



LYZ KÜSSEN
Was tue ich hier eigentlich?
Dies war der erste Gedanke, als sie sich ihren Plan – konnte man den überhaupt so nennen? – durch den Kopf gehen ließ. Ihre gesamte Strategie beruhte auf einem einzigen Blick, bei dem sie sich ebenso gut hätte irren können, den der Pitbull Lyz und ihr zugeworfen hatte.
Ein Blick der Missbilligung.
Als sie sich auf den Raub vorbereitet hatten, hatten sie sich auch alle Informationen gekrallt, die sie über den Pitbull kriegen konnten. Zugegeben, es waren nicht sonderlich viele, allerdings gab es eine interessante Tatsache, die sich nicht leugnen ließ: Zerard Duvalczak sorgte mit einer geradezu biblischen Treue für die Einhaltung der Regeln und den von ihm etablierten Anstand des Hauses – und auf diesem zweiten Feld ließ er sich anscheinend weitaus einfacher aus der Reserve locken. Wenn er etwas sähe, das ihm das Gefühl gab, sein Haus und sein Sanctum würden nicht ernst genommen oder besudelt, würde er, ohne zu zögern, diese selbsternannte Ehre wiederherstellen und Lyz und sie trennen – sie war sicher (oder hoffte sie das nur?), dass dies länger als fünf Sekunden dauern würde.
Wenn es ihn überhaupt kümmerte und ihr ganzer Plan, der auf einem müden Blick beruhte, nicht wie ein Kartenhaus zusammenbräche.
Gut, dies war die eine Seite ihrer Gedankenwelt: hübsche, kleine Überlegungen zu Strategien und Plänen, zu Wegen, wie sie an die Schlüsselkarte und La Golgotha gelangen könnten. Diese Welt war durchaus kompliziert, allerdings mit einer gewissen Logik versehen. »Wie ein Dominospiel«, hätte Téo jetzt gesagt. Eine Aktion folgte auf die andere, und sie mussten nur dafür sorgen, dass sie klüger als alle anderen waren und den Steinen den nötigen Schubs gaben.
Dann war da noch die andere Seite.
Ein kleiner Teil von ihr fragte sich, was ihr zuerst in den Sinn gekommen war: der Kuss als geschickte Möglichkeit, möglichst einfach an die Karte zu kommen – oder eine geschickte Möglichkeit, möglichst einfach an den Kuss zu kommen. Sie schüttelte den Kopf und merkte, wie sie eine Welle von Hitze durchlief.
Wieso kam ihr dieser Plan überhaupt? Lyz war ihre beste Freundin, und es gab bis heute nie – nie! – auch nur einen leisen Gedanken an irgendwas, das … mehr … als das war. Himmel, dieser Kuss würde nicht mehr sein als ein strategisches Manöver, um die Aufmerksamkeit des Pitbulls auf sich zu ziehen. Lyz würde das sicher verstehen und ihr beipflichten, dass das alles rein professioneller Natur war. Was war schon ein kleiner Kuss, um La Golgotha in Händen halten zu dürfen? Und vielleicht lag auch eine klitzekleine Neugier darin, zu wissen, wie es sich anfühlen würde, ihre beste Freundin zu küssen. Was war da schon dabei? Sie hatte das schon tausendmal gesehen.
Wieso nur schlug ihr Herz dann so verflucht schnell?
»Señora Dante? Könnten Sie Ihre Karten offenlegen?«
Ein leises Räuspern holte sie aus beiden Gedankenwelten heraus und zurück ins Sanctum, in dem sie in die wässrigen Augen des Pitbulls schaute.
Sie blickte ein wenig verloren umher und auf den Tisch. Zhenferro hatte seine Karten bereit aufgedeckt: Vor ihm lagen die Schlange (14), der Schlüssel (11) und das Rad (7) – zweiunddreißig, ein gutes Blatt. Auch Zhenferro schaute sie mit einer gewissen Neugier an. »Alles in Ordnung, Señora Dante? In Gedanken versunken?« Sie nickte nur, ohne ein Wort herausbringen zu können.
Auch der Pitbull wirkte verwirrt, bevor er seine Anfrage wiederholte.
»Sind Sie so weit? Können Sie Ihre Karten offenlegen?«
Ihr Herz machte einen Sprung. Sie musste jetzt reagieren, bevor sie – und ihre einander jagenden Gedanken – den ganzen Plan gefährdeten. Sie gab sich einen Ruck.
»Verzeihen Sie bitte, ich habe nur über dies und jenes nachgedacht. Doch Sie müssen wissen, ich pflege wie jede gute Spielerin eine … Tradition, bevor ich offenlege.«
Montclaro starrte sie nur verständnislos an. »Eine Tradition? Wollen Sie Ihre Plüschkatze um gutes Glück bitten?«
Sie schluckte. »So ähnlich, guter Mann. So … ähnlich.«
Jetzt oder nie.
Inez hob den Blick über ihre Schulter und schaute zu Lyz hinauf, die sie mit einer Mischung aus Verständnislosigkeit und Nervosität ansah. Auch sie hatte mitbekommen, dass etwas nicht stimmte, obgleich Inez dem Himmel dankte, dass Lyz nicht in ihren Kopf schauen konnte. Sie winkte sie mit zitternden Fingern zu sich heran.
Ihr Herz musste jetzt sicherlich im gesamten Sanctum zu hören sein.
Lyz runzelte die Stirn und beugte sich herunter, ihre Stimme jetzt ganz nah an ihrem Ohr. Ein Anflug von Lavendel und Rauch schlich sich zu Inez – und etwas, das nur Lyz gehörte. Sie spürte, wie ihr Kopf sich leicht zu drehen begann. »Was ist los?«, flüsterte Lyz und schüttelte kaum merklich den Kopf.
»Mach einfach mit«, flüsterte Inez zurück – und mobilisierte den letzten Rest Mut, der ihr noch geblieben war. Lyz starrte sie weiterhin völlig verwirrt an, aus diesen blauen Augen, die sie so gut kannte.
Inez führte langsam ihr Gesicht ganz nah an ihres heran – sie spürte ihren Atem, die sanfte Wärme, die von ihrem Gesicht ausging – und Lyz verstand, als sich ihre Augen tellergroß weiteten und ihr Gesicht einen Ausdruck annahm, der sich nicht ganz zwischen Schock und Schüchternheit entscheiden konnte.
Ihre Lippen waren jetzt ganz nah.
Inez verharrte, wie um diese stillschweigende Erlaubnis zu erbitten, die Menschen sich gaben, bevor sie sich küssen – und in diesem klitzekleinen Moment, der nicht länger als einen Herzschlag dauerte, lag doch eine Ewigkeit, in der die Herzen beider Mädchen mit ungeahnter Kraft schlugen.
Dann nickte Lyz, fast unmerklich, doch Inez reichte es aus. Dem Himmel sei Dank, dachte sie. Jetzt war ihr Plan nicht in Gefahr. Es ging doch um den Plan, oder?
Dann presste Lyz ihre Lippen auf die ihren.
All ihre Gedanken und Überlegungen, ihre sorgsam platzierte Strategie und die Tatsache, dass ihr gerade zwei Waffenhändler, ein Pitbull und eine alte Dame zuschauten – von Téo ganz zu schweigen – fielen im Bruchteil einer Sekunde in sich zusammen. Es spielte alles schlichtweg keine Rolle mehr. Ihre Augen schlossen sich wie von selbst, als wollten ihre Sinne sich nur möglichst … darauf … konzentrieren.
Lyz’ Lippen waren erstaunlich warm und weich – viel weicher als die einzigen Lippen, die sie bisher geküsst hatte. Die schüchternen Küsse, die sie mit einem Jungen aus Vita Nera ausgetauscht hatte, waren nichts im Vergleich hierzu.
Noch einmal schlich sich dieser Duft von Lavendel und Rauch zu ihr, den sie nie so richtig wahrgenommen hatte und der ihr aber irgendwie gefiel, ein warmes Gefühl in ihrem Bauch auslöste.
Wie von selbst legte sie ihre Hand an Lyz’ Wange und neigte den Kopf. Die leise Stimme, die versuchte, diese Geste als weiteren Schritt für eine möglichst glaubwürdige Ablenkung zu verkaufen, war eigenartigerweise nicht mehr zu hören. Nur diese Lippen waren da, sonst nichts.
Was hatte das alles nur zu bedeuten?
Plötzlich spürte sie eine große Hand auf ihrer Schulter – und mit einem sanften, aber bestimmten Ruck löste der Pitbull sie von Lyz und führte sie gewaltsam in diese Welt zurück. Sie sah in das etwas verdutzte und leicht träumerische Gesicht von Lyz, das wohl ein Ebenbild ihres eigenen war, und erstarrte.
Sie verstand erst in diesem Augenblick so richtig, was passiert war.
Verflucht, was zum Teufel habe ich da gerade getan?
Mit hochrotem Kopf wich sie zurück und starrte auf die Karten vor sich – auf den Mond mit zwei Gesichtern, der sie schelmisch anblickte. In diesem Moment dachte sie nicht daran, wie sie La Golgotha stehlen sollte; sie überlegte sich stattdessen fieberhaft einen Plan, wie sie möglichst schnell im Boden versinken und nie wieder auftauchen konnte.
Vielleicht wäre ein schneller Tod durch die Sangrada doch besser als das hier.
Die dumpfe Stimme des Pitbulls, der zwischen beiden Mädchen stand, bereit, jederzeit wieder einzugreifen, klang immer noch weit entfernt.
»Meine Damen, bitte! Dies ist ein Platz der Sitte und des Anstands, kein …«
Ein Blick von Anaïs ließ ihn mitten im Satz aufhören. Sie funkelte ihn das erste Mal mit einem Ausdruck an, in dem kein Lächeln, keine Entschuldigung lag. Es war ein Blick, der Autorität verlangte.
»Ja, Monsieur Duvalczak? Kein was genau? Sprechen Sie ruhig weiter.«
Der Angesprochene war klug genug zu erkennen, wann ein Rückzug geboten war.
»Kein … Salon.« Er hüstelte kurz.
»Kein Salon?«
»In der Tat.« Der Pitbull schaute die beiden Mädchen an und schüttelte den Kopf. »Bitte, lassen Sie uns … auf das Spiel konzentrieren. Sie sind selbstverständlich frei …« – er sprach diese letzten Worte mit einer kaum überhörbaren Abscheu aus, die er allerdings notdürftig professionell verpackte – »… sich ein Hotelzimmer im Sanctum Sins zu nehmen, wenn Sie dies wünschen.«
Anaïs nickte und lehnte sich zurück. Der Moment der Gefahr war gebannt.
Erst jetzt erlaubte Inez sich, die anderen Spieler anzuschauen. Montclaro schaute die beiden verächtlich an – vermutlich aber mehr aus Frust über die verlorene Zeit. Zhenferros Blick erinnerte an einen Großvater, der sich sagte:
Na endlich!; während Anaïs’ Blick eine gewisse Wehmut in sich trug. Der Pitbull hatte inzwischen beschlossen, dass es sicherer war, die beiden einfach zu ignorieren.
Dann platzten zwei Ballons schnell hintereinander in ihrem Kopf.
Téo – und Lyz.
Sie drehte sich vorsichtig zu Téo um – und musste sich zusammenreißen, um nicht laut aufzulachen.
Téos Gesicht ähnelte einer weißen Statue aus Marmor, die den Mund weit aufgerissen hatte und deren Augen ein Eigenleben entwickelt hatten. Er hatte Glück, dass die Aufmerksamkeit weiterhin auf den beiden Mädchen lag, denn niemand – nicht einmal ein Blinder – hätte ihm in diesem Moment die Rolle der Leibwache abgekauft. Wenn Inez schon ob ihres eigenen Verhaltens geschockt war, dann war Téo kurz vor der Bewusstlosigkeit. Als seine Augen die ihren trafen, konnte sie seine Gedanken hören, so laut waren sie.
Erstens: Was?! Zweitens: War das dein großartiger Plan? Drittens: Warn mich nächstes Mal gefälligst vor, bevor ich einen Herzinfarkt bekomme. Viertens: Was?!
Dann war da noch Lyz. Sie schaute vorsichtig zu ihr hoch.
Auch Lyz’ Gesicht hatte eine Farbe angenommen, die Inez’ Kleid ähnelte. Ihr Ausdruck war allerdings weitaus schwieriger zu deuten als der von Téo. Es lag eine gewisse Zufriedenheit darin, in der sie allerdings auch dieselbe Aufgewühltheit und Unsicherheit erkennen konnte, die sie bei sich selbst spürte.
Doch über all dem thronte etwas, das sie nicht deuten konnte.
