



IN DER KISTE VERSTECKEN
Die Kiste, die Inez mit einem zugegebenermaßen immer noch skeptischen Blick betrachtete, schien ihr noch kleiner geworden zu sein. Selbst Lyz und sie hatten es sich schon sehr gemütlich gemacht, mit Téo zusammen hätten sie sich genauso gut übereinander stapeln können. Er bemerkte ihren Blick und beeilte sich zu erklären.
»Ich will da auch nicht unbedingt rein, aber es ist die sicherste Option. Wir fallen nicht auf, gehen nicht das Risiko ein, verhaftet oder umgebracht zu werden, und am Ende steigen wir einfach elegant aus der Kiste und fahren nach unten.«
Téo klang in etwa so überzeugend wie einer dieser Schrotthändler aus Révéran, die einem ständig Reliquien aus der Viadombra andrehen wollten, die wirklich und wahrhaftig Wunder vollbrachten. Hätte Téo die Karaffe des ersten Sands oder die Tagebücher von Miroel Tetz, dem Architekten der Clerarchie, angepriesen, es hätte perfekt gepasst.
»Und hocken dann da wie die Sardinen? Wenn wir überhaupt alle reinpassen?« Lyz stand schon links neben dem Fahrstuhl, bereit, ihre Fäuste auf die arme Seele niederregnen zu lassen, die gleich aus dem Fahrstuhl kommen würde. »Wenn du dich da unbedingt reinquetschen willst, fein. Aber ich bleib hier.«
Klack. Die Anzeige über dem Fahrstuhl schnippte eine Ziffer weiter. Für einen Moment war es so still, dass sie das Flackern der Neonröhren hören konnten.
»Sie hat Stauraum für Tagesumsätze«, zischte Téo, schon halb am Deckel, das Funkgerät unter dem Arm geklemmt. »Wenn wir die Knie einklappen und uns leicht versetzt-«
»Vergiss es, Téo.« Lyz stemmte die Hände in die Hüften. »Und wenn du nicht gleich mit dem Unsinn aufhörst, dann wird mein Knie sich ganz woanders hin versetzen-«
Inez hörte das Gezanke kaum und tastete mit der flachen Hand über das metallene »F« an der Kante. Die kleinen Flammen von Feuvigil züngelten im Relief. Stabiles Material. Sie musste an die beiden Waffenhändler Montclaro und Zhenferro denken, die sich bis auf den Tod nicht ausstehen konnten. Was würden sie wohl sagen, wenn sie wüssten, dass ihr merkwürdiges Trio, das noch vor einigen Minuten am Triptyque-Tisch saß, den größten Schatz des Casinos stehlen wollte? Wie auch immer, es musste jedenfalls eine Lösung her. Sie drehte sich zu ihren beiden Freunden um.
»Wir versuchen es mit der Kiste«, sagte sie trocken. »Téo hat schon recht. Es ist die sicherste Option.«
Téo war gerade dabei, das Funkgerät mit Klebeband an die Außenseite des Deckels zu friemeln, als er die Worte hörte und es beinahe fallen ließ. »Wirklich? Ich meine, sag ich doch …«, murmelte er und hob schnell den Deckel an, bevor irgendwer es sich anders überlegte. »Los jetzt.«
Klack.
Lyz schnaufte. »Großartig. Ich bin jetzt also offiziell zu einer Sardine degradiert worden. Einfach großartig.« Trotzdem kletterte sie hinein – zuerst ein Knie, die Beine, dann der Rest, geschmeidig wie jemand, der Luftschächte und uralte Gänge seit Jahren zum Zeitvertreib nutzte. »Und lass Inez zuerst rein, du legst dich schön an die Wand, klar?«
Inez fragte sich manchmal, ob die beiden sich wirklich stritten oder es mehr eine Art Hobby war, ein Zeitvertreib, wenn ihnen langweilig war.
Sie folgte, rutschte mit der Schulter an der gepolsterten Dämmung entlang und ließ sich von Lyz in die Kiste ziehen. »Sardine Zwei ist auf dem Weg«, murmelte sie und schob sich tiefer, bis ihre Knie hinter Lyz’ Fersen hingen und ihre Stirn fast den Deckel berührte. Es roch nach Metall und Kabeln, und darunter immer noch dieser Hauch von Lavendel und Rauch, der sich in ihrer Erinnerung festgesetzt hatte. Téo quetschte sich zuletzt hinein, atmete kurz hörbar durch die Zähne, und für zwei Sekunden lagen sie wirklich wie Sardinen: Rücken an Rücken, Gesicht an Haar, die Unordnung der Gliedmaßen ein einziges Wirrwarr, von dem niemand mehr wirklich sagen konnte, was zu wem gehörte.
Klack.
»Wer auch immer diese Entscheidung für gut befunden hat«, wisperte Lyz, »gehört bestraft.«
»Gab ja genug funktionierende Alternativen«, zischte Téo, seine Stimme dumpf und an der Wand kaum hörbar. Dann schloss er den Deckel.
Sofort fiel die Dunkelheit über sie hinab, machte das Gewirr aus Gliedmaßen, angestrengtem Atem und Metall perfekt. Für einen Moment hörten sie nur sich selbst, bemüht, sich nicht zu viel zu bewegen und gleichzeitig irgendwo ein Fünkchen Bequemlichkeit zu ergattern. Dann hörten sie – kaum vernehmbar – das Knacken des Funkgeräts.
Ein letztes Klack – und dann die Aufzugstüren, die sich öffneten. Inez merkte, wie sie den Atem anhielt.
Zunächst waren da Schritte. Einer, dann zwei, bevor sie aufhörten. Ein Koffer, der kurz anstieß. Dann war nichts mehr zu hören, nur das leise Fluchen von Lyz und der schwere Atem von Téo, sodass sie glaubte, das Funkgerät würde nicht mehr funktionieren, jemand hätte sie entdeckt, die Kameras wären gar nicht geloopt, sie würden verhaftet werden, ihren Tod durch die Hand der Sangrada finden.
