sanctum Sins toleriert wird?« Inez funkelte den Mann böse an und wandte sich an die Umstehenden. »Sie sehen doch, wie aufgelöst der junge Mann ist.« Sie deutete auf das verdutzte Häufchen Elend, das Téo hieß. »Erinnern Sie sich an Ihre Manieren und machen Sie diesem Haus keine Schande!«
Der Mann schnaubte entrüstet. »Das sind doch Komplizen, allesamt! Nehmen Sie sie alle fest!«
Wie sehr du doch recht hast, dachte sich Inez bitter.
In diesem Moment drängte sich Lyz an dem Mann vorbei und stieß ihn unsanft zur Seite, bevor sie sich zu Inez gesellte. Sie räusperte sich und sprach direkt zu den Wachen, die dem Schauspiel inzwischen nicht mehr ganz folgen konnten. Ihr Finger deutete direkt auf den Schreihals.
»Ich habe diesen Hochstapler bei diesem Gentleman herumschleichen sehen … und …« – sie deutete auf den Mann in Grün. – » … ich bin mir ziemlich sicher, dass er ihn bestohlen hat.«
Beinahe zeitgleich warfen der Schreihals und der Mann in Grün die Hände in die Luft und stießen einen Wortschwall aus Flüchen und Entrüstungen aus. Der Mann in Grün fuhr hektisch seine Kleidung ab, bevor er erstarrte.
»Mein Portemonnaie! Mein Portemonnaie ist weg!«
Sofort stimmte die Menge um sie herum in wilde Diskussionen um den wahren Dieb ein und zeigte mit den Fingern auf Téo, den Schreihals und sogar auf Inez selbst. Die Wachen hatten sichtlich Mühe, den Tumult unter Kontrolle zu bekommen.
»Lachhaft! Hier, durchsuchen Sie mich doch! Ich bin unschuldig!« Der Schreihals baute sich bedrohlich vor Téo auf. »Gleich werden sie dich hier hochkant rausschmeißen, Bürschchen …« Er hob die Arme und ließ eine Wache gewähren, die begann, seine Taschen auszuleeren, während eine andere Wache bereits auf dem Weg zu Téo war.
Wenn sie das Etui fanden … oder den Datenkristall … dann war es das gewesen. Inez blickte zu Téo, der panisch zurückblickte. Hatte Lyz es überhaupt geschafft, den Rosenkranz zu stehlen? Der Mann in Grün war von einer Traube neugieriger Gäste umringt; sie konnte seinen Hals nicht sehen. Dann blickte sie Lyz direkt an.
Diese grinste verschmitzt und zwinkerte ihr zu.
Der Schreihals hatte sich inzwischen wieder in Rage geredet. »Nirgendwo in La Perdante ist man noch sicher. Es ist …« Der Mann unterbrach schlagartig seinen Monolog, als die Wache ein giftgrünes Portemonnaie aus einer Tasche zog, das dieselbe Farbe wie der Anzug des Mannes hatte.
Alle erstarrten. Dann brach ein neuer Tumult aus.
»Das war ich nicht! Ich wurde betrogen …« Die Stimme des Schreihals wurde leiser, als zwei Wachen ihn unter Gezeter aus dem Casino zogen und der Mann in Grün glücklich mit seinem Portemonnaie wiedervereint war – ihm fiel gar nicht auf, dass sein Rosenkranz ebenso fehlte.
Vermutlich war es die Mischung aus Euphorie und dem Alkohol.
Die Wachen neigten die Köpfe, entschuldigten sich für den Aufruhr und ließen die drei Freunde allein, die sich etwas weiter abseits in einer dunklen Ecke sammelten. Téo keuchte.
»Nie … nie … nie wieder, hört ihr? Den Scheiß mach ich nicht noch einmal mit.« Er schloss die Augen und lehnte sich gegen eine Wand, bevor er die Lider einen Spalt breit öffnete und Lyz ansah. »Ich hasse dich. Aber gute Arbeit.«
Er schloss die Augen wieder. »Ich hasse dich trotzdem noch.«
Lyz gluckste und hielt den Rosenkranz hoch, während sie Téos warnendes Schimpfen ignorierte. »Jackpot.« Dann lächelte sie Inez an – mit diesem Lächeln, bei dem sie die Augen schloss und den Kopf beiseite legte. »Hab doch gesagt, ich krieg’s hin.«
Inez stotterte kurz vor sich hin und nickte dann hastig. »Ja-ha, das war wirklich krass …« Lyz schaute sie schelmisch an und gab ihr schließlich den Rosenkranz, den Inez in ihrer Handtasche verschwinden ließ.
Jetzt reiß dich mal zusammen, Inez!
Téo war inzwischen wieder aus dem Reich der Toten erwacht und wischte sich über die Stirn. »Lasst uns von hier weg. Wir sind aktuell Publikumsmagnet Nummer eins.« Das stimmte: Seit dem Zwischenfall mit dem Kellner warfen die Leute Blicke auf sie – einige verstohlen, einige neugierig.