Als Lyz ihren Blick spürte, schaute sie zu ihr hinunter und zwinkerte ihr – noch immer rot im Gesicht – zu, so als wolle sie sagen:
Na? War das so schlimm?
Dann hustete Zhenferro freundlich und Inez wandte den Blick hastig wieder auf das Spielfeld. Ab hier ging alles sehr schnell.
Ihre eigenen Karten, an die sie sich kaum noch erinnerte: der Mond (10), den sie auf 11 erhöht hatte; daneben die Maske (5). Die dritte Karte, die bei der Rota von Zhenferro zu ihr gewandert war, zeigte die Vögel (11). Sechsundzwanzig – mit der Anpassung des Mondes sogar siebenundzwanzig. Ein gutes Ergebnis, aber nicht der Rede wert.
Feuvigil: das Schwert (16), der Sünder (9) und das Haus (12). Siebenunddreißig. Montclaro war empört über sein Ergebnis und schimpfte laut hörbar vor sich hin. Der Pitbull war dankbar, dass er wieder jemanden hatte, den er maßregeln konnte.
Zuletzt Anaïs – sie war noch immer etwas überrascht, wie schnell die alte Dame Partei für sie ergriffen hatte. Sie hatte den Löwen (15) vor sich, daneben den Sanctus (4) – und die Hundekarte (13), die ihr bei der Rota von Inez zugewandert war. Zweiunddreißig. Zhenferro und Anaïs nickten sich respektvoll zu, bevor der Pitbull wieder seine Stimme erhob – es lag eine gewisse Resignation in ihr.
»Nun zu den letzten Schulden dieses Spiels, die beglichen werden müssen.« Er deutete mit seinem Stab auf den Sanctus von Anaïs und klopfte einmal auf den Tisch. Sofort leuchtete die Karte auf und begann an den Rändern rot zu glühen. »Señora Anaïs?« Diese lächelte und hob einen Zeigefinger, mit dem sie nach oben zeigte. Der Pitbull nickte. »Wir erhöhen um den Wert eins. Dreiunddreißig – Perfectio.«
Der Rest des Spiels lief wie in einem Nebel an ihr vorbei. Sie bemerkte kaum, wie der Pitbull eine ihrer Karten mit seinem Stab versengte, bevor er noch einmal die Stimme hob.
»Meine Damen, meine Herren … die Karten haben entschieden. Ich beglückwünsche Sie zu Ihrem Sieg …« Der Pitbull nickte Anaïs zu und breitete die Arme aus. »… und die anderen zu ihrem mutigen Einsatz. Wir führen unser Spiel, wenn Sie es wünschen, in einigen Minuten weiter.« Mit diesen Worten verschwand er schließlich ebenso schnell, wie er gekommen war – es hatte dieses Mal nur mehr den Eindruck einer Flucht.
Ein Assistent legte Anaïs’ Gewinn in einen goldenen Koffer, schloss sich selbst mit Handschellen daran an und stellte sich neben die alte Dame, die kaum Notiz von ihrem Gewinn nahm.
»Also …«, die lang gezogene Stimme von Lyz riss sie aus ihren Tagträumen. Sie schluckte.
»Also …«
»Das war … gar nicht so schlecht, oder?« Lyz grinste sie neckend an.
»Was?! Ich mein, also, gewiss, nur war da ja der Plan und …«
Lyz lachte über ihren verdutzten Gesichtsausdruck und stieß ihr in die Schulter.
»Natürlich meine ich den Plan. Was sollte ich denn sonst meinen?« Jetzt lag in ihrer Stimme etwas … Verführerisches? Sie traute sich kaum, dieses Wort zu benutzen. Dann fiel ihr siedend heiß etwas anderes ein.
»Die Karte! Hast du …?«
Auch Téo, der sich als weiterhin blasse Statue zu ihnen geschoben hatte, hatte seine Sprache wiedergefunden. »Bevor ihr irgendwas anderes sagt.« Seine dünne Stimme klang fast schon zu lustig. »Hat’s geklappt?«
Lyz starrte beide ihrer Freunde mit gespielter Empörung an. »Erstens: Glaubt ihr allen Ernstes, ich lasse mich von ein paar schönen Augen ablenken?« Sie zwinkerte Inez zu und wandte sich dann an Téo. »Zweitens: Hast du noch nie zwei Frauen sich küssen sehen?« Sie hielt triumphierend das Etui hoch.
»Unser Schoßhündchen hatte ja sichtlich Mühe, dich von mir loszureißen, Inez …«
Téo versteinerte wieder ein wenig mehr und winkte murmelnd ab – Inez vernahm nur »Hättet mich ja vorwarnen …« und »Ich wäre fast gestorben …«
Egal wie – sie hatten es geschafft.
Zhenferro riss sie glücklicherweise aus ihren Gedanken. Der Trinitriad war mit seinen Leibwachen zu ihr gekommen und lächelte. Er streckte ihr die Hand aus – dieses Mal ohne trinitriadische Hintergedanken.
»Señora Dante, Sie und Madame Lucille haben da etwas ganz Besonderes, wissen Sie das?« Inez schüttelte nur mit aufgerissenen Augen den Kopf, noch immer im Nebel ihrer Gedanken gefangen. Er lachte leise. »Mir hat unser kleines Spiel sehr gefallen.« Er wandte sich direkt an Lyz, der er ebenfalls die Hand reichte. Sie grinste – dieses typische Lyz-Grinsen.
»Zhenferro, es war mir eine Freude. Was werden Sie jetzt tun?« Er behielt sein mysteriöses Lächeln und zwinkerte ihr zu.
»Wir haben unsere eigenen Geschäfte im Sanctum Sins.«
Beide wussten, dass dies alles war, was sie aus ihm herausbekommen würden.
»Wenn Sie mir diesen einen Ratschlag erlauben … bleiben Sie beisammen. Eine wertvolle Sache, so eine Liebe …« Sein Blick bekam etwas Trauriges, bevor er sich wieder fing. »Und viel Glück bei Ihrem nächsten Spiel. Gewiss laufen wir uns noch einmal über den Weg.«
Der Trinitriad nickte ein letztes Mal und verschwand schließlich hinter den gläsernen Türen. Montclaro hatte sich sofort verzogen, als sich die Gelegenheit geboten hatte.
Lyz bot ihr die Hand an und half ihr auf. »Steh auf, Geliebte … hey …« Sie hatte den Blick von Inez bemerkt und schaute jetzt besorgt zu ihr. »Alles in Ordnung?« Inez sah sie an, diese blauen Augen, und erlaubte sich für einen letzten Moment den Luxus der Verwirrtheit.
Es würde einen Augenblick geben, in dem sie in Ruhe darüber nachdenken, sich auf ihrem Bett hin und her wälzen und diesen Moment hundertmal in ihrem Kopf abspielen würde. Aber jetzt mussten sie sich wieder auf ihre Mission konzentrieren. Sie nickte nur und lächelte.
»Alles gut … aber du kannst echt überhaupt nicht küssen.«
Die gespielte Empörung von Lyz brachte sie wieder zum Lachen, und so gingen die beiden Freundinnen Arm in Arm zur Glastür, als sie die Stimme von Anaïs hörten.
»Esierra! Lucille!«
Sie drehte sich um. Die alte Frau schaute sie beide an – es lag eine Traurigkeit in ihrer Miene, die wehmütig schien. Dann stahl sich doch noch ein leises Lächeln in ihr Gesicht.
»Viel Glück. Die Nacht ist noch jung … gewiss laufen wir uns noch einmal über den Weg, vielleicht bei unserem nächsten Spiel?«
Viel Glück? Inez nickte nur höflich – und verließ dann mit Lyz das Sanctum.
Und merkte, wie ihre Gedanken wieder zu diesem Kuss wanderten.
Was tue ich hier eigentlich?
Dies war der erste Gedanke, als sie sich ihren Plan – konnte man den überhaupt so nennen? – durch den Kopf gehen ließ. Ihre gesamte Strategie beruhte auf einem einzigen Blick, bei dem sie sich ebenso gut hätte irren können, den der Pitbull Lyz und ihr zugeworfen hatte.
Ein Blick der Missbilligung.
Als sie sich auf den Raub vorbereitet hatten, hatten sie sich auch alle Informationen gekrallt, die sie über den Pitbull kriegen konnten. Zugegeben, es waren nicht sonderlich viele, allerdings gab es eine interessante Tatsache, die sich nicht leugnen ließ: Zerard Duvalczak sorgte mit einer geradezu biblischen Treue für die Einhaltung der Regeln und den von ihm etablierten Anstand des Hauses – und auf diesem zweiten Feld ließ er sich anscheinend weitaus einfacher aus der Reserve locken. Wenn er etwas sähe, das ihm das Gefühl gab, sein Haus und sein Sanctum würden nicht ernst genommen oder besudelt, würde er, ohne zu zögern, diese selbsternannte Ehre wiederherstellen und Lyz und sie trennen – sie war sicher (oder hoffte sie das nur?), dass dies länger als fünf Sekunden dauern würde.
Wenn es ihn überhaupt kümmerte und ihr ganzer Plan, der auf einem müden Blick beruhte, nicht wie ein Kartenhaus zusammenbräche.
Gut, dies war die eine Seite ihrer Gedankenwelt: hübsche, kleine Überlegungen zu Strategien und Plänen, zu Wegen, wie sie an die Schlüsselkarte und La Golgotha gelangen könnten. Diese Welt war durchaus kompliziert, allerdings mit einer gewissen Logik versehen. »Wie ein Dominospiel«, hätte Téo jetzt gesagt. Eine Aktion folgte auf die andere, und sie mussten nur dafür sorgen, dass sie klüger als alle anderen waren und den Steinen den nötigen Schubs gaben.
Dann war da noch die andere Seite.
Ein kleiner Teil von ihr fragte sich, was ihr zuerst in den Sinn gekommen war: der Kuss als geschickte Möglichkeit, möglichst einfach an die Karte zu kommen – oder eine geschickte Möglichkeit, möglichst einfach an den Kuss zu kommen. Sie schüttelte den Kopf und merkte, wie sie eine Welle von Hitze durchlief.
Wieso kam ihr dieser Plan überhaupt? Lyz war ihre beste Freundin, und es gab bis heute nie – nie! – auch nur einen leisen Gedanken an irgendwas, das … mehr … als das war. Himmel, dieser Kuss würde nicht mehr sein als ein strategisches Manöver, um die Aufmerksamkeit des Pitbulls auf sich zu ziehen. Lyz würde das sicher verstehen und ihr beipflichten, dass das alles rein professioneller Natur war. Was war schon ein kleiner Kuss, um La Golgotha in Händen halten zu dürfen? Und vielleicht lag auch eine klitzekleine Neugier darin, zu wissen, wie es sich anfühlen würde, ihre beste Freundin zu küssen. Was war da schon dabei? Sie hatte das schon tausendmal gesehen.
Wieso nur schlug ihr Herz dann so verflucht schnell?
»Señora Dante? Könnten Sie Ihre Karten offenlegen?«
Ein leises Räuspern holte sie aus beiden Gedankenwelten heraus und zurück ins Sanctum, in dem sie in die wässrigen Augen des Pitbulls schaute.
Sie blickte ein wenig verloren umher und auf den Tisch. Zhenferro hatte seine Karten bereit aufgedeckt: Vor ihm lagen die Schlange (14), der Schlüssel (11) und das Rad (7) – zweiunddreißig, ein gutes Blatt. Auch Zhenferro schaute sie mit einer gewissen Neugier an. »Alles in Ordnung, Señora Dante? In Gedanken versunken?« Sie nickte nur, ohne ein Wort herausbringen zu können.
Auch der Pitbull wirkte verwirrt, bevor er seine Anfrage wiederholte.
»Sind Sie so weit? Können Sie Ihre Karten offenlegen?«
Ihr Herz machte einen Sprung. Sie musste jetzt reagieren, bevor sie – und ihre einander jagenden Gedanken – den ganzen Plan gefährdeten. Sie gab sich einen Ruck.
»Verzeihen Sie bitte, ich habe nur über dies und jenes nachgedacht. Doch Sie müssen wissen, ich pflege wie jede gute Spielerin eine … Tradition, bevor ich offenlege.«
Montclaro starrte sie nur verständnislos an. »Eine Tradition? Wollen Sie Ihre Plüschkatze um gutes Glück bitten?«
Sie schluckte. »So ähnlich, guter Mann. So … ähnlich.«
Jetzt oder nie.
Inez hob den Blick über ihre Schulter und schaute zu Lyz hinauf, die sie mit einer Mischung aus Verständnislosigkeit und Nervosität ansah. Auch sie hatte mitbekommen, dass etwas nicht stimmte, obgleich Inez dem Himmel dankte, dass Lyz nicht in ihren Kopf schauen konnte. Sie winkte sie mit zitternden Fingern zu sich heran.