»Ach, komm schon!«
Die Stimme eines Mannes, rau und genervt, die durch das Funkgerät so klang, als ob ein Schulleiter eine leidige Durchsage machen würde.
»Valeto hat schon wieder die Kiste vorm Fahrstuhl stehen lassen. Beim Herrn, ich schwör’s …«
Valeto, Valeto. Irgendwo hatte sie diesen Namen schon einmal gehört.
Die Stimme wurde lauter. »Wenn ich dich noch einmal suchen muss wegen so ’nem Ding, Valeto, dann schieb ich dir ’ne ganze Palette ins Büro. Und danach ganz woandershin.« Ein dumpfer Schlag an der Seite der Kiste; sie rollte zehn Zentimeter, ruckte, weil das eine Rad sich wieder beschwerte.
»Hör auf zu quietschen, du dummes Ding«, murmelte der Mann. »Sonst entsorg ich dich eigenhändig. Das wär doch was, oder? Zusammengepresst bei dem ganzen anderen Schrott.«
Lyz’ Fingernägel bohrten sich in Inez’ Handballen – so fest, dass es wehtat.
Für einige Sekunden herrschte Stille, bis das Funkgerät wieder knackte. Die Stimme des Mannes auf der anderen Seite hatte einen eigenartigen Ton angenommen.
»Hier stimmt doch was nicht …«
Niemand sagte etwas. Téo atmete nicht mehr schwer – wenn er überhaupt noch atmete –Lyz’ Hand fühlte sich eiskalt an, und selbst Inez wusste nicht, was sie jetzt noch sagen könnte. Ihr Schicksal würde sich in den wenigen Sekunden entscheiden, die vor ihnen lagen. Drei Entscheidungen, dachte sie. Jetzt gibt es genau drei Entscheidungen für die Stimme auf der anderen Seite.
Nummer 1: Ein unrühmliches Ende in der Müllpresse – zerquetscht zwischen Gold und Abfall, alles zertifiziert, alles stabiles Material.
Nummer 2: Der Deckel wird geöffnet und ihr kleiner, unbedeutender Raub endete so schnell, wie er begonnen hatte. Der Mann würde vermutlich einen Herzinfarkt bekommen, wenn er das zusammengeknäuelte Etwas in der Kiste sehen würde.
Nummer 3: Durch eine glückliche Fügung des Schicksals hatte die Stimme auf der anderen Seite einfach nur entdeckt, dass gleich schon Feierabend war und es demnach keinen Grund zur Panik gab.
Sie wollte nicht einmal über ihre Chancen nachdenken.
»Was machst du denn hier?«
Die Stimme war jetzt so laut, als ob der Mann direkt in das Funkgerät husten würde. Dann ein lautes Ratschen, das sie zusammenzucken ließ.
»Valeto, du absoluter Idiot … wenn das schon wieder so ein Scheißstreich …« Es schien jetzt so, als ob die Stimme direkt zu ihnen, direkt in das Funkgerät sprechen würde. Und dann fiel es Inez wie Schuppen von den Augen.
»… kannst du es glauben, Valeto hat schon wieder die verdammte Kiste vor dem Fahrstuhl stehen lassen! Ich habe so langsam keine Lust mehr, die immer wieder für ihn nach unten zu bringen … Das nächste Mal lass ich die einfach stehen.«
Die zwei Männer, die sie im Technikbereich fast entdeckt hatten. Valeto, der trottelige Kollege, der immer die Kisten stehen ließ. Die Art und Weise, wie Téo nach Luft schnappte, sagte ihr, dass auch er verstanden hatte.
Und dann geschah etwas ganz Wunderbares.
Die Kiste setzte sich in Bewegung.
Erst langsam, dann mit diesem gleichmäßigen Druck, den rollende Kisten nun mal hatten. Inez fühlte Lyz’ Schulterknochen an ihrer Wange und zählte die Sekunden zwischen dem Summen und dem Einrasten, als die Aufzugstür sich schloss. Das Metall vibrierte, ihr Magen machte diesen altbekannten Salto – und schon waren sie auf dem Weg nach unten.
Inez konnte ihr Glück kaum fassen. Irgendwie hatten sie es geschafft, dass das Sanctum Sins selbst ihnen wohlwollend dabei half, ausgeraubt zu werden.
»Ich fass es nicht«, hauchte Lyz in die Dunkelheit. »Ich. Fass. Es. Nicht.« Téo lachte nur, als ob auch er mit allem anderen gerechnet hatte.
Die Sekunden, die sie nach unten fuhren, fühlten sich unendlich lange an – doch dann befreite sie das nun erlösende Klack des Aufzugs, und ihr treues Gefährt, geschoben von ihrem vierten inoffiziellen Gruppenmitglied, setzte sich wieder in Bewegung. Der Mann stieß sie wieder an, und sie rollte erneut, diesmal über einen glatteren Boden; das Quietschen des Rads klang hier dumpfer, als würde der Raum Geräusche verschlucken.
Dann hielten sie. Erneut knackte das Funkgeräusch.
»Da bleibst du«, sagte der Mann, und seine Stimme bekam eine zufrieden-resignierte Farbe, die sich rasch in eine gepfiffene Melodie verwandelte und sich zunehmend entfernte. Ein erneutes Klack und die sich schließenden Türen verabschiedeten den Mann, der durch die fehlende Verbindung zum Funkgerät nicht mehr zu hören war.
Schließlich Stille, die sich eine Weile hinzog. Niemand wollte etwas sagen, ängstlich, den Zauber zu brechen, jemanden auf sie aufmerksam zu machen.
»Zehn«, murmelte Téo dann, so leise, als ob er ein Schlaflied singen würde. »Neun. Acht …«
Bei Drei drückte Inez die Hand gegen den Deckel und ließ frische und kalte Luft hineinströmen, nach der die drei gierig schnappten. Endlich.