Die drei Diebe setzten sich in Bewegung, und Téo drehte sich zu Inez um. »Unser nächstes Ziel …« – er deutete auf Inez’ Handtasche, in der sich das Etui befand – »… ist der Pitboss. Zeig mal her.« Inez kramte eine Weile in ihrer Tasche und holte schließlich das Etui hervor, das eine hölzerne Vertäfelung hatte und mit Jade besetzt war. Téo begutachtete es noch einmal von allen Seiten, bevor er durchatmete und sich eine einzelne Schweißperle von der Stirn strich. »Dann los.« Er deutete auf das Ende des Kirchenschiffs, vor dem zwei Frauen in goldenen Anzugkleidern einen Metalldetektor bewachten – denselben, den sie schon beim Betreten durchlaufen mussten. »Wir sollten weiter.«
So liefen die drei Freunde zur Schleuse des Sanctum und kamen schließlich vor den beiden Wachen an. Die rechte der beiden, die am Handgelenk einen goldenen Schädel trug, hielt respektvoll eine Hand vor die drei und bedeutete ihnen, anzuhalten.
»Guten Abend, meine Damen. Sie möchten im Sanctum spielen?«
Lyz nickte und stieß ein theatralisches Schnauben aus. »Hier ist mir zu wenig Risiko, verstehen Sie? Ich brauche etwas, das das Blut in Wallung bringt …« Sie zwickte Inez in den Arm.
Die Wache gluckste und deutete in Richtung der Kellner. »Noch mehr Wallung? Kriegen Sie.« Dann nickte sie und wies auf eine stählerne Box, die eine kleine Öffnung in Form eines Kreuzes hatte. »Dürfte ich Sie bitten, Ihre VIP-Berechtigung zu legitimieren?«
Inez trat einen Schritt vor und hielt den Rosenkranz an die Öffnung. Sie formte ein kurzes Stoßgebet in ihrem Kopf und drückte schließlich das Kreuz in die Öffnung.
Hoffentlich hatten sie nichts übersehen.
Das Gerät brauchte eine ganze Weile, in der die Wache Inez und Lyz neugierig ansah. »Wenn Sie mir den Kommentar erlauben – Sie harmonieren ganz wundervoll miteinander.« Lyz senkte huldvoll den Kopf. »Ich danke Ihnen«, während Inez angestrengt versuchte, an etwas anderes zu denken. Dann ertönte der befreiende Klang eines kurzen Jingles – und die Maschine leuchtete grün auf.
»Vielen Dank. Treten Sie ein – und beten Sie um gutes Glück.« Die Wache trat zur Seite, und die Schleuse hinter ihr öffnete sich mit einem Zischen.
Sie hatten es geschafft.
Die drei Freunde beeilten sich, das Sanctum zu betreten, bevor irgendwer – der Mann in Grün, die Wachen, Himmel, irgendein Gast – noch Verdacht schöpfen konnte.
»Ich hoffe, ich habe das Schlimmste bereits überstanden«, seufzte Téo, bevor er in das Sanctum trat. Inez nickte nur.
Zu sehr war sie vom Sanctum verzaubert.

Während Lyz sich weiter mit Téo zankte, betrachtete Inez ihre Freundin nachdenklich. Sie kannte sie jetzt schon seit etwa vierzehn Jahren: Sie hatten damals als Kinder gemeinsam in den alten Sandgruben von Vita Nera gespielt, wenn ihre Eltern arbeiten waren – bevor diese eines Tages einfach spurlos verschwanden.
Kein seltenes Schicksal in der Vita Nera: Ungezahlte Schulden, unnachgiebige Confesseure oder ein Haus, das einen schlechten Tag hatte – es gab viele Gründe, weshalb jemand in La Perdante verschwand.
Lyz war dabei immer an ihrer Seite geblieben, egal welche Probleme sie hatte oder wie groß die Sorge vor dem nächsten Tag war. Als Inez von einem Tag auf den anderen ohne Eltern war, hatte Lyz’ Mutter sich nach langem Zureden ein Herz gefasst und sie bei sich aufgenommen – nicht selbstverständlich, bedenkt man die finanzielle Lage, in der die Familie steckte. Mit der Zeit konnte Inez schließlich auf eigenen Beinen stehen und quartierte sich in einer winzigen Wohnung direkt vor der Viadombra ein – Lyz und ihren kleinen Bruder Kynoz besuchte sie dennoch jeden Tag.
Alles, was Lyz verdiente, steckte sie in die Versorgung ihrer Familie. Es musste Essen auf den Tisch, Kynoz brauchte Schulsachen, und hin und wieder waren Medikamente notwendig, um die Kopfschmerzen ihrer Mutter in den Griff zu bekommen. Ja, es war kein einfaches Leben – aber Lyz hatte sich dennoch nie unterkriegen lassen.
Inez ließ ihren Blick auf ihrem Gesicht verweilen. Lyz hasste lange Haare und schnitt sie sich immer mit dem erstbesten Werkzeug kurz, das sie fand. Ihre blauen Augen bildeten einen harten Kontrast zu den dunklen Haaren und dem feinen Gesicht. An ihrem Hals prangte das Tattoo einer Katzenpfote – der einzige Luxus, den sie sich erlaubt hatte, als sie an einem Tag eine vergoldete Hand von einem Händler der Trinitriad geklaut hatte. Das Tattoo lugte verstohlen hinter dem Kleid hervor, als wolle es sich vergewissern, ob die Luft rein war. Wie sie da stand, fiel Inez nicht auf, dass Lyz ihren Blick inzwischen bemerkt hatte.
»Äh, Liebes? Alles in Ordnung? Ist irgendwas an mir?« Lyz blickte sie mit großen Augen verständnislos an. Auch Téo hatte den Streit kurz vergessen und schaute zu seiner Freundin.