Ihr Herz musste jetzt sicherlich im gesamten Sanctum zu hören sein.
Lyz runzelte die Stirn und beugte sich herunter, ihre Stimme jetzt ganz nah an ihrem Ohr. Ein Anflug von Lavendel und Rauch schlich sich zu Inez – und etwas, das nur Lyz gehörte. Sie spürte, wie ihr Kopf sich leicht zu drehen begann. »Was ist los?«, flüsterte Lyz und schüttelte kaum merklich den Kopf.
»Mach einfach mit«, flüsterte Inez zurück – und mobilisierte den letzten Rest Mut, der ihr noch geblieben war. Lyz starrte sie weiterhin völlig verwirrt an, aus diesen blauen Augen, die sie so gut kannte.
Inez führte langsam ihr Gesicht ganz nah an ihres heran – sie spürte ihren Atem, die sanfte Wärme, die von ihrem Gesicht ausging – und Lyz verstand, als sich ihre Augen tellergroß weiteten und ihr Gesicht einen Ausdruck annahm, der sich nicht ganz zwischen Schock und Schüchternheit entscheiden konnte.
Ihre Lippen waren jetzt ganz nah.
Inez verharrte, wie um diese stillschweigende Erlaubnis zu erbitten, die Menschen sich gaben, bevor sie sich küssen – und in diesem klitzekleinen Moment, der nicht länger als einen Herzschlag dauerte, lag doch eine Ewigkeit, in der die Herzen beider Mädchen mit ungeahnter Kraft schlugen.
Dann nickte Lyz, fast unmerklich, doch Inez reichte es aus. Dem Himmel sei Dank, dachte sie. Jetzt war ihr Plan nicht in Gefahr. Es ging doch um den Plan, oder?
Dann presste Lyz ihre Lippen auf die ihren.
All ihre Gedanken und Überlegungen, ihre sorgsam platzierte Strategie und die Tatsache, dass ihr gerade zwei Waffenhändler, ein Pitbull und eine alte Dame zuschauten – von Téo ganz zu schweigen – fielen im Bruchteil einer Sekunde in sich zusammen. Es spielte alles schlichtweg keine Rolle mehr. Ihre Augen schlossen sich wie von selbst, als wollten ihre Sinne sich nur möglichst … darauf … konzentrieren.
Lyz’ Lippen waren erstaunlich warm und weich – viel weicher als die einzigen Lippen, die sie bisher geküsst hatte. Die schüchternen Küsse, die sie mit einem Jungen aus Vita Nera ausgetauscht hatte, waren nichts im Vergleich hierzu.
Noch einmal schlich sich dieser Duft von Lavendel und Rauch zu ihr, den sie nie so richtig wahrgenommen hatte und der ihr aber irgendwie gefiel, ein warmes Gefühl in ihrem Bauch auslöste.
Wie von selbst legte sie ihre Hand an Lyz’ Wange und neigte den Kopf. Die leise Stimme, die versuchte, diese Geste als weiteren Schritt für eine möglichst glaubwürdige Ablenkung zu verkaufen, war eigenartigerweise nicht mehr zu hören. Nur diese Lippen waren da, sonst nichts.
Was hatte das alles nur zu bedeuten?
Plötzlich spürte sie eine große Hand auf ihrer Schulter – und mit einem sanften, aber bestimmten Ruck löste der Pitbull sie von Lyz und führte sie gewaltsam in diese Welt zurück. Sie sah in das etwas verdutzte und leicht träumerische Gesicht von Lyz, das wohl ein Ebenbild ihres eigenen war, und erstarrte.
Sie verstand erst in diesem Augenblick so richtig, was passiert war.
Verflucht, was zum Teufel habe ich da gerade getan?
Mit hochrotem Kopf wich sie zurück und starrte auf die Karten vor sich – auf den Mond mit zwei Gesichtern, der sie schelmisch anblickte. In diesem Moment dachte sie nicht daran, wie sie La Golgotha stehlen sollte; sie überlegte sich stattdessen fieberhaft einen Plan, wie sie möglichst schnell im Boden versinken und nie wieder auftauchen konnte.
Vielleicht wäre ein schneller Tod durch die Sangrada doch besser als das hier.
Die dumpfe Stimme des Pitbulls, der zwischen beiden Mädchen stand, bereit, jederzeit wieder einzugreifen, klang immer noch weit entfernt.
»Meine Damen, bitte! Dies ist ein Platz der Sitte und des Anstands, kein …«
Ein Blick von Anaïs ließ ihn mitten im Satz aufhören. Sie funkelte ihn das erste Mal mit einem Ausdruck an, in dem kein Lächeln, keine Entschuldigung lag. Es war ein Blick, der Autorität verlangte.
»Ja, Monsieur Duvalczak? Kein was genau? Sprechen Sie ruhig weiter.«
Der Angesprochene war klug genug zu erkennen, wann ein Rückzug geboten war.
»Kein … Salon.« Er hüstelte kurz.
»Kein Salon?«
»In der Tat.« Der Pitbull schaute die beiden Mädchen an und schüttelte den Kopf. »Bitte, lassen Sie uns … auf das Spiel konzentrieren. Sie sind selbstverständlich frei …« – er sprach diese letzten Worte mit einer kaum überhörbaren Abscheu aus, die er allerdings notdürftig professionell verpackte – »… sich ein Hotelzimmer im Sanctum Sins zu nehmen, wenn Sie dies wünschen.«
Anaïs nickte und lehnte sich zurück. Der Moment der Gefahr war gebannt.
Erst jetzt erlaubte Inez sich, die anderen Spieler anzuschauen. Montclaro schaute die beiden verächtlich an – vermutlich aber mehr aus Frust über die verlorene Zeit. Zhenferros Blick erinnerte an einen Großvater, der sich sagte:
Na endlich!; während Anaïs’ Blick eine gewisse Wehmut in sich trug. Der Pitbull hatte inzwischen beschlossen, dass es sicherer war, die beiden einfach zu ignorieren.
Dann platzten zwei Ballons schnell hintereinander in ihrem Kopf.
Téo – und Lyz.
Sie drehte sich vorsichtig zu Téo um – und musste sich zusammenreißen, um nicht laut aufzulachen.
Téos Gesicht ähnelte einer weißen Statue aus Marmor, die den Mund weit aufgerissen hatte und deren Augen ein Eigenleben entwickelt hatten. Er hatte Glück, dass die Aufmerksamkeit weiterhin auf den beiden Mädchen lag, denn niemand – nicht einmal ein Blinder – hätte ihm in diesem Moment die Rolle der Leibwache abgekauft. Wenn Inez schon ob ihres eigenen Verhaltens geschockt war, dann war Téo kurz vor der Bewusstlosigkeit. Als seine Augen die ihren trafen, konnte sie seine Gedanken hören, so laut waren sie.
Erstens: Was?! Zweitens: War das dein großartiger Plan? Drittens: Warn mich nächstes Mal gefälligst vor, bevor ich einen Herzinfarkt bekomme. Viertens: Was?!
Dann war da noch Lyz. Sie schaute vorsichtig zu ihr hoch.
Auch Lyz’ Gesicht hatte eine Farbe angenommen, die Inez’ Kleid ähnelte. Ihr Ausdruck war allerdings weitaus schwieriger zu deuten als der von Téo. Es lag eine gewisse Zufriedenheit darin, in der sie allerdings auch dieselbe Aufgewühltheit und Unsicherheit erkennen konnte, die sie bei sich selbst spürte.
Doch über all dem thronte etwas, das sie nicht deuten konnte.
Als Lyz ihren Blick spürte, schaute sie zu ihr hinunter und zwinkerte ihr – noch immer rot im Gesicht – zu, so als wolle sie sagen:
Na? War das so schlimm?
Dann hustete Zhenferro freundlich und Inez wandte den Blick hastig wieder auf das Spielfeld. Ab hier ging alles sehr schnell.
Ihre eigenen Karten, an die sie sich kaum noch erinnerte: der Mond (10), den sie auf 11 erhöht hatte; daneben die Maske (5). Die dritte Karte, die bei der Rota von Zhenferro zu ihr gewandert war, zeigte die Vögel (11). Sechsundzwanzig – mit der Anpassung des Mondes sogar siebenundzwanzig. Ein gutes Ergebnis, aber nicht der Rede wert.
Feuvigil: das Schwert (16), der Sünder (9) und das Haus (12). Siebenunddreißig. Montclaro war empört über sein Ergebnis und schimpfte laut hörbar vor sich hin. Der Pitbull war dankbar, dass er wieder jemanden hatte, den er maßregeln konnte.
Zuletzt Anaïs – sie war noch immer etwas überrascht, wie schnell die alte Dame Partei für sie ergriffen hatte. Sie hatte den Löwen (15) vor sich, daneben den Sanctus (4) – und die Hundekarte (13), die ihr bei der Rota von Inez zugewandert war. Zweiunddreißig. Zhenferro und Anaïs nickten sich respektvoll zu, bevor der Pitbull wieder seine Stimme erhob – es lag eine gewisse Resignation in ihr.
»Nun zu den letzten Schulden dieses Spiels, die beglichen werden müssen.« Er deutete mit seinem Stab auf den Sanctus von Anaïs und klopfte einmal auf den Tisch. Sofort leuchtete die Karte auf und begann an den Rändern rot zu glühen. »Señora Anaïs?« Diese lächelte und hob einen Zeigefinger, mit dem sie nach oben zeigte. Der Pitbull nickte. »Wir erhöhen um den Wert eins. Dreiunddreißig – Perfectio.«
Der Rest des Spiels lief wie in einem Nebel an ihr vorbei. Sie bemerkte kaum, wie der Pitbull eine ihrer Karten mit seinem Stab versengte, bevor er noch einmal die Stimme hob.
»Meine Damen, meine Herren … die Karten haben entschieden. Ich beglückwünsche Sie zu Ihrem Sieg …« Der Pitbull nickte Anaïs zu und breitete die Arme aus. »… und die anderen zu ihrem mutigen Einsatz. Wir führen unser Spiel, wenn Sie es wünschen, in einigen Minuten weiter.« Mit diesen Worten verschwand er schließlich ebenso schnell, wie er gekommen war – es hatte dieses Mal nur mehr den Eindruck einer Flucht.
Ein Assistent legte Anaïs’ Gewinn in einen goldenen Koffer, schloss sich selbst mit Handschellen daran an und stellte sich neben die alte Dame, die kaum Notiz von ihrem Gewinn nahm.
»Also …«, die lang gezogene Stimme von Lyz riss sie aus ihren Tagträumen. Sie schluckte.
»Also …«
»Das war … gar nicht so schlecht, oder?« Lyz grinste sie neckend an.
»Was?! Ich mein, also, gewiss, nur war da ja der Plan und …«
Lyz lachte über ihren verdutzten Gesichtsausdruck und stieß ihr in die Schulter.
»Natürlich meine ich den Plan. Was sollte ich denn sonst meinen?« Jetzt lag in ihrer Stimme etwas … Verführerisches? Sie traute sich kaum, dieses Wort zu benutzen. Dann fiel ihr siedend heiß etwas anderes ein.
»Die Karte! Hast du …?«
Auch Téo, der sich als weiterhin blasse Statue zu ihnen geschoben hatte, hatte seine Sprache wiedergefunden. »Bevor ihr irgendwas anderes sagt.« Seine dünne Stimme klang fast schon zu lustig. »Hat’s geklappt?«
Lyz starrte beide ihrer Freunde mit gespielter Empörung an. »Erstens: Glaubt ihr allen Ernstes, ich lasse mich von ein paar schönen Augen ablenken?« Sie zwinkerte Inez zu und wandte sich dann an Téo. »Zweitens: Hast du noch nie zwei Frauen sich küssen sehen?« Sie hielt triumphierend das Etui hoch.
»Unser Schoßhündchen hatte ja sichtlich Mühe, dich von mir loszureißen, Inez …«
Téo versteinerte wieder ein wenig mehr und winkte murmelnd ab – Inez vernahm nur »Hättet mich ja vorwarnen …« und »Ich wäre fast gestorben …«
Egal wie – sie hatten es geschafft.
Zhenferro riss sie glücklicherweise aus ihren Gedanken. Der Trinitriad war mit seinen Leibwachen zu ihr gekommen und lächelte. Er streckte ihr die Hand aus – dieses Mal ohne trinitriadische Hintergedanken.
»Señora Dante, Sie und Madame Lucille haben da etwas ganz Besonderes, wissen Sie das?« Inez schüttelte nur mit aufgerissenen Augen den Kopf, noch immer im Nebel ihrer Gedanken gefangen. Er lachte leise. »Mir hat unser kleines Spiel sehr gefallen.« Er wandte sich direkt an Lyz, der er ebenfalls die Hand reichte. Sie grinste – dieses typische Lyz-Grinsen.