Sie krochen heraus wie Menschen, die mehr schlecht als recht dem Tod entkommen waren – etwas zu schnell, etwas zu wild. Lyz stolperte, fing sich und stand dann mit beiden Händen in die Seiten gestemmt da, immer noch wacklig auf den Beinen. Téo tappte instinktiv nach seinem Etui und stopfte es zurück in die Jacke – es war ihre einzige Versicherung in diesen Hallen. Inez fiel einfach nur aus der Kiste und rieb sich ihre inzwischen komplett eingeschlafenen Beine, um wieder ein Gefühl zu bekommen. Elend sahen die drei aus, aber eigenartig selbstzufrieden – sie hatten es geschafft.
Für drei Herzschläge grinsten sie einander nur an wie Idioten. Dann lachte Lyz, kurz und unwirsch zugleich, und strich sich eine Strähne aus der Stirn.
»Also gut, Mastermind«, knurrte sie und verdrehte die Augen, als würde ihr das Wort auf der Zunge brennen. »Einmal. Einmal hast du recht gehabt. Einmal. Großartig. Nie wieder.«
Téo hob beide Hände, als wolle er den Frieden beschwören. »Das hat mir für ein Leben gereicht.«
»Uns allen«, korrigierte Inez, doch auch sie musste lachen. Sie zeigte auf das blank glitzernde Ungetüm, das beinahe unschuldig im Flur stand, und fühlte, wie das Adrenalin nachließ. Sie atmete durch, tief, einmal, zweimal. Das Zittern in den Fingern war noch da, aber jetzt war es erträglich.
Erst da sah sie sich um.
Ein Flur, der breit genug für zwei Kisten nebeneinander war, lag vor ihnen. Die Wände in mattem Schwarz, in denen die Konturen ihrer Körper zu zitternden Schatten wurden. Der Flur endete in einer Tür – schlicht, schwarz, matt – mit einem schmalen Rahmen aus poliertem Messing, der das wenige Licht einfing. Als Téo das Etui anlegte, brummte die Mechanik, tiefer diesmal, und die Tür schwang kommentarlos auf.
Da waren sie also.
Der Raum war groß, so groß, dass ihre Schritte widerhallten. Viele goldene Kisten, ähnlich zu denen, die sie schon kannten, lagen verteilt vor massiven Tischen, auf denen einsame Jetons und Escodinar lagen. Es schien so, als ob an dieser Stelle Jetons und Edins getauscht und eingepackt wurden, um ihren Weg in das Casino zu finden.
Dann wurde ihr Blick von etwas angezogen.
In der Mitte – halb von Schatten, halb von einem feinen, goldenen Saum aus Deckenlicht umspielt – war ein Relief in den Boden eingearbeitet, das Inez sofort erkannte, obwohl sie es nur von den Bannern aus La Perdante kannte.
Das Wappen der Familie Dolorea.
Die Kiste, die Inez mit einem zugegebenermaßen immer noch skeptischen Blick betrachtete, schien ihr noch kleiner geworden zu sein. Selbst Lyz und sie hatten es sich schon sehr gemütlich gemacht, mit Téo zusammen hätten sie sich genauso gut übereinander stapeln können. Er bemerkte ihren Blick und beeilte sich zu erklären.
»Ich will da auch nicht unbedingt rein, aber es ist die sicherste Option. Wir fallen nicht auf, gehen nicht das Risiko ein, verhaftet oder umgebracht zu werden, und am Ende steigen wir einfach elegant aus der Kiste und fahren nach unten.«
Téo klang in etwa so überzeugend wie einer dieser Schrotthändler aus Révéran, die einem ständig Reliquien aus der Viadombra andrehen wollten, die wirklich und wahrhaftig Wunder vollbrachten. Hätte Téo die Karaffe des ersten Sands oder die Tagebücher von Miroel Tetz, dem Architekten der Clerarchie, angepriesen, es hätte perfekt gepasst.
»Und hocken dann da wie die Sardinen? Wenn wir überhaupt alle reinpassen?« Lyz stand schon links neben dem Fahrstuhl, bereit, ihre Fäuste auf die arme Seele niederregnen zu lassen, die gleich aus dem Fahrstuhl kommen würde. »Wenn du dich da unbedingt reinquetschen willst, fein. Aber ich bleib hier.«
Klack. Die Anzeige über dem Fahrstuhl schnippte eine Ziffer weiter. Für einen Moment war es so still, dass sie das Flackern der Neonröhren hören konnten.
»Sie hat Stauraum für Tagesumsätze«, zischte Téo, schon halb am Deckel, das Funkgerät unter dem Arm geklemmt. »Wenn wir die Knie einklappen und uns leicht versetzt-«
»Vergiss es, Téo.« Lyz stemmte die Hände in die Hüften. »Und wenn du nicht gleich mit dem Unsinn aufhörst, dann wird mein Knie sich ganz woanders hin versetzen-«
Inez hörte das Gezanke kaum und tastete mit der flachen Hand über das metallene »F« an der Kante. Die kleinen Flammen von Feuvigil züngelten im Relief. Stabiles Material. Sie musste an die beiden Waffenhändler Montclaro und Zhenferro denken, die sich bis auf den Tod nicht ausstehen konnten. Was würden sie wohl sagen, wenn sie wüssten, dass ihr merkwürdiges Trio, das noch vor einigen Minuten am Triptyque-Tisch saß, den größten Schatz des Casinos stehlen wollte? Wie auch immer, es musste jedenfalls eine Lösung her. Sie drehte sich zu ihren beiden Freunden um.
»Wir versuchen es mit der Kiste«, sagte sie trocken. »Téo hat schon recht. Es ist die sicherste Option.«
Téo war gerade dabei, das Funkgerät mit Klebeband an die Außenseite des Deckels zu friemeln, als er die Worte hörte und es beinahe fallen ließ. »Wirklich? Ich meine, sag ich doch …«, murmelte er und hob schnell den Deckel an, bevor irgendwer es sich anders überlegte. »Los jetzt.«
Klack.