Inez schüttelte den Kopf und spürte, wie ihr eine leichte Röte ins Gesicht stieg. Es musste die warme Luft im Casino sein. Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Ich hatte mir grad nur gedacht, dass Lyz das am besten übernehmen sollte. Ich mein, wir haben nicht umsonst eine Meisterdiebin bei uns, oder?«
Lyz und Téo starrten sie gleichermaßen verständnislos an – bevor die erste ein breites Grinsen aufsetzte und der zweite einen tiefen Seufzer ausstieß.
»Haha! Sag ich doch, ich bin die beste Wahl!« Übermannt von ihrer Euphorie schlang Lyz die Arme um ihre Freundin und drückte sie fest an sich. Ein leichter Anflug ihres Parfüms schlich sich zu Inez – eine Mischung aus Lavendel und Rauch … und etwas, das nur Lyz gehörte. Da, schon wieder stieg ihr das Blut zu Kopf. Was war nur los mit ihr?
»Ihr werdet schon wissen, was ihr tut«, murmelte Téo und lehnte sich mit verschränkten Händen gegen eine Säule. »Also gut, was machen wir?«
Lyz löste sich von ihrer Freundin und setzte eine professionelle Miene auf – wie immer, wenn es um Diebstahl ging. Sie deutete auf einen der zahlreichen Kellner, die sich nahezu ungesehen durch die Menge bewegten. »Seht ihr, wie viel Alk die durch die Gegend tragen? Wenn sich ein Gast unglücklicherweise zu schnell … in die falsche Richtung … zum falschen Zeitpunkt … umdrehen würde, gäbe es sicherlich eine große Sauerei.« Sie hielt theatralisch die Hand ans Kinn und seufzte. »Es müsste sich nur jemand finden …«
Inez und Téo drehten sich zeitgleich zueinander um.
»Ich nicht.«
»Verdammt!«
Téo verzog das Gesicht und nickte schließlich schicksalsergeben. »Na gut. Aber bleib in meiner Nähe. Falls doch was schiefgeht.«
»Was denn? Hast du Angst, deinen Anzug zu ruinieren?«
Lyz schnalzte ungeduldig mit der Zunge. »Ihr müsst nur dafür sorgen, dass unser Mann in Grün für ein paar Sekunden in eine andere Richtung schaut – und dann sind wir um einen Rosenkranz reicher. Klar soweit?« Sie stemmte die Hände in die Hüften und blickte Inez und Téo mit hochgezogenen Augenbrauen an.
Die beiden Komplizen nickten.
»Gut. Dann legen wir mal los.« Mit diesen Worten ging Lyz sicheren Schrittes in Richtung des Mannes in Grün, dessen Blick weiterhin an diversen langen Beinen kleben blieb. Kurz neben dem Mann, der sie einmal von oben bis unten musterte und seine Aufmerksamkeit dann wieder dem Alkohol widmete, kam sie zum Stehen. Schwungvoll setzte sie sich vor einen Automaten, warf einen Jeton ein und zeigte zunächst drei ausgestreckte Finger, dann den emporgereckten Daumen – ihr Zeichen, dass es losgehen konnte.
»Wieso muss ich eigentlich immer die unangenehmen Sachen machen«, murmelte Téo und blickte leicht panisch zu den Kellnern hinüber.
Es war bemerkenswert: In technischen Dingen reichte ihm keiner das Wasser, aber wenn es um soziale Situationen oder das Rampenlicht ging, war er völlig überfordert. Wobei, das stimmte nicht ganz: Wenn jemand Téo die technische Expertise abstritt, zerriss er denjenigen in der Luft.
»Du schaffst das schon. Ich bin doch direkt hinter dir.« Inez klopfte ihm aufmunternd auf den Rücken und deutete auf einen Kellner, der auf direktem Weg zu dem Mann in Grün war. »Jetzt oder nie, Mastermind.« Das Mastermind schluckte – und nickte ganz leicht, bevor es sich zunächst unsicher, dann immer schneller auf den Weg machte. Inez konnte die Sekunden zählen, die ihn von dem Kellner trennten.
3 – Sie sah die zahlreichen silbernen Flaschen auf dem Tablett, deren Flüssigkeit leicht hin und her schwappte.
2 – War das ein »Perdante Veneno«? Sie hatte mit Lyz vor einigen Jahren eine Flasche gestohlen und in einer Nacht ausgetrunken …
1 – … was im Nachhinein keine gute Idee war, die Kopfschmerzen, die sie am nächsten … –
Mit einem gewaltigen Rumms erwischte Téo den Kellner an der Schulter und fiel mit ihm zu Boden. Die Unsicherheit, die Téo natürlicherweise mitbrachte, machte das Schauspiel perfekt: Niemand sonst hätte es so glaubwürdig rübergebracht. Aus dem Augenwinkel sah Inez, dass Lyz’ Platz inzwischen leer war.
»Ach du meine Güte, bitte entschuldigen Sie, das ist mir so tausendfach unangenehm …« Das Knäuel, das aus Téo und dem Kellner bestand, hatte sich inzwischen entwirrt und wieder auf die Beine gefunden. Auf dem gesamten Boden lagen silberfarbene Glasscherben und Alkoholreste, die im Licht des Casinos eigenartig schimmerten. Eine Meute von Menschen hatte sich um sie versammelt und gab Ratschläge und Beschimpfungen zum Besten. Auch der Mann in Grün beugte sich fasziniert nach vorn.
»Wirklich, ich habe keine Augen im Kopf, wissen Sie, das kommt von diesem ständigen Arbeiten am Bildschirm.« Der Kellner hatte inzwischen begonnen, die Reste seiner Lieferung vom Boden zu wischen, und schüttelte gutmütig den Kopf, um den Gast ja nicht zu verärgern. Auch die herumstehenden Wachleute beruhigten sich, winkten ab und waren gerade im Begriff zu gehen … als die herrische Stimme eines Mannes ertönte.