»Zhenferro, es war mir eine Freude. Was werden Sie jetzt tun?« Er behielt sein mysteriöses Lächeln und zwinkerte ihr zu.
»Wir haben unsere eigenen Geschäfte im Sanctum Sins.«
Beide wussten, dass dies alles war, was sie aus ihm herausbekommen würden.
»Wenn Sie mir diesen einen Ratschlag erlauben … bleiben Sie beisammen. Eine wertvolle Sache, so eine Liebe …« Sein Blick bekam etwas Trauriges, bevor er sich wieder fing. »Und viel Glück bei Ihrem nächsten Spiel. Gewiss laufen wir uns noch einmal über den Weg.«
Der Trinitriad nickte ein letztes Mal und verschwand schließlich hinter den gläsernen Türen. Montclaro hatte sich sofort verzogen, als sich die Gelegenheit geboten hatte.
Lyz bot ihr die Hand an und half ihr auf. »Steh auf, Geliebte … hey …« Sie hatte den Blick von Inez bemerkt und schaute jetzt besorgt zu ihr. »Alles in Ordnung?« Inez sah sie an, diese blauen Augen, und erlaubte sich für einen letzten Moment den Luxus der Verwirrtheit.
Es würde einen Augenblick geben, in dem sie in Ruhe darüber nachdenken, sich auf ihrem Bett hin und her wälzen und diesen Moment hundertmal in ihrem Kopf abspielen würde. Aber jetzt mussten sie sich wieder auf ihre Mission konzentrieren. Sie nickte nur und lächelte.
»Alles gut … aber du kannst echt überhaupt nicht küssen.«
Die gespielte Empörung von Lyz brachte sie wieder zum Lachen, und so gingen die beiden Freundinnen Arm in Arm zur Glastür, als sie die Stimme von Anaïs hörten.
»Esierra! Lucille!«
Sie drehte sich um. Die alte Frau schaute sie beide an – es lag eine Traurigkeit in ihrer Miene, die wehmütig schien. Dann stahl sich doch noch ein leises Lächeln in ihr Gesicht.
»Viel Glück. Die Nacht ist noch jung … gewiss laufen wir uns noch einmal über den Weg, vielleicht bei unserem nächsten Spiel?«
Viel Glück? Inez nickte nur höflich – und verließ dann mit Lyz das Sanctum.
Und merkte, wie ihre Gedanken wieder zu diesem Kuss wanderten.
lyz küssen
lyz küssen

Was tue ich hier eigentlich?
Dies war der erste Gedanke, als sie sich ihren Plan – konnte man den überhaupt so nennen? – durch den Kopf gehen ließ. Ihre gesamte Strategie beruhte auf einem einzigen Blick, bei dem sie sich ebenso gut hätte irren können, den der Pitbull Lyz und ihr zugeworfen hatte.
Ein Blick der Missbilligung.
Als sie sich auf den Raub vorbereitet hatten, hatten sie sich auch alle Informationen gekrallt, die sie über den Pitbull kriegen konnten. Zugegeben, es waren nicht sonderlich viele, allerdings gab es eine interessante Tatsache, die sich nicht leugnen ließ: Zerard Duvalczak sorgte mit einer geradezu biblischen Treue für die Einhaltung der Regeln und den von ihm etablierten Anstand des Hauses – und auf diesem zweiten Feld ließ er sich anscheinend weitaus einfacher aus der Reserve locken. Wenn er etwas sähe, das ihm das Gefühl gab, sein Haus und sein Sanctum würden nicht ernst genommen oder besudelt, würde er, ohne zu zögern, diese selbsternannte Ehre wiederherstellen und Lyz und sie trennen – sie war sicher (oder hoffte sie das nur?), dass dies länger als fünf Sekunden dauern würde.
Wenn es ihn überhaupt kümmerte und ihr ganzer Plan, der auf einem müden Blick beruhte, nicht wie ein Kartenhaus zusammenbräche.
Gut, dies war die eine Seite ihrer Gedankenwelt: hübsche, kleine Überlegungen zu Strategien und Plänen, zu Wegen, wie sie an die Schlüsselkarte und La Golgotha gelangen könnten. Diese Welt war durchaus kompliziert, allerdings mit einer gewissen Logik versehen. »Wie ein Dominospiel«, hätte Téo jetzt gesagt. Eine Aktion folgte auf die andere, und sie mussten nur dafür sorgen, dass sie klüger als alle anderen waren und den Steinen den nötigen Schubs gaben.
Dann war da noch die andere Seite.
Ein kleiner Teil von ihr fragte sich, was ihr zuerst in den Sinn gekommen war: der Kuss als geschickte Möglichkeit, möglichst einfach an die Karte zu kommen – oder eine geschickte Möglichkeit, möglichst einfach an den Kuss zu kommen. Sie schüttelte den Kopf und merkte, wie sie eine Welle von Hitze durchlief.
Wieso kam ihr dieser Plan überhaupt? Lyz war ihre beste Freundin, und es gab bis heute nie – nie! – auch nur einen leisen Gedanken an irgendwas, das … mehr … als das war. Himmel, dieser Kuss würde nicht mehr sein als ein strategisches Manöver, um die Aufmerksamkeit des Pitbulls auf sich zu ziehen. Lyz würde das sicher verstehen und ihr beipflichten, dass das alles rein professioneller Natur war. Was war schon ein kleiner Kuss, um La Golgotha in Händen halten zu dürfen? Und vielleicht lag auch eine klitzekleine Neugier darin, zu wissen, wie es sich anfühlen würde, ihre beste Freundin zu küssen. Was war da schon dabei? Sie hatte das schon tausendmal gesehen.
Wieso nur schlug ihr Herz dann so verflucht schnell?
»Señora Dante? Könnten Sie Ihre Karten offenlegen?«
Ein leises Räuspern holte sie aus beiden Gedankenwelten heraus und zurück ins Sanctum, in dem sie in die wässrigen Augen des Pitbulls schaute.
Sie blickte ein wenig verloren umher und auf den Tisch. Zhenferro hatte seine Karten bereit aufgedeckt: Vor ihm lagen die Schlange (14), der Schlüssel (11) und das Rad (7) – zweiunddreißig, ein gutes Blatt. Auch Zhenferro schaute sie mit einer gewissen Neugier an. »Alles in Ordnung, Señora Dante? In Gedanken versunken?« Sie nickte nur, ohne ein Wort herausbringen zu können. Auch der Pitbull wirkte verwirrt, bevor er seine Anfrage wiederholte.
»Sind Sie so weit? Können Sie Ihre Karten offenlegen?«
Ihr Herz machte einen Sprung. Sie musste jetzt reagieren, bevor sie – und ihre einander jagenden Gedanken – den ganzen Plan gefährdeten. Sie gab sich einen Ruck.
»Verzeihen Sie bitte, ich habe nur über dies und jenes nachgedacht. Doch Sie müssen wissen, ich pflege wie jede gute Spielerin eine … Tradition, bevor ich offenlege.«
Montclaro starrte sie nur verständnislos an. »Eine Tradition? Wollen Sie Ihre Plüschkatze um gutes Glück bitten?«
Sie schluckte. »So ähnlich, guter Mann. So … ähnlich.«
Jetzt oder nie.
Inez hob den Blick über ihre Schulter und schaute zu Lyz hinauf, die sie mit einer Mischung aus Verständnislosigkeit und Nervosität ansah. Auch sie hatte mitbekommen, dass etwas nicht stimmte, obgleich Inez dem Himmel dankte, dass Lyz nicht in ihren Kopf schauen konnte. Sie winkte sie mit zitternden Fingern zu sich heran.
Ihr Herz musste jetzt sicherlich im gesamten Sanctum zu hören sein.
Lyz runzelte die Stirn und beugte sich herunter, ihre Stimme jetzt ganz nah an ihrem Ohr. Ein Anflug von Lavendel und Rauch schlich sich zu Inez – und etwas, das nur Lyz gehörte. Sie spürte, wie ihr Kopf sich leicht zu drehen begann. »Was ist los?«, flüsterte Lyz und schüttelte kaum merklich den Kopf.
»Mach einfach mit«, flüsterte Inez zurück – und mobilisierte den letzten Rest Mut, der ihr noch geblieben war. Lyz starrte sie weiterhin völlig verwirrt an, aus diesen blauen Augen, die sie so gut kannte.
Inez führte langsam ihr Gesicht ganz nah an ihres heran – sie spürte ihren Atem, die sanfte Wärme, die von ihrem Gesicht ausging – und Lyz verstand, als sich ihre Augen tellergroß weiteten und ihr Gesicht einen Ausdruck annahm, der sich nicht ganz zwischen Schock und Schüchternheit entscheiden konnte. Ihre Lippen waren jetzt ganz nah.
Inez verharrte, wie um diese stillschweigende Erlaubnis zu erbitten, die Menschen sich gaben, bevor sie sich küssen – und in diesem klitzekleinen Moment, der nicht länger als einen Herzschlag dauerte, lag doch eine Ewigkeit, in der die Herzen beider Mädchen mit ungeahnter Kraft schlugen.
Dann nickte Lyz, fast unmerklich, doch Inez reichte es aus. Dem Himmel sei Dank, dachte sie. Jetzt war ihr Plan nicht in Gefahr. Es ging doch um den Plan, oder?
Dann presste Lyz ihre Lippen auf die ihren.
All ihre Gedanken und Überlegungen, ihre sorgsam platzierte Strategie und die Tatsache, dass ihr gerade zwei Waffenhändler, ein Pitbull und eine alte Dame zuschauten – von Téo ganz zu schweigen – fielen im Bruchteil einer Sekunde in sich zusammen. Es spielte alles schlichtweg keine Rolle mehr. Ihre Augen schlossen sich wie von selbst, als wollten ihre Sinne sich nur möglichst … darauf … konzentrieren.
Lyz’ Lippen waren erstaunlich warm und weich – viel weicher als die einzigen Lippen, die sie bisher geküsst hatte. Die schüchternen Küsse, die sie mit einem Jungen aus Vita Nera ausgetauscht hatte, waren nichts im Vergleich hierzu. Noch einmal schlich sich dieser Duft von Lavendel und Rauch zu ihr, den sie nie so richtig wahrgenommen hatte und der ihr aber irgendwie gefiel, ein warmes Gefühl in ihrem Bauch auslöste.
Wie von selbst legte sie ihre Hand an Lyz’ Wange und neigte den Kopf. Die leise Stimme, die versuchte, diese Geste als weiteren Schritt für eine möglichst glaubwürdige Ablenkung zu verkaufen, war eigenartigerweise nicht mehr zu hören. Nur diese Lippen waren da, sonst nichts.
Was hatte das alles nur zu bedeuten?
Plötzlich spürte sie eine große Hand auf ihrer Schulter – und mit einem sanften, aber bestimmten Ruck löste der Pitbull sie von Lyz und führte sie gewaltsam in diese Welt zurück. Sie sah in das etwas verdutzte und leicht träumerische Gesicht von Lyz, das wohl ein Ebenbild ihres eigenen war, und erstarrte. Sie verstand erst in diesem Augenblick so richtig, was passiert war.
Verflucht, was zum Teufel habe ich da gerade getan?
Mit hochrotem Kopf wich sie zurück und starrte auf die Karten vor sich – auf den Mond mit zwei Gesichtern, der sie schelmisch anblickte. In diesem Moment dachte sie nicht daran, wie sie La Golgotha stehlen sollte; sie überlegte sich stattdessen fieberhaft einen Plan, wie sie möglichst schnell im Boden versinken und nie wieder auftauchen konnte.
Vielleicht wäre ein schneller Tod durch die Sangrada doch besser als das hier.
Die dumpfe Stimme des Pitbulls, der zwischen beiden Mädchen stand, bereit, jederzeit wieder einzugreifen, klang immer noch weit entfernt.
»Meine Damen, bitte! Dies ist ein Platz der Sitte und des Anstands, kein …«
Ein Blick von Anaïs ließ ihn mitten im Satz aufhören. Sie funkelte ihn das erste Mal mit einem Ausdruck an, in dem kein Lächeln, keine Entschuldigung lag. Es war ein Blick, der Autorität verlangte.
»Ja, Monsieur Duvalczak? Kein was genau? Sprechen Sie ruhig weiter.«
Der Angesprochene war klug genug zu erkennen, wann ein Rückzug geboten war.
»Kein … Salon.« Er hüstelte kurz.
