Die Neonlinie an der Kante der Tür zog sich leise zusammen, um dann innezuhalten, fast so, als wollte sie den drei Dieben noch einen kurzen Moment des Nachdenkens gewähren. Es war in diesem Moment, dass sich Inez entschied.
Sie nickte Lyz nur kurz und und ignorierte, wie Téo einen überforderten Seufzer ausstieß und dann schließlich doch den beiden Mädchen folgte. Sie nickte Lyz nur kurz und und ignorierte, wie Téo einen überforderten Seufzer ausstieß und dann schließlich doch den beiden Mädchen und ihrem Plan folgte.
Er schlich sich schnellen Schrittes nach links und schob die goldene Kiste einen halben Meter vor, so dass man sich galant dahinter verstecken konnte.
Inez schob sich rechts in den Winkel des Raumes, wo sie nur zu sehen wäre, wenn der ungebetene Gast urplötzlich beschloss, sie die Architektur des Raumes genauer anzuschauen.
Lyz positionierte sich genau gegenüber und grinste sie an. Es war dieses Grinsen, dass sie seit Sandgruben und Schrammen kannte, seit Nächten, in denen sie Sternbilder nach sich selbst benannten und sich ausmalten, dass sie der Dolorea mal gehörig die Meinung sagen würde.
Téo würde gewiss irgendetwas zu einer Ironie des Schicksals sagen, aber dazu war auch später noch Zeit.
»Auf drei sprinte ich auf ihn zu und werf mich auf ihn“, hauchte Lyz, kaum hörbar. »Ich pinne ihn am Boden fest und einer schnappt sich das Fungerät, falls er eins hat.«
»Ich mach das,« flüsterte Inez.
»Ich, ähh … ich helf dir wenn nötig“ flüsterte Téo, und gab ihr einen Daumen nach oben, den Lyz mit einem Schnauben quittierte. „Hilf mir ihn zu fesseln, sobald er am Boden liegt, kapiert?“
Dann hielten sie die Luft an.
Die Tür fuhr nicht ruckartig auf, sondern in diesem gemessenen, höflichen Tempo, das Aufzüge in teuren Hotels hatten; erst ein Fingerbreit, dann ein größerer Spalt, schließlich ein Streifen Licht, der über den Boden kroch und an der Kante der Kiste ein kleines Dreieck schnitt. Dann glitten die Türen geräuschlos auf.
Ein Schuh trat zuerst heraus, ein guter Lederschuh, dann die Kante eines grauen Overalls, die flache Metallbox eines Werkzeugkoffers, ein Trageriemen quer über die Brust, und erst als der Mann mit dem zweiten Schritt den Gewichtspunkt nach vorn verlegte, sahen sie sein Gesicht - müde, älter als ihres, ein sauber rasierter Bartschatten, diese Art von Stirn, die zeigt, dass man die meiste Zeit des Tages an Dinge denkt, die kaputtgehen könnten.
Kein Kämpfer. Aber jemand, der harte Arbeit gewöhnt war.
Der Techniker hatte den Blick auf den Gang gerichtet, nicht auf die geräuschlosen Schatten rechts und links, die Inez und Lyz hießen. Sein rechter Zeigefinger lag, wohl aus alter Gewohnheit, am Clip seines Funkgeräts.
Dann sah er die Kiste. runzelte für den Bruchteil einer Sekunde die Stirn, machte - man sah es - mit der Zunge ein „Tsk“ hinter den Zähnen, wie jemand, der schon dreimal gesagt hat, dass man diese Dinger nicht mitten im Weg stehen lässt.
Seine Frustration erlaubte ihm nicht, die drohende Gefahr abzuwenden.
Lyz hob drei Finger, die sie nach und nach unten bog. Inez sah, wie Téo ihr hinter der Kiste einen gequälten Blick zuwarf und musste sich zusammenreißen, nicht laut loszulachen. Fast hätte sie ihren Einsatz verpasst. Dann war der letzte Finger unten.
»Jetzt,« flüsterte Lyz – und stieß sich von der Wand ab.