»Das hat der doch absichtlich gemacht! Das habe ich gesehen! Ein Taschendieb ist das, ganz bestimmt!«
Der Mann, der sich gerade eben noch am Roulette-Tisch befunden hatte, deutete auf Téo und winkte die Wachen herbei. »Prüfen Sie den! Der hatte diesen armen Mann schon die ganze Zeit im Blick. Ein Dieb ist er, das sag ich Ihnen aber!« Auch die anderen Leute fingen an zu murmeln; einige nickten zustimmend, andere schüttelten verächtlich den Kopf. Der Mann in Grün war inzwischen aufgestanden und hatte sich zu der Meute dazugesellt. Von Lyz keine Spur.
Inez fluchte. Das hatte noch gefehlt. Jetzt brauchte es die Kavallerie.
Sie preschte durch die Menge und stellte sich neben Téo, der sich wie zu einem Rettungsanker zu ihr umdrehte und den die Wachen inzwischen misstrauisch beäugten. Der Mann redete sich inzwischen in Rage.
»Nehmen Sie den da mit, Sie sehen doch, wie schuldig der guckt!«
»Jetzt halten Sie doch mal die Luft an! Ist das das Verhalten, das im Sanctum Sins toleriert wird?« Inez funkelte den Mann böse an und wandte sich an die Umstehenden. »Sie sehen doch, wie aufgelöst der junge Mann ist.« Sie deutete auf das verdutzte Häufchen Elend, das Téo hieß. »Erinnern Sie sich an Ihre Manieren und machen Sie diesem Haus keine Schande!«
Der Mann schnaubte entrüstet. »Das sind doch Komplizen, allesamt! Nehmen Sie sie alle fest!«
Wie sehr du doch recht hast, dachte sich Inez bitter.
In diesem Moment drängte sich Lyz an dem Mann vorbei und stieß ihn unsanft zur Seite, bevor sie sich zu Inez gesellte. Sie räusperte sich und sprach direkt zu den Wachen, die dem Schauspiel inzwischen nicht mehr ganz folgen konnten. Ihr Finger deutete direkt auf den Schreihals.
»Ich habe diesen Hochstapler bei diesem Gentleman herumschleichen sehen … und …« – sie deutete auf den Mann in Grün. – » … ich bin mir ziemlich sicher, dass er ihn bestohlen hat.«
Beinahe zeitgleich warfen der Schreihals und der Mann in Grün die Hände in die Luft und stießen einen Wortschwall aus Flüchen und Entrüstungen aus. Der Mann in Grün fuhr hektisch seine Kleidung ab, bevor er erstarrte.
»Mein Portemonnaie! Mein Portemonnaie ist weg!«
Sofort stimmte die Menge um sie herum in wilde Diskussionen um den wahren Dieb ein und zeigte mit den Fingern auf Téo, den Schreihals und sogar auf Inez selbst. Die Wachen hatten sichtlich Mühe, den Tumult unter Kontrolle zu bekommen.
»Lachhaft! Hier, durchsuchen Sie mich doch! Ich bin unschuldig!« Der Schreihals baute sich bedrohlich vor Téo auf. »Gleich werden sie dich hier hochkant rausschmeißen, Bürschchen …« Er hob die Arme und ließ eine Wache gewähren, die begann, seine Taschen auszuleeren, während eine andere Wache bereits auf dem Weg zu Téo war.
Wenn sie das Etui fanden … oder den Datenkristall … dann war es das gewesen. Inez blickte zu Téo, der panisch zurückblickte. Hatte Lyz es überhaupt geschafft, den Rosenkranz zu stehlen? Der Mann in Grün war von einer Traube neugieriger Gäste umringt; sie konnte seinen Hals nicht sehen. Dann blickte sie Lyz direkt an.
Diese grinste verschmitzt und zwinkerte ihr zu.
Der Schreihals hatte sich inzwischen wieder in Rage geredet. »Nirgendwo in La Perdante ist man noch sicher. Es ist …« Der Mann unterbrach schlagartig seinen Monolog, als die Wache ein giftgrünes Portemonnaie aus einer Tasche zog, das dieselbe Farbe wie der Anzug des Mannes hatte.
Alle erstarrten. Dann brach ein neuer Tumult aus.
»Das war ich nicht! Ich wurde betrogen …« Die Stimme des Schreihals wurde leiser, als zwei Wachen ihn unter Gezeter aus dem Casino zogen und der Mann in Grün glücklich mit seinem Portemonnaie wiedervereint war – ihm fiel gar nicht auf, dass sein Rosenkranz ebenso fehlte.
Vermutlich war es die Mischung aus Euphorie und dem Alkohol.
Die Wachen neigten die Köpfe, entschuldigten sich für den Aufruhr und ließen die drei Freunde allein, die sich etwas weiter abseits in einer dunklen Ecke sammelten. Téo keuchte.
»Nie … nie … nie wieder, hört ihr? Den Scheiß mach ich nicht noch einmal mit.« Er schloss die Augen und lehnte sich gegen eine Wand, bevor er die Lider einen Spalt breit öffnete und Lyz ansah. »Ich hasse dich. Aber gute Arbeit.«
Er schloss die Augen wieder. »Ich hasse dich trotzdem noch.«
Lyz gluckste und hielt den Rosenkranz hoch, während sie Téos warnendes Schimpfen ignorierte. »Jackpot.« Dann lächelte sie Inez an – mit diesem Lächeln, bei dem sie die Augen schloss und den Kopf beiseite legte. »Hab doch gesagt, ich krieg’s hin.«
Inez stotterte kurz vor sich hin und nickte dann hastig. »Ja-ha, das war wirklich krass …« Lyz schaute sie schelmisch an und gab ihr schließlich den Rosenkranz, den Inez in ihrer Handtasche verschwinden ließ.