»Kein Salon?«
»In der Tat.« Der Pitbull schaute die beiden Mädchen an und schüttelte den Kopf. »Bitte, lassen Sie uns … auf das Spiel konzentrieren. Sie sind selbstverständlich frei …« – er sprach diese letzten Worte mit einer kaum überhörbaren Abscheu aus, die er allerdings notdürftig professionell verpackte – »… sich ein Hotelzimmer im Sanctum Sins zu nehmen, wenn Sie dies wünschen.«
Anaïs nickte und lehnte sich zurück. Der Moment der Gefahr war gebannt.
Erst jetzt erlaubte Inez sich, die anderen Spieler anzuschauen. Montclaro schaute die beiden verächtlich an – vermutlich aber mehr aus Frust über die verlorene Zeit. Zhenferros Blick erinnerte an einen Großvater, der sich sagte:
Na endlich!; während Anaïs’ Blick eine gewisse Wehmut in sich trug. Der Pitbull hatte inzwischen beschlossen, dass es sicherer war, die beiden einfach zu ignorieren.
Dann platzten zwei Ballons schnell hintereinander in ihrem Kopf.
Téo – und Lyz.
Sie drehte sich vorsichtig zu Téo um – und musste sich zusammenreißen, um nicht laut aufzulachen.
Téos Gesicht ähnelte einer weißen Statue aus Marmor, die den Mund weit aufgerissen hatte und deren Augen ein Eigenleben entwickelt hatten. Er hatte Glück, dass die Aufmerksamkeit weiterhin auf den beiden Mädchen lag, denn niemand – nicht einmal ein Blinder – hätte ihm in diesem Moment die Rolle der Leibwache abgekauft. Wenn Inez schon ob ihres eigenen Verhaltens geschockt war, dann war Téo kurz vor der Bewusstlosigkeit. Als seine Augen die ihren trafen, konnte sie seine Gedanken hören, so laut waren sie.
Erstens: Was?! Zweitens: War das dein großartiger Plan? Drittens: Warn mich nächstes Mal gefälligst vor, bevor ich einen Herzinfarkt bekomme. Viertens: Was?!
Dann war da noch Lyz. Sie schaute vorsichtig zu ihr hoch.
Auch Lyz’ Gesicht hatte eine Farbe angenommen, die Inez’ Kleid ähnelte. Ihr Ausdruck war allerdings weitaus schwieriger zu deuten als der von Téo. Es lag eine gewisse Zufriedenheit darin, in der sie allerdings auch dieselbe Aufgewühltheit und Unsicherheit erkennen konnte, die sie bei sich selbst spürte.
Doch über all dem thronte etwas, das sie nicht deuten konnte.
Als Lyz ihren Blick spürte, schaute sie zu ihr hinunter und zwinkerte ihr – noch immer rot im Gesicht – zu, so als wolle sie sagen:
Na? War das so schlimm?
Dann hustete Zhenferro freundlich und Inez wandte den Blick hastig wieder auf das Spielfeld. Ab hier ging alles sehr schnell.
Ihre eigenen Karten, an die sie sich kaum noch erinnerte: der Mond (10), den sie auf 11 erhöht hatte; daneben die Maske (5). Die dritte Karte, die bei der Rota von Zhenferro zu ihr gewandert war, zeigte die Vögel (11). Sechsundzwanzig – mit der Anpassung des Mondes sogar siebenundzwanzig. Ein gutes Ergebnis, aber nicht der Rede wert.
Feuvigil: das Schwert (16), der Sünder (9) und das Haus (12). Siebenunddreißig. Montclaro war empört über sein Ergebnis und schimpfte laut hörbar vor sich hin. Der Pitbull war dankbar, dass er wieder jemanden hatte, den er maßregeln konnte.
Zuletzt Anaïs – sie war noch immer etwas überrascht, wie schnell die alte Dame Partei für sie ergriffen hatte. Sie hatte den Löwen (15) vor sich, daneben den Sanctus (4) – und die Hundekarte (13), die ihr bei der Rota von Inez zugewandert war. Zweiunddreißig. Zhenferro und Anaïs nickten sich respektvoll zu, bevor der Pitbull wieder seine Stimme erhob – es lag eine gewisse Resignation in ihr.
»Nun zu den letzten Schulden dieses Spiels, die beglichen werden müssen.« Er deutete mit seinem Stab auf den Sanctus von Anaïs und klopfte einmal auf den Tisch. Sofort leuchtete die Karte auf und begann an den Rändern rot zu glühen. »Señora Anaïs?« Diese lächelte und hob einen Zeigefinger, mit dem sie nach oben zeigte. Der Pitbull nickte. »Wir erhöhen um den Wert eins. Dreiunddreißig – Perfectio.«
Der Rest des Spiels lief wie in einem Nebel an ihr vorbei. Sie bemerkte kaum, wie der Pitbull eine ihrer Karten mit seinem Stab versengte, bevor er noch einmal die Stimme hob.
»Meine Damen, meine Herren … die Karten haben entschieden. Ich beglückwünsche Sie zu Ihrem Sieg …« Der Pitbull nickte Anaïs zu und breitete die Arme aus. »… und die anderen zu ihrem mutigen Einsatz. Wir führen unser Spiel, wenn Sie es wünschen, in einigen Minuten weiter.« Mit diesen Worten verschwand er schließlich ebenso schnell, wie er gekommen war – es hatte dieses Mal nur mehr den Eindruck einer Flucht.
Ein Assistent legte Anaïs’ Gewinn in einen goldenen Koffer, schloss sich selbst mit Handschellen daran an und stellte sich neben die alte Dame, die kaum Notiz von ihrem Gewinn nahm.
»Also …«, die lang gezogene Stimme von Lyz riss sie aus ihren Tagträumen. Sie schluckte.
»Also …«
»Das war … gar nicht so schlecht, oder?« Lyz grinste sie neckend an.
»Was?! Ich mein, also, gewiss, nur war da ja der Plan und …«
Lyz lachte über ihren verdutzten Gesichtsausdruck und stieß ihr in die Schulter.
»Natürlich meine ich den Plan. Was sollte ich denn sonst meinen?« Jetzt lag in ihrer Stimme etwas … Verführerisches? Sie traute sich kaum, dieses Wort zu benutzen. Dann fiel ihr siedend heiß etwas anderes ein.
»Die Karte! Hast du …?«
Auch Téo, der sich als weiterhin blasse Statue zu ihnen geschoben hatte, hatte seine Sprache wiedergefunden. »Bevor ihr irgendwas anderes sagt.« Seine dünne Stimme klang fast schon zu lustig. »Hat’s geklappt?«
Lyz starrte beide ihrer Freunde mit gespielter Empörung an. »Erstens: Glaubt ihr allen Ernstes, ich lasse mich von ein paar schönen Augen ablenken?« Sie zwinkerte Inez zu und wandte sich dann an Téo. »Zweitens: Hast du noch nie zwei Frauen sich küssen sehen?« Sie hielt triumphierend das Etui hoch.
»Unser Schoßhündchen hatte ja sichtlich Mühe, dich von mir loszureißen, Inez …«
Téo versteinerte wieder ein wenig mehr und winkte murmelnd ab – Inez vernahm nur »Hättet mich ja vorwarnen …« und »Ich wäre fast gestorben …«
Egal wie – sie hatten es geschafft.
Zhenferro riss sie glücklicherweise aus ihren Gedanken. Der Trinitriad war mit seinen Leibwachen zu ihr gekommen und lächelte. Er streckte ihr die Hand aus – dieses Mal ohne trinitriadische Hintergedanken.
»Señora Dante, Sie und Madame Lucille haben da etwas ganz Besonderes, wissen Sie das?« Inez schüttelte nur mit aufgerissenen Augen den Kopf, noch immer im Nebel ihrer Gedanken gefangen. Er lachte leise. »Mir hat unser kleines Spiel sehr gefallen.« Er wandte sich direkt an Lyz, der er ebenfalls die Hand reichte. Sie grinste – dieses typische Lyz-Grinsen.
»Zhenferro, es war mir eine Freude. Was werden Sie jetzt tun?« Er behielt sein mysteriöses Lächeln und zwinkerte ihr zu.
»Wir haben unsere eigenen Geschäfte im Sanctum Sins.«
Beide wussten, dass dies alles war, was sie aus ihm herausbekommen würden.
»Wenn Sie mir diesen einen Ratschlag erlauben … bleiben Sie beisammen. Eine wertvolle Sache, so eine Liebe …« Sein Blick bekam etwas Trauriges, bevor er sich wieder fing. »Und viel Glück bei Ihrem nächsten Spiel. Gewiss laufen wir uns noch einmal über den Weg.« Der Trinitriad nickte ein letztes Mal und verschwand schließlich hinter den gläsernen Türen. Montclaro hatte sich sofort verzogen, als sich die Gelegenheit geboten hatte.
Lyz bot ihr die Hand an und half ihr auf. »Steh auf, Geliebte … hey …« Sie hatte den Blick von Inez bemerkt und schaute jetzt besorgt zu ihr. »Alles in Ordnung?« Inez sah sie an, diese blauen Augen, und erlaubte sich für einen letzten Moment den Luxus der Verwirrtheit.
Es würde einen Augenblick geben, in dem sie in Ruhe darüber nachdenken, sich auf ihrem Bett hin und her wälzen und diesen Moment hundertmal in ihrem Kopf abspielen würde. Aber jetzt mussten sie sich wieder auf ihre Mission konzentrieren. Sie nickte nur und lächelte.
»Alles gut … aber du kannst echt überhaupt nicht küssen.«
Die gespielte Empörung von Lyz brachte sie wieder zum Lachen, und so gingen die beiden Freundinnen Arm in Arm zur Glastür, als sie die Stimme von Anaïs hörten.
»Esierra! Lucille!«
Sie drehte sich um. Die alte Frau schaute sie beide an – es lag eine Traurigkeit in ihrer Miene, die wehmütig schien. Dann stahl sich doch noch ein leises Lächeln in ihr Gesicht.
»Viel Glück. Die Nacht ist noch jung … gewiss laufen wir uns noch einmal über den Weg, vielleicht bei unserem nächsten Spiel?«
Viel Glück? Inez nickte nur höflich – und verließ dann mit Lyz das Sanctum.
Und merkte, wie ihre Gedanken wieder zu diesem Kuss wanderten.

Was tue ich hier eigentlich?
Dies war der erste Gedanke, als sie sich ihren Plan – konnte man den überhaupt so nennen? – durch den Kopf gehen ließ. Ihre gesamte Strategie beruhte auf einem einzigen Blick, bei dem sie sich ebenso gut hätte irren können, den der Pitbull Lyz und ihr zugeworfen hatte.
Ein Blick der Missbilligung.
Als sie sich auf den Raub vorbereitet hatten, hatten sie sich auch alle Informationen gekrallt, die sie über den Pitbull kriegen konnten. Zugegeben, es waren nicht sonderlich viele, allerdings gab es eine interessante Tatsache, die sich nicht leugnen ließ: Zerard Duvalczak sorgte mit einer geradezu biblischen Treue für die Einhaltung der Regeln und den von ihm etablierten Anstand des Hauses – und auf diesem zweiten Feld ließ er sich anscheinend weitaus einfacher aus der Reserve locken. Wenn er etwas sähe, das ihm das Gefühl gab, sein Haus und sein Sanctum würden nicht ernst genommen oder besudelt, würde er, ohne zu zögern, diese selbsternannte Ehre wiederherstellen und Lyz und sie trennen – sie war sicher (oder hoffte sie das nur?), dass dies länger als fünf Sekunden dauern würde.
Wenn es ihn überhaupt kümmerte und ihr ganzer Plan, der auf einem müden Blick beruhte, nicht wie ein Kartenhaus zusammenbräche.
Gut, dies war die eine Seite ihrer Gedankenwelt: hübsche, kleine Überlegungen zu Strategien und Plänen, zu Wegen, wie sie an die Schlüsselkarte und La Golgotha gelangen könnten. Diese Welt war durchaus kompliziert, allerdings mit einer gewissen Logik versehen. »Wie ein Dominospiel«, hätte Téo jetzt gesagt. Eine Aktion folgte auf die andere, und sie mussten nur dafür sorgen, dass sie klüger als alle anderen waren und den Steinen den nötigen Schubs gaben.
Dann war da noch die andere Seite.
Ein kleiner Teil von ihr fragte sich, was ihr zuerst in den Sinn gekommen war: der Kuss als geschickte Möglichkeit, möglichst einfach an die Karte zu kommen – oder eine geschickte Möglichkeit, möglichst einfach an den Kuss zu kommen. Sie schüttelte den Kopf und merkte, wie sie eine Welle von Hitze durchlief.