Mit einer irrwitzigen Geschwindigkeit traf ihre Schulter die Seite des Mannes und warf ihn mühelos zu Boden, fast als hätten sie dies genau einstudiert. Der Techniker machte den Ton, den alle machen, wenn sie fallen: ein kurzes, überraschtes »Ho«, mehr Luft als Stimme, und riss den Oberkörper hoch, stärker, als sie erwartet hatten.
Sein Werkzeugkoffer pendelte wie ein bleiernes Pendel und traf Lyz am Oberschenkel, nicht gefährlich, aber nah genug, dass ihr kurz die Luft entwich. Lyz fluchte halblaut, bekam den Ellbogen des Mannes in die Schläfe, sah Sterne und griff blind nach dem Gürtel des Overalls, um das Funkgerät zu finden.
Inez war sofort zur Stelle und packte den Mann an den Händen, drückte ihn zu Boden und verlagerte ihr gesamtes Gewicht auf ihn. Sie spürte wie die rechte Schulter des Mannes unter ihren Fingern hart wurde - er stemmte sich gegen sie, versuchte, jetzt wo er halbwegs verstanden hatte, dass er überfallen worden ist, dem Schlamassel zu entkommen. Er zappelte wild mit den Beinen und erwischte Inez schließlich unglücklich im Bauch. Sie keuchte und ließ ihn für einen kurzen Moment los.
Der Zeigefinger des Mannes suchte manisch das Funkgerät und erwischte schließlich mit mehr Glück als Verstand einen Knopf. Ein kratziges »Eins, hier-« war noch zu hören, bevor Lyz schon wieder oben war und die Hand des Mannes wegriss, das Funkgerät mit einer einzigen Bewegung auf den Boden knallte. Es knisterte zunächst und starb dann mit einem kurzen Aufjaulen, bevor es endgültig verstummte.
Das hätten wir schonmal, dachte sich Inez mit einer grimmigen Entschlossenheit, die von ihrem schmerzenden Bauch herrührte.
Der Mann buckelte und wälzte sich, wollte noch nicht aufgeben – und plötzlich bog sich sein linker Arm mit einer Kraft, die Inez unterschätzt hatte; sein Handrücken traf sie an der Schläfe und trieb ihr einen kurzen, scharfen Schmerz hinter die Augen. »Téo!« rief sie, mehr Reflex als dass sie es für eine gute Idee hielt.
Plötzlich kam ein grauer, hängender Lappen an ihr vorbeigeflogen und traf den Techniker am Hals, der röchelnd zu Boden ging und sich auf dem Boden wand. Téo selbst war überrascht von der Kraft, die er aufgebracht hatte, und rutschte auf dem Boden aus und gegen die Kiste, bevor er Halt fand.
»Hab ihn!« Lyz war schon da, rollte über den Rücken, kam in die Hocke, schnappte aus dem offenen Werkzeugkoffer das Erstbeste - kein Messer, keine Waffe, nur ein kurzer, massiver Schraubenschlüssel, und als der Mann die Hüfte noch einmal hochzog, traf sie ihn mit einem sauberen, seitlichen Schlag am Hinterkopf.
Der Techniker gab ein leises, fast schon beleidigtes Seufzen von sich und blieb am Boden liegen.
Stille.
Téo atmete schnell, stand auf, wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. »Das wollte ich nicht,« sagte er tonlos. »Das… genau das wollte ich nicht.«
Sie sahen den am Boden liegenden Mann an. Er atmete leicht, also würde er wohl überleben.
»Niemand wollte es,« murmelte Inez. „Aber besser er als wir.“
Die Kopfmerzen am nächsten Tag könnten auch von wo anders herrühren, oder?
Lyz nickte – eine geschäftige Miene im Gesicht. »Kabelbinder?«
»Seitentasche,« sagte Téo, als habe er die Taschen aller Overalls der Welt im Kopf. Sie wurden fündig; drei breite Binder, neu und stabil. Lyz zog die Arme des Mannes auf den Rücken, schnappte zu, ein Ratsch, ein zweiter, ein dritter: Handgelenke, Ellbogen, Knöchel. Téo zögerte beim Knebeln, stopfte dann allerdings doch einen – immerhin – sauberen Lappen in den Mund des Mannes.