Jetzt reiß dich mal zusammen, Inez!
Téo war inzwischen wieder aus dem Reich der Toten erwacht und wischte sich über die Stirn. »Lasst uns von hier weg. Wir sind aktuell Publikumsmagnet Nummer eins.« Das stimmte: Seit dem Zwischenfall mit dem Kellner warfen die Leute Blicke auf sie – einige verstohlen, einige neugierig.
Die drei Diebe setzten sich in Bewegung, und Téo drehte sich zu Inez um. »Unser nächstes Ziel …« – er deutete auf Inez’ Handtasche, in der sich das Etui befand – »… ist der Pitboss. Zeig mal her.« Inez kramte eine Weile in ihrer Tasche und holte schließlich das Etui hervor, das eine hölzerne Vertäfelung hatte und mit Jade besetzt war. Téo begutachtete es noch einmal von allen Seiten, bevor er durchatmete und sich eine einzelne Schweißperle von der Stirn strich. »Dann los.« Er deutete auf das Ende des Kirchenschiffs, vor dem zwei Frauen in goldenen Anzugkleidern einen Metalldetektor bewachten – denselben, den sie schon beim Betreten durchlaufen mussten. »Wir sollten weiter.«
So liefen die drei Freunde zur Schleuse des Sanctum und kamen schließlich vor den beiden Wachen an. Die rechte der beiden, die am Handgelenk einen goldenen Schädel trug, hielt respektvoll eine Hand vor die drei und bedeutete ihnen, anzuhalten.
»Guten Abend, meine Damen. Sie möchten im Sanctum spielen?«
Lyz nickte und stieß ein theatralisches Schnauben aus. »Hier ist mir zu wenig Risiko, verstehen Sie? Ich brauche etwas, das das Blut in Wallung bringt …« Sie zwickte Inez in den Arm.
Die Wache gluckste und deutete in Richtung der Kellner. »Noch mehr Wallung? Kriegen Sie.« Dann nickte sie und wies auf eine stählerne Box, die eine kleine Öffnung in Form eines Kreuzes hatte. »Dürfte ich Sie bitten, Ihre VIP-Berechtigung zu legitimieren?«
Inez trat einen Schritt vor und hielt den Rosenkranz an die Öffnung. Sie formte ein kurzes Stoßgebet in ihrem Kopf und drückte schließlich das Kreuz in die Öffnung.
Hoffentlich hatten sie nichts übersehen.
Das Gerät brauchte eine ganze Weile, in der die Wache Inez und Lyz neugierig ansah. »Wenn Sie mir den Kommentar erlauben – Sie harmonieren ganz wundervoll miteinander.« Lyz senkte huldvoll den Kopf. »Ich danke Ihnen«, während Inez angestrengt versuchte, an etwas anderes zu denken. Dann ertönte der befreiende Klang eines kurzen Jingles – und die Maschine leuchtete grün auf.
»Vielen Dank. Treten Sie ein – und beten Sie um gutes Glück.« Die Wache trat zur Seite, und die Schleuse hinter ihr öffnete sich mit einem Zischen.
Sie hatten es geschafft.
Die drei Freunde beeilten sich, das Sanctum zu betreten, bevor irgendwer – der Mann in Grün, die Wachen, Himmel, irgendein Gast – noch Verdacht schöpfen konnte.
»Ich hoffe, ich habe das Schlimmste bereits überstanden«, seufzte Téo, bevor er in das Sanctum trat. Inez nickte nur.
Zu sehr war sie vom Sanctum verzaubert.

Während Lyz sich weiter mit Téo zankte, betrachtete Inez ihre Freundin nachdenklich. Sie kannte sie jetzt schon seit etwa vierzehn Jahren: Sie hatten damals als Kinder gemeinsam in den alten Sandgruben von Vita Nera gespielt, wenn ihre Eltern arbeiten waren – bevor diese eines Tages einfach spurlos verschwanden.
Kein seltenes Schicksal in der Vita Nera: Ungezahlte Schulden, unnachgiebige Confesseure oder ein Haus, das einen schlechten Tag hatte – es gab viele Gründe, weshalb jemand in La Perdante verschwand.
Lyz war dabei immer an ihrer Seite geblieben, egal welche Probleme sie hatte oder wie groß die Sorge vor dem nächsten Tag war. Als Inez von einem Tag auf den anderen ohne Eltern war, hatte Lyz’ Mutter sich nach langem Zureden ein Herz gefasst und sie bei sich aufgenommen – nicht selbstverständlich, bedenkt man die finanzielle Lage, in der die Familie steckte. Mit der Zeit konnte Inez schließlich auf eigenen Beinen stehen und quartierte sich in einer winzigen Wohnung direkt vor der Viadombra ein – Lyz und ihren kleinen Bruder Kynoz besuchte sie dennoch jeden Tag.
Alles, was Lyz verdiente, steckte sie in die Versorgung ihrer Familie. Es musste Essen auf den Tisch, Kynoz brauchte Schulsachen, und hin und wieder waren Medikamente notwendig, um die Kopfschmerzen ihrer Mutter in den Griff zu bekommen. Ja, es war kein einfaches Leben – aber Lyz hatte sich dennoch nie unterkriegen lassen.