Wieso kam ihr dieser Plan überhaupt? Lyz war ihre beste Freundin, und es gab bis heute nie – nie! – auch nur einen leisen Gedanken an irgendwas, das … mehr … als das war. Himmel, dieser Kuss würde nicht mehr sein als ein strategisches Manöver, um die Aufmerksamkeit des Pitbulls auf sich zu ziehen. Lyz würde das sicher verstehen und ihr beipflichten, dass das alles rein professioneller Natur war. Was war schon ein kleiner Kuss, um La Golgotha in Händen halten zu dürfen? Und vielleicht lag auch eine klitzekleine Neugier darin, zu wissen, wie es sich anfühlen würde, ihre beste Freundin zu küssen. Was war da schon dabei? Sie hatte das schon tausendmal gesehen.
Wieso nur schlug ihr Herz dann so verflucht schnell?
»Señora Dante? Könnten Sie Ihre Karten offenlegen?«
Ein leises Räuspern holte sie aus beiden Gedankenwelten heraus und zurück ins Sanctum, in dem sie in die wässrigen Augen des Pitbulls schaute.
Sie blickte ein wenig verloren umher und auf den Tisch. Zhenferro hatte seine Karten bereit aufgedeckt: Vor ihm lagen die Schlange (14), der Schlüssel (11) und das Rad (7) – zweiunddreißig, ein gutes Blatt. Auch Zhenferro schaute sie mit einer gewissen Neugier an. »Alles in Ordnung, Señora Dante? In Gedanken versunken?« Sie nickte nur, ohne ein Wort herausbringen zu können. Auch der Pitbull wirkte verwirrt, bevor er seine Anfrage wiederholte.
»Sind Sie so weit? Können Sie Ihre Karten offenlegen?«
Ihr Herz machte einen Sprung. Sie musste jetzt reagieren, bevor sie – und ihre einander jagenden Gedanken – den ganzen Plan gefährdeten. Sie gab sich einen Ruck.
»Verzeihen Sie bitte, ich habe nur über dies und jenes nachgedacht. Doch Sie müssen wissen, ich pflege wie jede gute Spielerin eine … Tradition, bevor ich offenlege.«
Montclaro starrte sie nur verständnislos an. »Eine Tradition? Wollen Sie Ihre Plüschkatze um gutes Glück bitten?«
Sie schluckte. »So ähnlich, guter Mann. So … ähnlich.«
Jetzt oder nie.
Inez hob den Blick über ihre Schulter und schaute zu Lyz hinauf, die sie mit einer Mischung aus Verständnislosigkeit und Nervosität ansah. Auch sie hatte mitbekommen, dass etwas nicht stimmte, obgleich Inez dem Himmel dankte, dass Lyz nicht in ihren Kopf schauen konnte. Sie winkte sie mit zitternden Fingern zu sich heran.
Ihr Herz musste jetzt sicherlich im gesamten Sanctum zu hören sein.
Lyz runzelte die Stirn und beugte sich herunter, ihre Stimme jetzt ganz nah an ihrem Ohr. Ein Anflug von Lavendel und Rauch schlich sich zu Inez – und etwas, das nur Lyz gehörte. Sie spürte, wie ihr Kopf sich leicht zu drehen begann. »Was ist los?«, flüsterte Lyz und schüttelte kaum merklich den Kopf.
»Mach einfach mit«, flüsterte Inez zurück – und mobilisierte den letzten Rest Mut, der ihr noch geblieben war. Lyz starrte sie weiterhin völlig verwirrt an, aus diesen blauen Augen, die sie so gut kannte.
Inez führte langsam ihr Gesicht ganz nah an ihres heran – sie spürte ihren Atem, die sanfte Wärme, die von ihrem Gesicht ausging – und Lyz verstand, als sich ihre Augen tellergroß weiteten und ihr Gesicht einen Ausdruck annahm, der sich nicht ganz zwischen Schock und Schüchternheit entscheiden konnte. Ihre Lippen waren jetzt ganz nah.
Inez verharrte, wie um diese stillschweigende Erlaubnis zu erbitten, die Menschen sich gaben, bevor sie sich küssen – und in diesem klitzekleinen Moment, der nicht länger als einen Herzschlag dauerte, lag doch eine Ewigkeit, in der die Herzen beider Mädchen mit ungeahnter Kraft schlugen.
Dann nickte Lyz, fast unmerklich, doch Inez reichte es aus. Dem Himmel sei Dank, dachte sie. Jetzt war ihr Plan nicht in Gefahr. Es ging doch um den Plan, oder?
Dann presste Lyz ihre Lippen auf die ihren.
All ihre Gedanken und Überlegungen, ihre sorgsam platzierte Strategie und die Tatsache, dass ihr gerade zwei Waffenhändler, ein Pitbull und eine alte Dame zuschauten – von Téo ganz zu schweigen – fielen im Bruchteil einer Sekunde in sich zusammen. Es spielte alles schlichtweg keine Rolle mehr. Ihre Augen schlossen sich wie von selbst, als wollten ihre Sinne sich nur möglichst … darauf … konzentrieren.
Lyz’ Lippen waren erstaunlich warm und weich – viel weicher als die einzigen Lippen, die sie bisher geküsst hatte. Die schüchternen Küsse, die sie mit einem Jungen aus Vita Nera ausgetauscht hatte, waren nichts im Vergleich hierzu. Noch einmal schlich sich dieser Duft von Lavendel und Rauch zu ihr, den sie nie so richtig wahrgenommen hatte und der ihr aber irgendwie gefiel, ein warmes Gefühl in ihrem Bauch auslöste.
Wie von selbst legte sie ihre Hand an Lyz’ Wange und neigte den Kopf. Die leise Stimme, die versuchte, diese Geste als weiteren Schritt für eine möglichst glaubwürdige Ablenkung zu verkaufen, war eigenartigerweise nicht mehr zu hören. Nur diese Lippen waren da, sonst nichts.
Was hatte das alles nur zu bedeuten?
Plötzlich spürte sie eine große Hand auf ihrer Schulter – und mit einem sanften, aber bestimmten Ruck löste der Pitbull sie von Lyz und führte sie gewaltsam in diese Welt zurück. Sie sah in das etwas verdutzte und leicht träumerische Gesicht von Lyz, das wohl ein Ebenbild ihres eigenen war, und erstarrte. Sie verstand erst in diesem Augenblick so richtig, was passiert war.
Verflucht, was zum Teufel habe ich da gerade getan?
Mit hochrotem Kopf wich sie zurück und starrte auf die Karten vor sich – auf den Mond mit zwei Gesichtern, der sie schelmisch anblickte. In diesem Moment dachte sie nicht daran, wie sie La Golgotha stehlen sollte; sie überlegte sich stattdessen fieberhaft einen Plan, wie sie möglichst schnell im Boden versinken und nie wieder auftauchen konnte.
Vielleicht wäre ein schneller Tod durch die Sangrada doch besser als das hier.
Die dumpfe Stimme des Pitbulls, der zwischen beiden Mädchen stand, bereit, jederzeit wieder einzugreifen, klang immer noch weit entfernt.
»Meine Damen, bitte! Dies ist ein Platz der Sitte und des Anstands, kein …«
Ein Blick von Anaïs ließ ihn mitten im Satz aufhören. Sie funkelte ihn das erste Mal mit einem Ausdruck an, in dem kein Lächeln, keine Entschuldigung lag. Es war ein Blick, der Autorität verlangte.
»Ja, Monsieur Duvalczak? Kein was genau? Sprechen Sie ruhig weiter.«
Der Angesprochene war klug genug zu erkennen, wann ein Rückzug geboten war.
»Kein … Salon.« Er hüstelte kurz.
»Kein Salon?«
»In der Tat.« Der Pitbull schaute die beiden Mädchen an und schüttelte den Kopf. »Bitte, lassen Sie uns … auf das Spiel konzentrieren. Sie sind selbstverständlich frei …« – er sprach diese letzten Worte mit einer kaum überhörbaren Abscheu aus, die er allerdings notdürftig professionell verpackte – »… sich ein Hotelzimmer im Sanctum Sins zu nehmen, wenn Sie dies wünschen.«
Anaïs nickte und lehnte sich zurück. Der Moment der Gefahr war gebannt.
Erst jetzt erlaubte Inez sich, die anderen Spieler anzuschauen. Montclaro schaute die beiden verächtlich an – vermutlich aber mehr aus Frust über die verlorene Zeit. Zhenferros Blick erinnerte an einen Großvater, der sich sagte:
Na endlich!; während Anaïs’ Blick eine gewisse Wehmut in sich trug. Der Pitbull hatte inzwischen beschlossen, dass es sicherer war, die beiden einfach zu ignorieren.
Dann platzten zwei Ballons schnell hintereinander in ihrem Kopf.
Téo – und Lyz.
Sie drehte sich vorsichtig zu Téo um – und musste sich zusammenreißen, um nicht laut aufzulachen.
Téos Gesicht ähnelte einer weißen Statue aus Marmor, die den Mund weit aufgerissen hatte und deren Augen ein Eigenleben entwickelt hatten. Er hatte Glück, dass die Aufmerksamkeit weiterhin auf den beiden Mädchen lag, denn niemand – nicht einmal ein Blinder – hätte ihm in diesem Moment die Rolle der Leibwache abgekauft. Wenn Inez schon ob ihres eigenen Verhaltens geschockt war, dann war Téo kurz vor der Bewusstlosigkeit. Als seine Augen die ihren trafen, konnte sie seine Gedanken hören, so laut waren sie.
Erstens: Was?! Zweitens: War das dein großartiger Plan? Drittens: Warn mich nächstes Mal gefälligst vor, bevor ich einen Herzinfarkt bekomme. Viertens: Was?!
Dann war da noch Lyz. Sie schaute vorsichtig zu ihr hoch.
Auch Lyz’ Gesicht hatte eine Farbe angenommen, die Inez’ Kleid ähnelte. Ihr Ausdruck war allerdings weitaus schwieriger zu deuten als der von Téo. Es lag eine gewisse Zufriedenheit darin, in der sie allerdings auch dieselbe Aufgewühltheit und Unsicherheit erkennen konnte, die sie bei sich selbst spürte.
Doch über all dem thronte etwas, das sie nicht deuten konnte.
Als Lyz ihren Blick spürte, schaute sie zu ihr hinunter und zwinkerte ihr – noch immer rot im Gesicht – zu, so als wolle sie sagen:
Na? War das so schlimm?
Dann hustete Zhenferro freundlich und Inez wandte den Blick hastig wieder auf das Spielfeld. Ab hier ging alles sehr schnell.
Ihre eigenen Karten, an die sie sich kaum noch erinnerte: der Mond (10), den sie auf 11 erhöht hatte; daneben die Maske (5). Die dritte Karte, die bei der Rota von Zhenferro zu ihr gewandert war, zeigte die Vögel (11). Sechsundzwanzig – mit der Anpassung des Mondes sogar siebenundzwanzig. Ein gutes Ergebnis, aber nicht der Rede wert.
Feuvigil: das Schwert (16), der Sünder (9) und das Haus (12). Siebenunddreißig. Montclaro war empört über sein Ergebnis und schimpfte laut hörbar vor sich hin. Der Pitbull war dankbar, dass er wieder jemanden hatte, den er maßregeln konnte.
Zuletzt Anaïs – sie war noch immer etwas überrascht, wie schnell die alte Dame Partei für sie ergriffen hatte. Sie hatte den Löwen (15) vor sich, daneben den Sanctus (4) – und die Hundekarte (13), die ihr bei der Rota von Inez zugewandert war. Zweiunddreißig. Zhenferro und Anaïs nickten sich respektvoll zu, bevor der Pitbull wieder seine Stimme erhob – es lag eine gewisse Resignation in ihr.
»Nun zu den letzten Schulden dieses Spiels, die beglichen werden müssen.« Er deutete mit seinem Stab auf den Sanctus von Anaïs und klopfte einmal auf den Tisch. Sofort leuchtete die Karte auf und begann an den Rändern rot zu glühen. »Señora Anaïs?« Diese lächelte und hob einen Zeigefinger, mit dem sie nach oben zeigte. Der Pitbull nickte. »Wir erhöhen um den Wert eins. Dreiunddreißig – Perfectio.«
Der Rest des Spiels lief wie in einem Nebel an ihr vorbei. Sie bemerkte kaum, wie der Pitbull eine ihrer Karten mit seinem Stab versengte, bevor er noch einmal die Stimme hob.
»Meine Damen, meine Herren … die Karten haben entschieden. Ich beglückwünsche Sie zu Ihrem Sieg …« Der Pitbull nickte Anaïs zu und breitete die Arme aus. »… und die anderen zu ihrem mutigen Einsatz. Wir führen unser Spiel, wenn Sie es wünschen, in einigen Minuten weiter.« Mit diesen Worten verschwand er schließlich ebenso schnell, wie er gekommen war – es hatte dieses Mal nur mehr den Eindruck einer Flucht.