»In die Kiste,« sagte Inez. Zusammen hoben sie den Mann hoch und legten ihn hinein. Die gedämmten Wände würden sein Stöhnen schlucken und irgendwann würde ihn schon jemand finden. Der Deckel schloss sich mit einem satten Metalllaut. Dann atmeten sie einen Moment durch.
Téo trat vor das Panel, das Zigarrenetui lag schon in seiner Hand. Sie alle hielten die Luft an – vielleicht war ihr Eintritt in den Technikbereich nur ein glücklicher Zufall gewesen? Doch nein, das Glück war ihnen auch hier hold:
Ein grüner Punkt, ein kurzes, höfliches »Ping«, und der Aufzug öffnete seine Türe, bot ihnen einen Blick in den schwarzen, schlichten Marmoraufzug, der überraschend breit war. Téo seufzte und schaute auf seine Uhr. Inez schaute ihn fragend an und der hob zunächst zwei, dann vier Finger an.
Das ging ja noch.
Die Fahrt nach unten verlief still. Alle leckten ihre Wunden oder dachten an die Gefahren, die unten auf sie warten würden. -1, -2, -3 … schließlich waren sie im untersten Geschoss des Casinos – dort, wo La Golgotha bereits auf sie wartete.
Die Türen glitten mit einem sanften Surren auf: Die Luft war kühler hier, tiefer, trockener, man merkte, dass ein Großteil der unteren Bereiche einfach in die Vidaombra hineingebaut wurde. Ein Flur, der breit genug für zwei Kisten nebeneinander war, lag vor ihnen. Die Wände in mattem Schwarz, in denen die Konturen ihrer Körper zu zitternden Schatten wurden.
Sie rollten die Kiste heraus, stellten sie an die Wand, öffneten den Deckel einen Spalt und hievten den Techniker auf den Boden, so dass er auf der Seite lag, den Kopf weg von der Kante, damit er atmen konnte. Lyz prüfte den Puls und nickte.
Téo zögerte, und sprach dann das aus, was sie alle insgeheim dachten.
»Sollen wir ihn-« Téo ließ den Satz hängen, ein makabres Komma in der Luft.
»-umbringen?« Lyz grinste. »Klar. Ein kurzer Gnadenstoß, Genickbruch, oder lieber ein Schraubenzieher in den Hals? Auf was hast du Lust?“ Téo erbleichte und schüttelte den Kopf. Sie schnaubte. »Ne, Téo. Wir sind nicht die Sangrada.«
Inez nickte dankbar. »Und wenn er aufwacht?«
»Dann erinnert er sich höchstens an den Schraubenzieher.«
Sie zogen den Mann weiter an die Wand, fixierten die Binder noch einmal. Téo legte ihm schließlich, fast entschuldigend, die Kapuze des Overalls ein Stück über die Stirn, als wäre das eine Decke, und Inez dachte, dass Téo wirklich im falschen Beruf gelandet war.
Der Flur endete in einer Tür, schlicht-schwarz, matt, mit einem schmalen Rahmen aus poliertem Messing, der das wenige Licht einfing. Als Téo das Etui anlegte, brummte die Mechanik, tiefer diesmal, und die Tür schwang kommentarlos ein.
Da waren sie also.
Der Raum war groß, so groß, dass ihre Schritte widerhallten. Viele goldene Kisten, ähnlich zu denen, die sie schon kannten, lagen verteilt vor massiven Tischen, auf denen einsame Jetons und Escodinar lagen. Es schien so, also ob an dieser Stelle Jetons und Edins getauscht und eingepackt wurden, um ihren Weg in das Casino zu finden.
Dann wurde ihr Blick von etwas angezogen.
In der Mitte - halb von Schatten, halb von einem feinen, goldenen Saum aus Deckenlicht umspielt - war ein Relief in den Boden eingearbeitet, das Inez sofort erkannte, obwohl sie es nur von den Bannern aus La Perdante kannte.
Das Wappen der Familie Dolorea.