Inez ließ ihren Blick auf ihrem Gesicht verweilen. Lyz hasste lange Haare und schnitt sie sich immer mit dem erstbesten Werkzeug kurz, das sie fand. Ihre blauen Augen bildeten einen harten Kontrast zu den dunklen Haaren und dem feinen Gesicht. An ihrem Hals prangte das Tattoo einer Katzenpfote – der einzige Luxus, den sie sich erlaubt hatte, als sie an einem Tag eine vergoldete Hand von einem Händler der Trinitriad geklaut hatte. Das Tattoo lugte verstohlen hinter dem Kleid hervor, als wolle es sich vergewissern, ob die Luft rein war. Wie sie da stand, fiel Inez nicht auf, dass Lyz ihren Blick inzwischen bemerkt hatte.
»Äh, Liebes? Alles in Ordnung? Ist irgendwas an mir?« Lyz blickte sie mit großen Augen verständnislos an. Auch Téo hatte den Streit kurz vergessen und schaute zu seiner Freundin.
Inez schüttelte den Kopf und spürte, wie ihr eine leichte Röte ins Gesicht stieg. Es musste die warme Luft im Casino sein. Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Ich hatte mir grad nur gedacht, dass Lyz das am besten übernehmen sollte. Ich mein, wir haben nicht umsonst eine Meisterdiebin bei uns, oder?«
Lyz und Téo starrten sie gleichermaßen verständnislos an – bevor die erste ein breites Grinsen aufsetzte und der zweite einen tiefen Seufzer ausstieß.
»Haha! Sag ich doch, ich bin die beste Wahl!« Übermannt von ihrer Euphorie schlang Lyz die Arme um ihre Freundin und drückte sie fest an sich. Ein leichter Anflug ihres Parfüms schlich sich zu Inez – eine Mischung aus Lavendel und Rauch … und etwas, das nur Lyz gehörte. Da, schon wieder stieg ihr das Blut zu Kopf. Was war nur los mit ihr?
»Ihr werdet schon wissen, was ihr tut«, murmelte Téo und lehnte sich mit verschränkten Händen gegen eine Säule. »Also gut, was machen wir?«
Lyz löste sich von ihrer Freundin und setzte eine professionelle Miene auf – wie immer, wenn es um Diebstahl ging. Sie deutete auf einen der zahlreichen Kellner, die sich nahezu ungesehen durch die Menge bewegten. »Seht ihr, wie viel Alk die durch die Gegend tragen? Wenn sich ein Gast unglücklicherweise zu schnell … in die falsche Richtung … zum falschen Zeitpunkt … umdrehen würde, gäbe es sicherlich eine große Sauerei.« Sie hielt theatralisch die Hand ans Kinn und seufzte. »Es müsste sich nur jemand finden …«
Inez und Téo drehten sich zeitgleich zueinander um.
»Ich nicht.«
»Verdammt!«
Téo verzog das Gesicht und nickte schließlich schicksalsergeben. »Na gut. Aber bleib in meiner Nähe. Falls doch was schiefgeht.«
»Was denn? Hast du Angst, deinen Anzug zu ruinieren?«
Lyz schnalzte ungeduldig mit der Zunge. »Ihr müsst nur dafür sorgen, dass unser Mann in Grün für ein paar Sekunden in eine andere Richtung schaut – und dann sind wir um einen Rosenkranz reicher. Klar soweit?« Sie stemmte die Hände in die Hüften und blickte Inez und Téo mit hochgezogenen Augenbrauen an.
Die beiden Komplizen nickten.
»Gut. Dann legen wir mal los.« Mit diesen Worten ging Lyz sicheren Schrittes in Richtung des Mannes in Grün, dessen Blick weiterhin an diversen langen Beinen kleben blieb. Kurz neben dem Mann, der sie einmal von oben bis unten musterte und seine Aufmerksamkeit dann wieder dem Alkohol widmete, kam sie zum Stehen. Schwungvoll setzte sie sich vor einen Automaten, warf einen Jeton ein und zeigte zunächst drei ausgestreckte Finger, dann den emporgereckten Daumen – ihr Zeichen, dass es losgehen konnte.
»Wieso muss ich eigentlich immer die unangenehmen Sachen machen«, murmelte Téo und blickte leicht panisch zu den Kellnern hinüber.
Es war bemerkenswert: In technischen Dingen reichte ihm keiner das Wasser, aber wenn es um soziale Situationen oder das Rampenlicht ging, war er völlig überfordert. Wobei, das stimmte nicht ganz: Wenn jemand Téo die technische Expertise abstritt, zerriss er denjenigen in der Luft.
»Du schaffst das schon. Ich bin doch direkt hinter dir.« Inez klopfte ihm aufmunternd auf den Rücken und deutete auf einen Kellner, der auf direktem Weg zu dem Mann in Grün war. »Jetzt oder nie, Mastermind.« Das Mastermind schluckte – und nickte ganz leicht, bevor es sich zunächst unsicher, dann immer schneller auf den Weg machte. Inez konnte die Sekunden zählen, die ihn von dem Kellner trennten.
3 – Sie sah die zahlreichen silbernen Flaschen auf dem Tablett, deren Flüssigkeit leicht hin und her schwappte.