Ein Assistent legte Anaïs’ Gewinn in einen goldenen Koffer, schloss sich selbst mit Handschellen daran an und stellte sich neben die alte Dame, die kaum Notiz von ihrem Gewinn nahm.
»Also …«, die lang gezogene Stimme von Lyz riss sie aus ihren Tagträumen. Sie schluckte.
»Also …«
»Das war … gar nicht so schlecht, oder?« Lyz grinste sie neckend an.
»Was?! Ich mein, also, gewiss, nur war da ja der Plan und …«
Lyz lachte über ihren verdutzten Gesichtsausdruck und stieß ihr in die Schulter.
»Natürlich meine ich den Plan. Was sollte ich denn sonst meinen?« Jetzt lag in ihrer Stimme etwas … Verführerisches? Sie traute sich kaum, dieses Wort zu benutzen. Dann fiel ihr siedend heiß etwas anderes ein.
»Die Karte! Hast du …?«
Auch Téo, der sich als weiterhin blasse Statue zu ihnen geschoben hatte, hatte seine Sprache wiedergefunden. »Bevor ihr irgendwas anderes sagt.« Seine dünne Stimme klang fast schon zu lustig. »Hat’s geklappt?«
Lyz starrte beide ihrer Freunde mit gespielter Empörung an. »Erstens: Glaubt ihr allen Ernstes, ich lasse mich von ein paar schönen Augen ablenken?« Sie zwinkerte Inez zu und wandte sich dann an Téo. »Zweitens: Hast du noch nie zwei Frauen sich küssen sehen?« Sie hielt triumphierend das Etui hoch.
»Unser Schoßhündchen hatte ja sichtlich Mühe, dich von mir loszureißen, Inez …«
Téo versteinerte wieder ein wenig mehr und winkte murmelnd ab – Inez vernahm nur »Hättet mich ja vorwarnen …« und »Ich wäre fast gestorben …«
Egal wie – sie hatten es geschafft.
Zhenferro riss sie glücklicherweise aus ihren Gedanken. Der Trinitriad war mit seinen Leibwachen zu ihr gekommen und lächelte. Er streckte ihr die Hand aus – dieses Mal ohne trinitriadische Hintergedanken.
»Señora Dante, Sie und Madame Lucille haben da etwas ganz Besonderes, wissen Sie das?« Inez schüttelte nur mit aufgerissenen Augen den Kopf, noch immer im Nebel ihrer Gedanken gefangen. Er lachte leise. »Mir hat unser kleines Spiel sehr gefallen.« Er wandte sich direkt an Lyz, der er ebenfalls die Hand reichte. Sie grinste – dieses typische Lyz-Grinsen.
»Zhenferro, es war mir eine Freude. Was werden Sie jetzt tun?« Er behielt sein mysteriöses Lächeln und zwinkerte ihr zu.
»Wir haben unsere eigenen Geschäfte im Sanctum Sins.«
Beide wussten, dass dies alles war, was sie aus ihm herausbekommen würden.
»Wenn Sie mir diesen einen Ratschlag erlauben … bleiben Sie beisammen. Eine wertvolle Sache, so eine Liebe …« Sein Blick bekam etwas Trauriges, bevor er sich wieder fing. »Und viel Glück bei Ihrem nächsten Spiel. Gewiss laufen wir uns noch einmal über den Weg.« Der Trinitriad nickte ein letztes Mal und verschwand schließlich hinter den gläsernen Türen. Montclaro hatte sich sofort verzogen, als sich die Gelegenheit geboten hatte.
Lyz bot ihr die Hand an und half ihr auf. »Steh auf, Geliebte … hey …« Sie hatte den Blick von Inez bemerkt und schaute jetzt besorgt zu ihr. »Alles in Ordnung?« Inez sah sie an, diese blauen Augen, und erlaubte sich für einen letzten Moment den Luxus der Verwirrtheit.
Es würde einen Augenblick geben, in dem sie in Ruhe darüber nachdenken, sich auf ihrem Bett hin und her wälzen und diesen Moment hundertmal in ihrem Kopf abspielen würde. Aber jetzt mussten sie sich wieder auf ihre Mission konzentrieren. Sie nickte nur und lächelte.
»Alles gut … aber du kannst echt überhaupt nicht küssen.«
Die gespielte Empörung von Lyz brachte sie wieder zum Lachen, und so gingen die beiden Freundinnen Arm in Arm zur Glastür, als sie die Stimme von Anaïs hörten.
»Esierra! Lucille!«
Sie drehte sich um. Die alte Frau schaute sie beide an – es lag eine Traurigkeit in ihrer Miene, die wehmütig schien. Dann stahl sich doch noch ein leises Lächeln in ihr Gesicht.
»Viel Glück. Die Nacht ist noch jung … gewiss laufen wir uns noch einmal über den Weg, vielleicht bei unserem nächsten Spiel?«
Viel Glück? Inez nickte nur höflich – und verließ dann mit Lyz das Sanctum.
Und merkte, wie ihre Gedanken wieder zu diesem Kuss wanderten.

Was tue ich hier eigentlich?
Dies war der erste Gedanke, als sie sich ihren Plan – konnte man den überhaupt so nennen? – durch den Kopf gehen ließ. Ihre gesamte Strategie beruhte auf einem einzigen Blick, bei dem sie sich ebenso gut hätte irren können, den der Pitbull Lyz und ihr zugeworfen hatte.
Ein Blick der Missbilligung.
Als sie sich auf den Raub vorbereitet hatten, hatten sie sich auch alle Informationen gekrallt, die sie über den Pitbull kriegen konnten. Zugegeben, es waren nicht sonderlich viele, allerdings gab es eine interessante Tatsache, die sich nicht leugnen ließ: Zerard Duvalczak sorgte mit einer geradezu biblischen Treue für die Einhaltung der Regeln und den von ihm etablierten Anstand des Hauses – und auf diesem zweiten Feld ließ er sich anscheinend weitaus einfacher aus der Reserve locken. Wenn er etwas sähe, das ihm das Gefühl gab, sein Haus und sein Sanctum würden nicht ernst genommen oder besudelt, würde er, ohne zu zögern, diese selbsternannte Ehre wiederherstellen und Lyz und sie trennen – sie war sicher (oder hoffte sie das nur?), dass dies länger als fünf Sekunden dauern würde.
Wenn es ihn überhaupt kümmerte und ihr ganzer Plan, der auf einem müden Blick beruhte, nicht wie ein Kartenhaus zusammenbräche.
Gut, dies war die eine Seite ihrer Gedankenwelt: hübsche, kleine Überlegungen zu Strategien und Plänen, zu Wegen, wie sie an die Schlüsselkarte und La Golgotha gelangen könnten. Diese Welt war durchaus kompliziert, allerdings mit einer gewissen Logik versehen. »Wie ein Dominospiel«, hätte Téo jetzt gesagt. Eine Aktion folgte auf die andere, und sie mussten nur dafür sorgen, dass sie klüger als alle anderen waren und den Steinen den nötigen Schubs gaben.
Dann war da noch die andere Seite.
Ein kleiner Teil von ihr fragte sich, was ihr zuerst in den Sinn gekommen war: der Kuss als geschickte Möglichkeit, möglichst einfach an die Karte zu kommen – oder eine geschickte Möglichkeit, möglichst einfach an den Kuss zu kommen. Sie schüttelte den Kopf und merkte, wie sie eine Welle von Hitze durchlief.
Wieso kam ihr dieser Plan überhaupt? Lyz war ihre beste Freundin, und es gab bis heute nie – nie! – auch nur einen leisen Gedanken an irgendwas, das … mehr … als das war. Himmel, dieser Kuss würde nicht mehr sein als ein strategisches Manöver, um die Aufmerksamkeit des Pitbulls auf sich zu ziehen. Lyz würde das sicher verstehen und ihr beipflichten, dass das alles rein professioneller Natur war. Was war schon ein kleiner Kuss, um La Golgotha in Händen halten zu dürfen? Und vielleicht lag auch eine klitzekleine Neugier darin, zu wissen, wie es sich anfühlen würde, ihre beste Freundin zu küssen. Was war da schon dabei? Sie hatte das schon tausendmal gesehen.
Wieso nur schlug ihr Herz dann so verflucht schnell?
»Señora Dante? Könnten Sie Ihre Karten offenlegen?«
Ein leises Räuspern holte sie aus beiden Gedankenwelten heraus und zurück ins Sanctum, in dem sie in die wässrigen Augen des Pitbulls schaute.
Sie blickte ein wenig verloren umher und auf den Tisch. Zhenferro hatte seine Karten bereit aufgedeckt: Vor ihm lagen die Schlange (14), der Schlüssel (11) und das Rad (7) – zweiunddreißig, ein gutes Blatt. Auch Zhenferro schaute sie mit einer gewissen Neugier an. »Alles in Ordnung, Señora Dante? In Gedanken versunken?« Sie nickte nur, ohne ein Wort herausbringen zu können. Auch der Pitbull wirkte verwirrt, bevor er seine Anfrage wiederholte.
»Sind Sie so weit? Können Sie Ihre Karten offenlegen?«
Ihr Herz machte einen Sprung. Sie musste jetzt reagieren, bevor sie – und ihre einander jagenden Gedanken – den ganzen Plan gefährdeten. Sie gab sich einen Ruck.
»Verzeihen Sie bitte, ich habe nur über dies und jenes nachgedacht. Doch Sie müssen wissen, ich pflege wie jede gute Spielerin eine … Tradition, bevor ich offenlege.«
Montclaro starrte sie nur verständnislos an. »Eine Tradition? Wollen Sie Ihre Plüschkatze um gutes Glück bitten?«
Sie schluckte. »So ähnlich, guter Mann. So … ähnlich.«
Jetzt oder nie.
Inez hob den Blick über ihre Schulter und schaute zu Lyz hinauf, die sie mit einer Mischung aus Verständnislosigkeit und Nervosität ansah. Auch sie hatte mitbekommen, dass etwas nicht stimmte, obgleich Inez dem Himmel dankte, dass Lyz nicht in ihren Kopf schauen konnte. Sie winkte sie mit zitternden Fingern zu sich heran.
Ihr Herz musste jetzt sicherlich im gesamten Sanctum zu hören sein.
Lyz runzelte die Stirn und beugte sich herunter, ihre Stimme jetzt ganz nah an ihrem Ohr. Ein Anflug von Lavendel und Rauch schlich sich zu Inez – und etwas, das nur Lyz gehörte. Sie spürte, wie ihr Kopf sich leicht zu drehen begann. »Was ist los?«, flüsterte Lyz und schüttelte kaum merklich den Kopf.
»Mach einfach mit«, flüsterte Inez zurück – und mobilisierte den letzten Rest Mut, der ihr noch geblieben war. Lyz starrte sie weiterhin völlig verwirrt an, aus diesen blauen Augen, die sie so gut kannte.
Inez führte langsam ihr Gesicht ganz nah an ihres heran – sie spürte ihren Atem, die sanfte Wärme, die von ihrem Gesicht ausging – und Lyz verstand, als sich ihre Augen tellergroß weiteten und ihr Gesicht einen Ausdruck annahm, der sich nicht ganz zwischen Schock und Schüchternheit entscheiden konnte. Ihre Lippen waren jetzt ganz nah.
Inez verharrte, wie um diese stillschweigende Erlaubnis zu erbitten, die Menschen sich gaben, bevor sie sich küssen – und in diesem klitzekleinen Moment, der nicht länger als einen Herzschlag dauerte, lag doch eine Ewigkeit, in der die Herzen beider Mädchen mit ungeahnter Kraft schlugen.
Dann nickte Lyz, fast unmerklich, doch Inez reichte es aus. Dem Himmel sei Dank, dachte sie. Jetzt war ihr Plan nicht in Gefahr. Es ging doch um den Plan, oder?
Dann presste Lyz ihre Lippen auf die ihren.
All ihre Gedanken und Überlegungen, ihre sorgsam platzierte Strategie und die Tatsache, dass ihr gerade zwei Waffenhändler, ein Pitbull und eine alte Dame zuschauten – von Téo ganz zu schweigen – fielen im Bruchteil einer Sekunde in sich zusammen. Es spielte alles schlichtweg keine Rolle mehr. Ihre Augen schlossen sich wie von selbst, als wollten ihre Sinne sich nur möglichst … darauf … konzentrieren.