Lyz schnaufte. »Großartig. Ich bin jetzt also offiziell zu einer Sardine degradiert worden. Einfach großartig.« Trotzdem kletterte sie hinein – zuerst ein Knie, die Beine, dann der Rest, geschmeidig wie jemand, der Luftschächte und uralte Gänge seit Jahren zum Zeitvertreib nutzte. »Und lass Inez zuerst rein, du legst dich schön an die Wand, klar?«
Inez fragte sich manchmal, ob die beiden sich wirklich stritten oder es mehr eine Art Hobby war, ein Zeitvertreib, wenn ihnen langweilig war.
Sie folgte, rutschte mit der Schulter an der gepolsterten Dämmung entlang und ließ sich von Lyz in die Kiste ziehen. »Sardine Zwei ist auf dem Weg«, murmelte sie und schob sich tiefer, bis ihre Knie hinter Lyz’ Fersen hingen und ihre Stirn fast den Deckel berührte. Es roch nach Metall und Kabeln, und darunter immer noch dieser Hauch von Lavendel und Rauch, der sich in ihrer Erinnerung festgesetzt hatte. Téo quetschte sich zuletzt hinein, atmete kurz hörbar durch die Zähne, und für zwei Sekunden lagen sie wirklich wie Sardinen: Rücken an Rücken, Gesicht an Haar, die Unordnung der Gliedmaßen ein einziges Wirrwarr, von dem niemand mehr wirklich sagen konnte, was zu wem gehörte.
Klack.
»Wer auch immer diese Entscheidung für gut befunden hat«, wisperte Lyz, »gehört bestraft.«
»Gab ja genug funktionierende Alternativen«, zischte Téo, seine Stimme dumpf und an der Wand kaum hörbar. Dann schloss er den Deckel.
Sofort fiel die Dunkelheit über sie hinab, machte das Gewirr aus Gliedmaßen, angestrengtem Atem und Metall perfekt. Für einen Moment hörten sie nur sich selbst, bemüht, sich nicht zu viel zu bewegen und gleichzeitig irgendwo ein Fünkchen Bequemlichkeit zu ergattern. Dann hörten sie – kaum vernehmbar – das Knacken des Funkgeräts.
Ein letztes Klack – und dann die Aufzugstüren, die sich öffneten. Inez merkte, wie sie den Atem anhielt.
Zunächst waren da Schritte. Einer, dann zwei, bevor sie aufhörten. Ein Koffer, der kurz anstieß. Dann war nichts mehr zu hören, nur das leise Fluchen von Lyz und der schwere Atem von Téo, sodass sie glaubte, das Funkgerät würde nicht mehr funktionieren, jemand hätte sie entdeckt, die Kameras wären gar nicht geloopt, sie würden verhaftet werden, ihren Tod durch die Hand der Sangrada finden.
»Ach, komm schon!«
Die Stimme eines Mannes, rau und genervt, die durch das Funkgerät so klang, als ob ein Schulleiter eine leidige Durchsage machen würde.
»Valeto hat schon wieder die Kiste vorm Fahrstuhl stehen lassen. Beim Herrn, ich schwör’s …«
Valeto, Valeto. Irgendwo hatte sie diesen Namen schon einmal gehört.
Die Stimme wurde lauter. »Wenn ich dich noch einmal suchen muss wegen so ’nem Ding, Valeto, dann schieb ich dir ’ne ganze Palette ins Büro. Und danach ganz woandershin.« Ein dumpfer Schlag an der Seite der Kiste; sie rollte zehn Zentimeter, ruckte, weil das eine Rad sich wieder beschwerte.
»Hör auf zu quietschen, du dummes Ding«, murmelte der Mann. »Sonst entsorg ich dich eigenhändig. Das wär doch was, oder? Zusammengepresst bei dem ganzen anderen Schrott.«
Lyz’ Fingernägel bohrten sich in Inez’ Handballen – so fest, dass es wehtat.
Für einige Sekunden herrschte Stille, bis das Funkgerät wieder knackte. Die Stimme des Mannes auf der anderen Seite hatte einen eigenartigen Ton angenommen.
»Hier stimmt doch was nicht …«
Niemand sagte etwas. Téo atmete nicht mehr schwer – wenn er überhaupt noch atmete –Lyz’ Hand fühlte sich eiskalt an, und selbst Inez wusste nicht, was sie jetzt noch sagen könnte. Ihr Schicksal würde sich in den wenigen Sekunden entscheiden, die vor ihnen lagen. Drei Entscheidungen, dachte sie. Jetzt gibt es genau drei Entscheidungen für die Stimme auf der anderen Seite.
Nummer 1: Ein unrühmliches Ende in der Müllpresse – zerquetscht zwischen Gold und Abfall, alles zertifiziert, alles stabiles Material.
Nummer 2: Der Deckel wird geöffnet und ihr kleiner, unbedeutender Raub endete so schnell, wie er begonnen hatte. Der Mann würde vermutlich einen Herzinfarkt bekommen, wenn er das zusammengeknäuelte Etwas in der Kiste sehen würde.
Nummer 3: Durch eine glückliche Fügung des Schicksals hatte die Stimme auf der anderen Seite einfach nur entdeckt, dass gleich schon Feierabend war und es demnach keinen Grund zur Panik gab.
Sie wollte nicht einmal über ihre Chancen nachdenken.
»Was machst du denn hier?«
Die Stimme war jetzt so laut, als ob der Mann direkt in das Funkgerät husten würde. Dann ein lautes Ratschen, das sie zusammenzucken ließ.
»Valeto, du absoluter Idiot … wenn das schon wieder so ein Scheißstreich …« Es schien jetzt so, als ob die Stimme direkt zu ihnen, direkt in das Funkgerät sprechen würde. Und dann fiel es Inez wie Schuppen von den Augen.