2 – War das ein »Perdante Veneno«? Sie hatte mit Lyz vor einigen Jahren eine Flasche gestohlen und in einer Nacht ausgetrunken …
1 – … was im Nachhinein keine gute Idee war, die Kopfschmerzen, die sie am nächsten … –
Mit einem gewaltigen Rumms erwischte Téo den Kellner an der Schulter und fiel mit ihm zu Boden. Die Unsicherheit, die Téo natürlicherweise mitbrachte, machte das Schauspiel perfekt: Niemand sonst hätte es so glaubwürdig rübergebracht. Aus dem Augenwinkel sah Inez, dass Lyz’ Platz inzwischen leer war.
»Ach du meine Güte, bitte entschuldigen Sie, das ist mir so tausendfach unangenehm …« Das Knäuel, das aus Téo und dem Kellner bestand, hatte sich inzwischen entwirrt und wieder auf die Beine gefunden. Auf dem gesamten Boden lagen silberfarbene Glasscherben und Alkoholreste, die im Licht des Casinos eigenartig schimmerten. Eine Meute von Menschen hatte sich um sie versammelt und gab Ratschläge und Beschimpfungen zum Besten. Auch der Mann in Grün beugte sich fasziniert nach vorn.
»Wirklich, ich habe keine Augen im Kopf, wissen Sie, das kommt von diesem ständigen Arbeiten am Bildschirm.« Der Kellner hatte inzwischen begonnen, die Reste seiner Lieferung vom Boden zu wischen, und schüttelte gutmütig den Kopf, um den Gast ja nicht zu verärgern. Auch die herumstehenden Wachleute beruhigten sich, winkten ab und waren gerade im Begriff zu gehen … als die herrische Stimme eines Mannes ertönte.
»Das hat der doch absichtlich gemacht! Das habe ich gesehen! Ein Taschendieb ist das, ganz bestimmt!«
Der Mann, der sich gerade eben noch am Roulette-Tisch befunden hatte, deutete auf Téo und winkte die Wachen herbei. »Prüfen Sie den! Der hatte diesen armen Mann schon die ganze Zeit im Blick. Ein Dieb ist er, das sag ich Ihnen aber!« Auch die anderen Leute fingen an zu murmeln; einige nickten zustimmend, andere schüttelten verächtlich den Kopf. Der Mann in Grün war inzwischen aufgestanden und hatte sich zu der Meute dazugesellt. Von Lyz keine Spur.
Inez fluchte. Das hatte noch gefehlt. Jetzt brauchte es die Kavallerie.
Sie preschte durch die Menge und stellte sich neben Téo, der sich wie zu einem Rettungsanker zu ihr umdrehte und den die Wachen inzwischen misstrauisch beäugten. Der Mann redete sich inzwischen in Rage.
»Nehmen Sie den da mit, Sie sehen doch, wie schuldig der guckt!«
»Jetzt halten Sie doch mal die Luft an! Ist das das Verhalten, das im Sanctum Sins toleriert wird?« Inez funkelte den Mann böse an und wandte sich an die Umstehenden. »Sie sehen doch, wie aufgelöst der junge Mann ist.« Sie deutete auf das verdutzte Häufchen Elend, das Téo hieß. »Erinnern Sie sich an Ihre Manieren und machen Sie diesem Haus keine Schande!«
Der Mann schnaubte entrüstet. »Das sind doch Komplizen, allesamt! Nehmen Sie sie alle fest!«
Wie sehr du doch recht hast, dachte sich Inez bitter.
In diesem Moment drängte sich Lyz an dem Mann vorbei und stieß ihn unsanft zur Seite, bevor sie sich zu Inez gesellte. Sie räusperte sich und sprach direkt zu den Wachen, die dem Schauspiel inzwischen nicht mehr ganz folgen konnten. Ihr Finger deutete direkt auf den Schreihals.
»Ich habe diesen Hochstapler bei diesem Gentleman herumschleichen sehen … und …« – sie deutete auf den Mann in Grün. – » … ich bin mir ziemlich sicher, dass er ihn bestohlen hat.«
Beinahe zeitgleich warfen der Schreihals und der Mann in Grün die Hände in die Luft und stießen einen Wortschwall aus Flüchen und Entrüstungen aus. Der Mann in Grün fuhr hektisch seine Kleidung ab, bevor er erstarrte.
»Mein Portemonnaie! Mein Portemonnaie ist weg!«
Sofort stimmte die Menge um sie herum in wilde Diskussionen um den wahren Dieb ein und zeigte mit den Fingern auf Téo, den Schreihals und sogar auf Inez selbst. Die Wachen hatten sichtlich Mühe, den Tumult unter Kontrolle zu bekommen.
»Lachhaft! Hier, durchsuchen Sie mich doch! Ich bin unschuldig!« Der Schreihals baute sich bedrohlich vor Téo auf. »Gleich werden sie dich hier hochkant rausschmeißen, Bürschchen …« Er hob die Arme und ließ eine Wache gewähren, die begann, seine Taschen auszuleeren, während eine andere Wache bereits auf dem Weg zu Téo war.
Wenn sie das Etui fanden … oder den Datenkristall … dann war es das gewesen. Inez blickte zu Téo, der panisch zurückblickte. Hatte Lyz es überhaupt geschafft, den Rosenkranz zu stehlen? Der Mann in Grün war von einer Traube neugieriger Gäste umringt; sie konnte seinen Hals nicht sehen. Dann blickte sie Lyz direkt an.
Diese grinste verschmitzt und zwinkerte ihr zu.