Lyz’ Lippen waren erstaunlich warm und weich – viel weicher als die einzigen Lippen, die sie bisher geküsst hatte. Die schüchternen Küsse, die sie mit einem Jungen aus Vita Nera ausgetauscht hatte, waren nichts im Vergleich hierzu. Noch einmal schlich sich dieser Duft von Lavendel und Rauch zu ihr, den sie nie so richtig wahrgenommen hatte und der ihr aber irgendwie gefiel, ein warmes Gefühl in ihrem Bauch auslöste.
Wie von selbst legte sie ihre Hand an Lyz’ Wange und neigte den Kopf. Die leise Stimme, die versuchte, diese Geste als weiteren Schritt für eine möglichst glaubwürdige Ablenkung zu verkaufen, war eigenartigerweise nicht mehr zu hören. Nur diese Lippen waren da, sonst nichts.
Was hatte das alles nur zu bedeuten?
Plötzlich spürte sie eine große Hand auf ihrer Schulter – und mit einem sanften, aber bestimmten Ruck löste der Pitbull sie von Lyz und führte sie gewaltsam in diese Welt zurück. Sie sah in das etwas verdutzte und leicht träumerische Gesicht von Lyz, das wohl ein Ebenbild ihres eigenen war, und erstarrte. Sie verstand erst in diesem Augenblick so richtig, was passiert war.
Verflucht, was zum Teufel habe ich da gerade getan?
Mit hochrotem Kopf wich sie zurück und starrte auf die Karten vor sich – auf den Mond mit zwei Gesichtern, der sie schelmisch anblickte. In diesem Moment dachte sie nicht daran, wie sie La Golgotha stehlen sollte; sie überlegte sich stattdessen fieberhaft einen Plan, wie sie möglichst schnell im Boden versinken und nie wieder auftauchen konnte.
Vielleicht wäre ein schneller Tod durch die Sangrada doch besser als das hier.
Die dumpfe Stimme des Pitbulls, der zwischen beiden Mädchen stand, bereit, jederzeit wieder einzugreifen, klang immer noch weit entfernt.
»Meine Damen, bitte! Dies ist ein Platz der Sitte und des Anstands, kein …«
Ein Blick von Anaïs ließ ihn mitten im Satz aufhören. Sie funkelte ihn das erste Mal mit einem Ausdruck an, in dem kein Lächeln, keine Entschuldigung lag. Es war ein Blick, der Autorität verlangte.
»Ja, Monsieur Duvalczak? Kein was genau? Sprechen Sie ruhig weiter.«
Der Angesprochene war klug genug zu erkennen, wann ein Rückzug geboten war.
»Kein … Salon.« Er hüstelte kurz.
»Kein Salon?«
»In der Tat.« Der Pitbull schaute die beiden Mädchen an und schüttelte den Kopf. »Bitte, lassen Sie uns … auf das Spiel konzentrieren. Sie sind selbstverständlich frei …« – er sprach diese letzten Worte mit einer kaum überhörbaren Abscheu aus, die er allerdings notdürftig professionell verpackte – »… sich ein Hotelzimmer im Sanctum Sins zu nehmen, wenn Sie dies wünschen.«
Anaïs nickte und lehnte sich zurück. Der Moment der Gefahr war gebannt.
Erst jetzt erlaubte Inez sich, die anderen Spieler anzuschauen. Montclaro schaute die beiden verächtlich an – vermutlich aber mehr aus Frust über die verlorene Zeit. Zhenferros Blick erinnerte an einen Großvater, der sich sagte:
Na endlich!; während Anaïs’ Blick eine gewisse Wehmut in sich trug. Der Pitbull hatte inzwischen beschlossen, dass es sicherer war, die beiden einfach zu ignorieren.
Dann platzten zwei Ballons schnell hintereinander in ihrem Kopf.
Téo – und Lyz.
Sie drehte sich vorsichtig zu Téo um – und musste sich zusammenreißen, um nicht laut aufzulachen.
Téos Gesicht ähnelte einer weißen Statue aus Marmor, die den Mund weit aufgerissen hatte und deren Augen ein Eigenleben entwickelt hatten. Er hatte Glück, dass die Aufmerksamkeit weiterhin auf den beiden Mädchen lag, denn niemand – nicht einmal ein Blinder – hätte ihm in diesem Moment die Rolle der Leibwache abgekauft. Wenn Inez schon ob ihres eigenen Verhaltens geschockt war, dann war Téo kurz vor der Bewusstlosigkeit. Als seine Augen die ihren trafen, konnte sie seine Gedanken hören, so laut waren sie.
Erstens: Was?! Zweitens: War das dein großartiger Plan? Drittens: Warn mich nächstes Mal gefälligst vor, bevor ich einen Herzinfarkt bekomme. Viertens: Was?!
Dann war da noch Lyz. Sie schaute vorsichtig zu ihr hoch.
Auch Lyz’ Gesicht hatte eine Farbe angenommen, die Inez’ Kleid ähnelte. Ihr Ausdruck war allerdings weitaus schwieriger zu deuten als der von Téo. Es lag eine gewisse Zufriedenheit darin, in der sie allerdings auch dieselbe Aufgewühltheit und Unsicherheit erkennen konnte, die sie bei sich selbst spürte.
Doch über all dem thronte etwas, das sie nicht deuten konnte.
Als Lyz ihren Blick spürte, schaute sie zu ihr hinunter und zwinkerte ihr – noch immer rot im Gesicht – zu, so als wolle sie sagen:
Na? War das so schlimm?
Dann hustete Zhenferro freundlich und Inez wandte den Blick hastig wieder auf das Spielfeld. Ab hier ging alles sehr schnell.
Ihre eigenen Karten, an die sie sich kaum noch erinnerte: der Mond (10), den sie auf 11 erhöht hatte; daneben die Maske (5). Die dritte Karte, die bei der Rota von Zhenferro zu ihr gewandert war, zeigte die Vögel (11). Sechsundzwanzig – mit der Anpassung des Mondes sogar siebenundzwanzig. Ein gutes Ergebnis, aber nicht der Rede wert.
Feuvigil: das Schwert (16), der Sünder (9) und das Haus (12). Siebenunddreißig. Montclaro war empört über sein Ergebnis und schimpfte laut hörbar vor sich hin. Der Pitbull war dankbar, dass er wieder jemanden hatte, den er maßregeln konnte.
Zuletzt Anaïs – sie war noch immer etwas überrascht, wie schnell die alte Dame Partei für sie ergriffen hatte. Sie hatte den Löwen (15) vor sich, daneben den Sanctus (4) – und die Hundekarte (13), die ihr bei der Rota von Inez zugewandert war. Zweiunddreißig. Zhenferro und Anaïs nickten sich respektvoll zu, bevor der Pitbull wieder seine Stimme erhob – es lag eine gewisse Resignation in ihr.
»Nun zu den letzten Schulden dieses Spiels, die beglichen werden müssen.« Er deutete mit seinem Stab auf den Sanctus von Anaïs und klopfte einmal auf den Tisch. Sofort leuchtete die Karte auf und begann an den Rändern rot zu glühen. »Señora Anaïs?« Diese lächelte und hob einen Zeigefinger, mit dem sie nach oben zeigte. Der Pitbull nickte. »Wir erhöhen um den Wert eins. Dreiunddreißig – Perfectio.«
Der Rest des Spiels lief wie in einem Nebel an ihr vorbei. Sie bemerkte kaum, wie der Pitbull eine ihrer Karten mit seinem Stab versengte, bevor er noch einmal die Stimme hob.
»Meine Damen, meine Herren … die Karten haben entschieden. Ich beglückwünsche Sie zu Ihrem Sieg …« Der Pitbull nickte Anaïs zu und breitete die Arme aus. »… und die anderen zu ihrem mutigen Einsatz. Wir führen unser Spiel, wenn Sie es wünschen, in einigen Minuten weiter.« Mit diesen Worten verschwand er schließlich ebenso schnell, wie er gekommen war – es hatte dieses Mal nur mehr den Eindruck einer Flucht.
Ein Assistent legte Anaïs’ Gewinn in einen goldenen Koffer, schloss sich selbst mit Handschellen daran an und stellte sich neben die alte Dame, die kaum Notiz von ihrem Gewinn nahm.
»Also …«, die lang gezogene Stimme von Lyz riss sie aus ihren Tagträumen. Sie schluckte.
»Also …«
»Das war … gar nicht so schlecht, oder?« Lyz grinste sie neckend an.
»Was?! Ich mein, also, gewiss, nur war da ja der Plan und …«
Lyz lachte über ihren verdutzten Gesichtsausdruck und stieß ihr in die Schulter.
»Natürlich meine ich den Plan. Was sollte ich denn sonst meinen?« Jetzt lag in ihrer Stimme etwas … Verführerisches? Sie traute sich kaum, dieses Wort zu benutzen. Dann fiel ihr siedend heiß etwas anderes ein.
»Die Karte! Hast du …?«
Auch Téo, der sich als weiterhin blasse Statue zu ihnen geschoben hatte, hatte seine Sprache wiedergefunden. »Bevor ihr irgendwas anderes sagt.« Seine dünne Stimme klang fast schon zu lustig. »Hat’s geklappt?«
Lyz starrte beide ihrer Freunde mit gespielter Empörung an. »Erstens: Glaubt ihr allen Ernstes, ich lasse mich von ein paar schönen Augen ablenken?« Sie zwinkerte Inez zu und wandte sich dann an Téo. »Zweitens: Hast du noch nie zwei Frauen sich küssen sehen?« Sie hielt triumphierend das Etui hoch.
»Unser Schoßhündchen hatte ja sichtlich Mühe, dich von mir loszureißen, Inez …«
Téo versteinerte wieder ein wenig mehr und winkte murmelnd ab – Inez vernahm nur »Hättet mich ja vorwarnen …« und »Ich wäre fast gestorben …«
Egal wie – sie hatten es geschafft.
Zhenferro riss sie glücklicherweise aus ihren Gedanken. Der Trinitriad war mit seinen Leibwachen zu ihr gekommen und lächelte. Er streckte ihr die Hand aus – dieses Mal ohne trinitriadische Hintergedanken.
»Señora Dante, Sie und Madame Lucille haben da etwas ganz Besonderes, wissen Sie das?« Inez schüttelte nur mit aufgerissenen Augen den Kopf, noch immer im Nebel ihrer Gedanken gefangen. Er lachte leise. »Mir hat unser kleines Spiel sehr gefallen.« Er wandte sich direkt an Lyz, der er ebenfalls die Hand reichte. Sie grinste – dieses typische Lyz-Grinsen.
»Zhenferro, es war mir eine Freude. Was werden Sie jetzt tun?« Er behielt sein mysteriöses Lächeln und zwinkerte ihr zu.
»Wir haben unsere eigenen Geschäfte im Sanctum Sins.«
Beide wussten, dass dies alles war, was sie aus ihm herausbekommen würden.
»Wenn Sie mir diesen einen Ratschlag erlauben … bleiben Sie beisammen. Eine wertvolle Sache, so eine Liebe …« Sein Blick bekam etwas Trauriges, bevor er sich wieder fing. »Und viel Glück bei Ihrem nächsten Spiel. Gewiss laufen wir uns noch einmal über den Weg.« Der Trinitriad nickte ein letztes Mal und verschwand schließlich hinter den gläsernen Türen. Montclaro hatte sich sofort verzogen, als sich die Gelegenheit geboten hatte.
Lyz bot ihr die Hand an und half ihr auf. »Steh auf, Geliebte … hey …« Sie hatte den Blick von Inez bemerkt und schaute jetzt besorgt zu ihr. »Alles in Ordnung?« Inez sah sie an, diese blauen Augen, und erlaubte sich für einen letzten Moment den Luxus der Verwirrtheit.
Es würde einen Augenblick geben, in dem sie in Ruhe darüber nachdenken, sich auf ihrem Bett hin und her wälzen und diesen Moment hundertmal in ihrem Kopf abspielen würde. Aber jetzt mussten sie sich wieder auf ihre Mission konzentrieren. Sie nickte nur und lächelte.
»Alles gut … aber du kannst echt überhaupt nicht küssen.«
Die gespielte Empörung von Lyz brachte sie wieder zum Lachen, und so gingen die beiden Freundinnen Arm in Arm zur Glastür, als sie die Stimme von Anaïs hörten.
»Esierra! Lucille!«
Sie drehte sich um. Die alte Frau schaute sie beide an – es lag eine Traurigkeit in ihrer Miene, die wehmütig schien. Dann stahl sich doch noch ein leises Lächeln in ihr Gesicht.
»Viel Glück. Die Nacht ist noch jung … gewiss laufen wir uns noch einmal über den Weg, vielleicht bei unserem nächsten Spiel?«
Viel Glück? Inez nickte nur höflich – und verließ dann mit Lyz das Sanctum.
Und merkte, wie ihre Gedanken wieder zu diesem Kuss wanderten.
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