»… kannst du es glauben, Valeto hat schon wieder die verdammte Kiste vor dem Fahrstuhl stehen lassen! Ich habe so langsam keine Lust mehr, die immer wieder für ihn nach unten zu bringen … Das nächste Mal lass ich die einfach stehen.«
Die zwei Männer, die sie im Technikbereich fast entdeckt hatten. Valeto, der trottelige Kollege, der immer die Kisten stehen ließ. Die Art und Weise, wie Téo nach Luft schnappte, sagte ihr, dass auch er verstanden hatte.
Und dann geschah etwas ganz Wunderbares.
Die Kiste setzte sich in Bewegung.
Erst langsam, dann mit diesem gleichmäßigen Druck, den rollende Kisten nun mal hatten. Inez fühlte Lyz’ Schulterknochen an ihrer Wange und zählte die Sekunden zwischen dem Summen und dem Einrasten, als die Aufzugstür sich schloss. Das Metall vibrierte, ihr Magen machte diesen altbekannten Salto – und schon waren sie auf dem Weg nach unten.
Inez konnte ihr Glück kaum fassen. Irgendwie hatten sie es geschafft, dass das Sanctum Sins selbst ihnen wohlwollend dabei half, ausgeraubt zu werden.
»Ich fass es nicht«, hauchte Lyz in die Dunkelheit. »Ich. Fass. Es. Nicht.« Téo lachte nur, als ob auch er mit allem anderen gerechnet hatte.
Die Sekunden, die sie nach unten fuhren, fühlten sich unendlich lange an – doch dann befreite sie das nun erlösende Klack des Aufzugs, und ihr treues Gefährt, geschoben von ihrem vierten inoffiziellen Gruppenmitglied, setzte sich wieder in Bewegung. Der Mann stieß sie wieder an, und sie rollte erneut, diesmal über einen glatteren Boden; das Quietschen des Rads klang hier dumpfer, als würde der Raum Geräusche verschlucken.
Dann hielten sie. Erneut knackte das Funkgeräusch.
»Da bleibst du«, sagte der Mann, und seine Stimme bekam eine zufrieden-resignierte Farbe, die sich rasch in eine gepfiffene Melodie verwandelte und sich zunehmend entfernte. Ein erneutes Klack und die sich schließenden Türen verabschiedeten den Mann, der durch die fehlende Verbindung zum Funkgerät nicht mehr zu hören war.
Schließlich Stille, die sich eine Weile hinzog. Niemand wollte etwas sagen, ängstlich, den Zauber zu brechen, jemanden auf sie aufmerksam zu machen.
»Zehn«, murmelte Téo dann, so leise, als ob er ein Schlaflied singen würde. »Neun. Acht …«
Bei Drei drückte Inez die Hand gegen den Deckel und ließ frische und kalte Luft hineinströmen, nach der die drei gierig schnappten. Endlich.
Sie krochen heraus wie Menschen, die mehr schlecht als recht dem Tod entkommen waren – etwas zu schnell, etwas zu wild. Lyz stolperte, fing sich und stand dann mit beiden Händen in die Seiten gestemmt da, immer noch wacklig auf den Beinen. Téo tappte instinktiv nach seinem Etui und stopfte es zurück in die Jacke – es war ihre einzige Versicherung in diesen Hallen. Inez fiel einfach nur aus der Kiste und rieb sich ihre inzwischen komplett eingeschlafenen Beine, um wieder ein Gefühl zu bekommen. Elend sahen die drei aus, aber eigenartig selbstzufrieden – sie hatten es geschafft.
Für drei Herzschläge grinsten sie einander nur an wie Idioten. Dann lachte Lyz, kurz und unwirsch zugleich, und strich sich eine Strähne aus der Stirn.
»Also gut, Mastermind«, knurrte sie und verdrehte die Augen, als würde ihr das Wort auf der Zunge brennen. »Einmal. Einmal hast du recht gehabt. Einmal. Großartig. Nie wieder.«
Téo hob beide Hände, als wolle er den Frieden beschwören. »Das hat mir für ein Leben gereicht.«
»Uns allen«, korrigierte Inez, doch auch sie musste lachen. Sie zeigte auf das blank glitzernde Ungetüm, das beinahe unschuldig im Flur stand, und fühlte, wie das Adrenalin nachließ. Sie atmete durch, tief, einmal, zweimal. Das Zittern in den Fingern war noch da, aber jetzt war es erträglich.
Erst da sah sie sich um.
Ein Flur, der breit genug für zwei Kisten nebeneinander war, lag vor ihnen. Die Wände in mattem Schwarz, in denen die Konturen ihrer Körper zu zitternden Schatten wurden. Der Flur endete in einer Tür – schlicht, schwarz, matt – mit einem schmalen Rahmen aus poliertem Messing, der das wenige Licht einfing. Als Téo das Etui anlegte, brummte die Mechanik, tiefer diesmal, und die Tür schwang kommentarlos auf.
Da waren sie also.
Der Raum war groß, so groß, dass ihre Schritte widerhallten. Viele goldene Kisten, ähnlich zu denen, die sie schon kannten, lagen verteilt vor massiven Tischen, auf denen einsame Jetons und Escodinar lagen. Es schien so, als ob an dieser Stelle Jetons und Edins getauscht und eingepackt wurden, um ihren Weg in das Casino zu finden.
Dann wurde ihr Blick von etwas angezogen.
In der Mitte – halb von Schatten, halb von einem feinen, goldenen Saum aus Deckenlicht umspielt – war ein Relief in den Boden eingearbeitet, das Inez sofort erkannte, obwohl sie es nur von den Bannern aus La Perdante kannte.
Das Wappen der Familie Dolorea.
in der kiste VERSTECKEN
in der kiste VERSTECKEN

Die Kiste, die Inez mit einem zugegebenermaßen immer noch skeptischen Blick betrachtete, schien ihr noch kleiner geworden zu sein. Selbst Lyz und sie hatten es sich schon sehr gemütlich gemacht, mit Téo zusammen hätten sie sich genauso gut übereinander stapeln können. Er bemerkte ihren Blick und beeilte sich zu erklären.