Der Schreihals hatte sich inzwischen wieder in Rage geredet. »Nirgendwo in La Perdante ist man noch sicher. Es ist …« Der Mann unterbrach schlagartig seinen Monolog, als die Wache ein giftgrünes Portemonnaie aus einer Tasche zog, das dieselbe Farbe wie der Anzug des Mannes hatte.
Alle erstarrten. Dann brach ein neuer Tumult aus.
»Das war ich nicht! Ich wurde betrogen …« Die Stimme des Schreihals wurde leiser, als zwei Wachen ihn unter Gezeter aus dem Casino zogen und der Mann in Grün glücklich mit seinem Portemonnaie wiedervereint war – ihm fiel gar nicht auf, dass sein Rosenkranz ebenso fehlte.
Vermutlich war es die Mischung aus Euphorie und dem Alkohol.
Die Wachen neigten die Köpfe, entschuldigten sich für den Aufruhr und ließen die drei Freunde allein, die sich etwas weiter abseits in einer dunklen Ecke sammelten. Téo keuchte.
»Nie … nie … nie wieder, hört ihr? Den Scheiß mach ich nicht noch einmal mit.« Er schloss die Augen und lehnte sich gegen eine Wand, bevor er die Lider einen Spalt breit öffnete und Lyz ansah. »Ich hasse dich. Aber gute Arbeit.«
Er schloss die Augen wieder. »Ich hasse dich trotzdem noch.«
Lyz gluckste und hielt den Rosenkranz hoch, während sie Téos warnendes Schimpfen ignorierte. »Jackpot.« Dann lächelte sie Inez an – mit diesem Lächeln, bei dem sie die Augen schloss und den Kopf beiseite legte. »Hab doch gesagt, ich krieg’s hin.«
Inez stotterte kurz vor sich hin und nickte dann hastig. »Ja-ha, das war wirklich krass …« Lyz schaute sie schelmisch an und gab ihr schließlich den Rosenkranz, den Inez in ihrer Handtasche verschwinden ließ.
Jetzt reiß dich mal zusammen, Inez!
Téo war inzwischen wieder aus dem Reich der Toten erwacht und wischte sich über die Stirn. »Lasst uns von hier weg. Wir sind aktuell Publikumsmagnet Nummer eins.« Das stimmte: Seit dem Zwischenfall mit dem Kellner warfen die Leute Blicke auf sie – einige verstohlen, einige neugierig.
Die drei Diebe setzten sich in Bewegung, und Téo drehte sich zu Inez um. »Unser nächstes Ziel …« – er deutete auf Inez’ Handtasche, in der sich das Etui befand – »… ist der Pitboss. Zeig mal her.« Inez kramte eine Weile in ihrer Tasche und holte schließlich das Etui hervor, das eine hölzerne Vertäfelung hatte und mit Jade besetzt war. Téo begutachtete es noch einmal von allen Seiten, bevor er durchatmete und sich eine einzelne Schweißperle von der Stirn strich. »Dann los.« Er deutete auf das Ende des Kirchenschiffs, vor dem zwei Frauen in goldenen Anzugkleidern einen Metalldetektor bewachten – denselben, den sie schon beim Betreten durchlaufen mussten. »Wir sollten weiter.«
So liefen die drei Freunde zur Schleuse des Sanctum und kamen schließlich vor den beiden Wachen an. Die rechte der beiden, die am Handgelenk einen goldenen Schädel trug, hielt respektvoll eine Hand vor die drei und bedeutete ihnen, anzuhalten.
»Guten Abend, meine Damen. Sie möchten im Sanctum spielen?«
Lyz nickte und stieß ein theatralisches Schnauben aus. »Hier ist mir zu wenig Risiko, verstehen Sie? Ich brauche etwas, das das Blut in Wallung bringt …« Sie zwickte Inez in den Arm.
Die Wache gluckste und deutete in Richtung der Kellner. »Noch mehr Wallung? Kriegen Sie.« Dann nickte sie und wies auf eine stählerne Box, die eine kleine Öffnung in Form eines Kreuzes hatte. »Dürfte ich Sie bitten, Ihre VIP-Berechtigung zu legitimieren?«
Inez trat einen Schritt vor und hielt den Rosenkranz an die Öffnung. Sie formte ein kurzes Stoßgebet in ihrem Kopf und drückte schließlich das Kreuz in die Öffnung.
Hoffentlich hatten sie nichts übersehen.
Das Gerät brauchte eine ganze Weile, in der die Wache Inez und Lyz neugierig ansah. »Wenn Sie mir den Kommentar erlauben – Sie harmonieren ganz wundervoll miteinander.« Lyz senkte huldvoll den Kopf. »Ich danke Ihnen«, während Inez angestrengt versuchte, an etwas anderes zu denken. Dann ertönte der befreiende Klang eines kurzen Jingles – und die Maschine leuchtete grün auf.
»Vielen Dank. Treten Sie ein – und beten Sie um gutes Glück.« Die Wache trat zur Seite, und die Schleuse hinter ihr öffnete sich mit einem Zischen.
Sie hatten es geschafft.
Die drei Freunde beeilten sich, das Sanctum zu betreten, bevor irgendwer – der Mann in Grün, die Wachen, Himmel, irgendein Gast – noch Verdacht schöpfen konnte.
»Ich hoffe, ich habe das Schlimmste bereits überstanden«, seufzte Téo, bevor er in das Sanctum trat. Inez nickte nur.
Zu sehr war sie vom Sanctum verzaubert.
lies weiter auf seite 49
lies weiter auf seite 49
lies weiter auf seite 49
ANFÄNGERGLÜCK


MEISTERE DEINE ERSTE ENSCHEIDUNG