»Ich will da auch nicht unbedingt rein, aber es ist die sicherste Option. Wir fallen nicht auf, gehen nicht das Risiko ein, verhaftet oder umgebracht zu werden, und am Ende steigen wir einfach elegant aus der Kiste und fahren nach unten.«
Téo klang in etwa so überzeugend wie einer dieser Schrotthändler aus Révéran, die einem ständig Reliquien aus der Viadombra andrehen wollten, die wirklich und wahrhaftig Wunder vollbrachten. Hätte Téo die Karaffe des ersten Sands oder die Tagebücher von Miroel Tetz, dem Architekten der Clerarchie, angepriesen, es hätte perfekt gepasst.
»Und hocken dann da wie die Sardinen? Wenn wir überhaupt alle reinpassen?« Lyz stand schon links neben dem Fahrstuhl, bereit, ihre Fäuste auf die arme Seele niederregnen zu lassen, die gleich aus dem Fahrstuhl kommen würde. »Wenn du dich da unbedingt reinquetschen willst, fein. Aber ich bleib hier.«
Klack. Die Anzeige über dem Fahrstuhl schnippte eine Ziffer weiter. Für einen Moment war es so still, dass sie das Flackern der Neonröhren hören konnten.
»Sie hat Stauraum für Tagesumsätze«, zischte Téo, schon halb am Deckel, das Funkgerät unter dem Arm geklemmt. »Wenn wir die Knie einklappen und uns leicht vers-«
»Vergiss es, Téo.« Lyz stemmte die Hände in die Hüften. »Und wenn du nicht gleich mit dem Unsinn aufhörst, dann wird mein Knie sich ganz woanders hin vers-«
Inez hörte das Gezanke kaum und tastete mit der flachen Hand über das metallene »F« an der Kante. Die kleinen Flammen von Feuvigil züngelten im Relief. Stabiles Material. Sie musste an die beiden Waffenhändler Montclaro und Zhenferro denken, die sich bis auf den Tod nicht ausstehen konnten. Was würden sie wohl sagen, wenn sie wüssten, dass ihr merkwürdiges Trio, das noch vor einigen Minuten am Triptyque-Tisch saß, den größten Schatz des Casinos stehlen wollte? Wie auch immer, es musste jedenfalls eine Lösung her. Sie drehte sich zu ihren beiden Freunden um.
»Wir versuchen es mit der Kiste«, sagte sie trocken. »Téo hat schon recht. Es ist die sicherste Option.«
Téo war gerade dabei, das Funkgerät mit Klebeband an die Außenseite des Deckels zu friemeln, als er die Worte hörte und es beinahe fallen ließ. »Wirklich? Ich meine, sag ich doch …«, murmelte er und hob schnell den Deckel an, bevor irgendwer es sich anders überlegte. »Los jetzt.«
Klack.
Lyz schnaufte. »Großartig. Ich bin jetzt also offiziell zu einer Sardine degradiert worden. Einfach großartig.« Trotzdem kletterte sie hinein – zuerst ein Knie, die Beine, dann der Rest, geschmeidig wie jemand, der Luftschächte und uralte Gänge seit Jahren zum Zeitvertreib nutzte. »Und lass Inez zuerst rein, du legst dich schön an die Wand, klar?«
Inez fragte sich manchmal, ob die beiden sich wirklich stritten oder es mehr eine Art Hobby war, ein Zeitvertreib, wenn ihnen langweilig war.
Sie folgte, rutschte mit der Schulter an der gepolsterten Dämmung entlang und ließ sich von Lyz in die Kiste ziehen. »Sardine Zwei ist auf dem Weg«, murmelte sie und schob sich tiefer, bis ihre Knie hinter Lyz’ Fersen hingen und ihre Stirn fast den Deckel berührte. Es roch nach Metall und Kabeln, und darunter immer noch dieser Hauch von Lavendel und Rauch, der sich in ihrer Erinnerung festgesetzt hatte. Téo quetschte sich zuletzt hinein, atmete kurz hörbar durch die Zähne, und für zwei Sekunden lagen sie wirklich wie Sardinen: Rücken an Rücken, Gesicht an Haar, die Unordnung der Gliedmaßen ein einziges Wirrwarr, von dem niemand mehr wirklich sagen konnte, was zu wem gehörte.
Klack.
»Wer auch immer diese Entscheidung für gut befunden hat«, wisperte Lyz, »gehört bestraft.«
»Gab ja genug funktionierende Alternativen«, zischte Téo, seine Stimme dumpf und an der Wand kaum hörbar. Dann schloss er den Deckel.
Sofort fiel die Dunkelheit über sie hinab, machte das Gewirr aus Gliedmaßen, angestrengtem Atem und Metall perfekt. Für einen Moment hörten sie nur sich selbst, bemüht, sich nicht zu viel zu bewegen und gleichzeitig irgendwo ein Fünkchen Bequemlichkeit zu ergattern. Dann hörten sie – kaum vernehmbar – das Knacken des Funkgeräts.
Ein letztes Klack – und dann die Aufzugstüren, die sich öffneten. Inez merkte, wie sie den Atem anhielt.
Zunächst waren da Schritte. Einer, dann zwei, bevor sie aufhörten. Ein Koffer, der kurz anstieß. Dann war nichts mehr zu hören, nur das leise Fluchen von Lyz und der schwere Atem von Téo, sodass sie glaubte, das Funkgerät würde nicht mehr funktionieren, jemand hätte sie entdeckt, die Kameras wären gar nicht geloopt, sie würden verhaftet werden, ihren Tod durch die Hand der Sangrada finden.
»Ach, komm schon!«
Die Stimme eines Mannes, rau und genervt, die durch das Funkgerät so klang, als ob ein Schulleiter eine leidige Durchsage machen würde.
»Valeto hat schon wieder die Kiste vorm Fahrstuhl stehen lassen. Beim Herrn, ich schwör’s …«
Valeto, Valeto. Irgendwo hatte sie diesen Namen schon einmal gehört.
Die Stimme wurde lauter. »Wenn ich dich noch einmal suchen muss wegen so ’nem Ding, Valeto, dann schieb ich dir ’ne ganze Palette ins Büro. Und danach ganz woandershin.« Ein dumpfer Schlag an der Seite der Kiste; sie rollte zehn Zentimeter, ruckte, weil das eine Rad sich wieder beschwerte.
»Hör auf zu quietschen, du dummes Ding«, murmelte der Mann. »Sonst entsorg ich dich eigenhändig. Das wär doch was, oder? Zusammengepresst bei dem ganzen anderen Schrott.«
Lyz’ Fingernägel bohrten sich in Inez’ Handballen – so fest, dass es wehtat.
Für einige Sekunden herrschte Stille, bis das Funkgerät wieder knackte. Die Stimme des Mannes auf der anderen Seite hatte einen eigenartigen Ton angenommen.
»Hier stimmt doch was nicht …«
Niemand sagte etwas. Téo atmete nicht mehr schwer – wenn er überhaupt noch atmete –Lyz’ Hand fühlte sich eiskalt an, und selbst Inez wusste nicht, was sie jetzt noch sagen könnte. Ihr Schicksal würde sich in den wenigen Sekunden entscheiden, die vor ihnen lagen. Drei Entscheidungen, dachte sie. Jetzt gibt es genau drei Entscheidungen für die Stimme auf der anderen Seite.
Nummer 1: Ein unrühmliches Ende in der Müllpresse – zerquetscht zwischen Gold und Abfall, alles zertifiziert, alles stabiles Material.
Nummer 2: Der Deckel wird geöffnet und ihr kleiner, unbedeutender Raub endete so schnell, wie er begonnen hatte. Der Mann würde vermutlich einen Herzinfarkt bekommen, wenn er das zusammengeknäuelte Etwas in der Kiste sehen würde.
Nummer 3: Durch eine glückliche Fügung des Schicksals hatte die Stimme auf der anderen Seite einfach nur entdeckt, dass gleich schon Feierabend war und es demnach keinen Grund zur Panik gab.
Sie wollte nicht einmal über ihre Chancen nachdenken.
»Was machst du denn hier?« Die Stimme war jetzt so laut, als ob der Mann direkt in das Funkgerät husten würde. Dann ein lautes Ratschen, das sie zusammenzucken ließ.
»Valeto, du absoluter Idiot … wenn das schon wieder so ein Scheißstreich …« Es schien jetzt so, als ob die Stimme direkt zu ihnen, direkt in das Funkgerät sprechen würde. Und dann fiel es Inez wie Schuppen von den Augen.
»… kannst du es glauben, Valeto hat schon wieder die verdammte Kiste vor dem Fahrstuhl stehen lassen! Ich habe so langsam keine Lust mehr, die immer wieder für ihn nach unten zu bringen … Das nächste Mal lass ich die einfach stehen.«
Die zwei Männer, die sie im Technikbereich fast entdeckt hatten. Valeto, der trottelige Kollege, der immer die Kisten stehen ließ. Die Art und Weise, wie Téo nach Luft schnappte, sagte ihr, dass auch er verstanden hatte.
Und dann geschah etwas ganz Wunderbares.
Die Kiste setzte sich in Bewegung.
Erst langsam, dann mit diesem gleichmäßigen Druck, den rollende Kisten nun mal hatten. Inez fühlte Lyz’ Schulterknochen an ihrer Wange und zählte die Sekunden zwischen dem Summen und dem Einrasten, als die Aufzugstür sich schloss. Das Metall vibrierte, ihr Magen machte diesen altbekannten Salto – und schon waren sie auf dem Weg nach unten.
Inez konnte ihr Glück kaum fassen. Irgendwie hatten sie es geschafft, dass das Sanctum Sins selbst ihnen wohlwollend dabei half, ausgeraubt zu werden.
»Ich fass es nicht«, hauchte Lyz in die Dunkelheit. »Ich. Fass. Es. Nicht.« Téo lachte nur, als ob auch er mit allem anderen gerechnet hatte.
Die Sekunden, die sie nach unten fuhren, fühlten sich unendlich lange an – doch dann befreite sie das nun erlösende Klack des Aufzugs, und ihr treues Gefährt, geschoben von ihrem vierten inoffiziellen Gruppenmitglied, setzte sich wieder in Bewegung. Der Mann stieß sie wieder an, und sie rollte erneut, diesmal über einen glatteren Boden; das Quietschen des Rads klang hier dumpfer, als würde der Raum Geräusche verschlucken. Dann hielten sie. Erneut knackte das Funkgeräusch.
»Da bleibst du«, sagte der Mann, und seine Stimme bekam eine zufrieden-resignierte Farbe, die sich rasch in eine gepfiffene Melodie verwandelte und sich zunehmend entfernte. Ein erneutes Klack und die sich schließenden Türen verabschiedeten den Mann, der durch die fehlende Verbindung zum Funkgerät nicht mehr zu hören war.
Schließlich Stille, die sich eine Weile hinzog. Niemand wollte etwas sagen, ängstlich, den Zauber zu brechen, jemanden auf sie aufmerksam zu machen.
»Zehn«, murmelte Téo dann, so leise, als ob er ein Schlaflied singen würde. »Neun. Acht …«
Bei Drei drückte Inez die Hand gegen den Deckel und ließ frische und kalte Luft hineinströmen, nach der die drei gierig schnappten. Endlich.
Sie krochen heraus wie Menschen, die mehr schlecht als recht dem Tod entkommen waren – etwas zu schnell, etwas zu wild. Lyz stolperte, fing sich und stand dann mit beiden Händen in die Seiten gestemmt da, immer noch wacklig auf den Beinen. Téo tappte instinktiv nach seinem Etui und stopfte es zurück in die Jacke – es war ihre einzige Versicherung in diesen Hallen. Inez fiel einfach nur aus der Kiste und rieb sich ihre inzwischen komplett eingeschlafenen Beine, um wieder ein Gefühl zu bekommen. Elend sahen die drei aus, aber eigenartig selbstzufrieden – sie hatten es geschafft.
Für drei Herzschläge grinsten sie einander nur an wie Idioten. Dann lachte Lyz, kurz und unwirsch zugleich, und strich sich eine Strähne aus der Stirn.
»Also gut, Mastermind«, knurrte sie und verdrehte die Augen, als würde ihr das Wort auf der Zunge brennen. »Einmal. Einmal hast du recht gehabt. Einmal. Großartig. Nie wieder.«
Téo hob beide Hände, als wolle er den Frieden beschwören. »Das hat mir für ein Leben gereicht.«
»Uns allen«, korrigierte Inez, doch auch sie musste lachen. Sie zeigte auf das blank glitzernde Ungetüm, das beinahe unschuldig im Flur stand, und fühlte, wie das Adrenalin nachließ. Sie atmete durch, tief, einmal, zweimal. Das Zittern in den Fingern war noch da, aber jetzt war es erträglich.
Erst da sah sie sich um.
Ein Flur, der breit genug für zwei Kisten nebeneinander war, lag vor ihnen. Die Wände in mattem Schwarz, in denen die Konturen ihrer Körper zu zitternden Schatten wurden. Der Flur endete in einer Tür – schlicht, schwarz, matt – mit einem schmalen Rahmen aus poliertem Messing, der das wenige Licht einfing. Als Téo das Etui anlegte, brummte die Mechanik, tiefer diesmal, und die Tür schwang kommentarlos auf.
Da waren sie also.
Der Raum war groß, so groß, dass ihre Schritte widerhallten. Viele goldene Kisten, ähnlich zu denen, die sie schon kannten, lagen verteilt vor massiven Tischen, auf denen einsame Jetons und Escodinar lagen. Es schien so, als ob an dieser Stelle Jetons und Edins getauscht und eingepackt wurden, um ihren Weg in das Casino zu finden.
Dann wurde ihr Blick von etwas angezogen.
In der Mitte – halb von Schatten, halb von einem feinen, goldenen Saum aus Deckenlicht umspielt – war ein Relief in den Boden eingearbeitet, das Inez sofort erkannte, obwohl sie es nur von den Bannern aus La Perdante kannte.
Das Wappen der Familie Dolorea.

Die Kiste, die Inez mit einem zugegebenermaßen immer noch skeptischen Blick betrachtete, schien ihr noch kleiner geworden zu sein. Selbst Lyz und sie hatten es sich schon sehr gemütlich gemacht, mit Téo zusammen hätten sie sich genauso gut übereinander stapeln können. Er bemerkte ihren Blick und beeilte sich zu erklären.
»Ich will da auch nicht unbedingt rein, aber es ist die sicherste Option. Wir fallen nicht auf, gehen nicht das Risiko ein, verhaftet oder umgebracht zu werden, und am Ende steigen wir einfach elegant aus der Kiste und fahren nach unten.«
Téo klang in etwa so überzeugend wie einer dieser Schrotthändler aus Révéran, die einem ständig Reliquien aus der Viadombra andrehen wollten, die wirklich und wahrhaftig Wunder vollbrachten. Hätte Téo die Karaffe des ersten Sands oder die Tagebücher von Miroel Tetz, dem Architekten der Clerarchie, angepriesen, es hätte perfekt gepasst.
»Und hocken dann da wie die Sardinen? Wenn wir überhaupt alle reinpassen?« Lyz stand schon links neben dem Fahrstuhl, bereit, ihre Fäuste auf die arme Seele niederregnen zu lassen, die gleich aus dem Fahrstuhl kommen würde. »Wenn du dich da unbedingt reinquetschen willst, fein. Aber ich bleib hier.«
Klack. Die Anzeige über dem Fahrstuhl schnippte eine Ziffer weiter. Für einen Moment war es so still, dass sie das Flackern der Neonröhren hören konnten.
»Sie hat Stauraum für Tagesumsätze«, zischte Téo, schon halb am Deckel, das Funkgerät unter dem Arm geklemmt. »Wenn wir die Knie einklappen und uns leicht vers-«
»Vergiss es, Téo.« Lyz stemmte die Hände in die Hüften. »Und wenn du nicht gleich mit dem Unsinn aufhörst, dann wird mein Knie sich ganz woanders hin vers-«
Inez hörte das Gezanke kaum und tastete mit der flachen Hand über das metallene »F« an der Kante. Die kleinen Flammen von Feuvigil züngelten im Relief. Stabiles Material. Sie musste an die beiden Waffenhändler Montclaro und Zhenferro denken, die sich bis auf den Tod nicht ausstehen konnten. Was würden sie wohl sagen, wenn sie wüssten, dass ihr merkwürdiges Trio, das noch vor einigen Minuten am Triptyque-Tisch saß, den größten Schatz des Casinos stehlen wollte? Wie auch immer, es musste jedenfalls eine Lösung her. Sie drehte sich zu ihren beiden Freunden um.
»Wir versuchen es mit der Kiste«, sagte sie trocken. »Téo hat schon recht. Es ist die sicherste Option.«
Téo war gerade dabei, das Funkgerät mit Klebeband an die Außenseite des Deckels zu friemeln, als er die Worte hörte und es beinahe fallen ließ. »Wirklich? Ich meine, sag ich doch …«, murmelte er und hob schnell den Deckel an, bevor irgendwer es sich anders überlegte. »Los jetzt.«
Klack.
Lyz schnaufte. »Großartig. Ich bin jetzt also offiziell zu einer Sardine degradiert worden. Einfach großartig.« Trotzdem kletterte sie hinein – zuerst ein Knie, die Beine, dann der Rest, geschmeidig wie jemand, der Luftschächte und uralte Gänge seit Jahren zum Zeitvertreib nutzte. »Und lass Inez zuerst rein, du legst dich schön an die Wand, klar?«
Inez fragte sich manchmal, ob die beiden sich wirklich stritten oder es mehr eine Art Hobby war, ein Zeitvertreib, wenn ihnen langweilig war.
Sie folgte, rutschte mit der Schulter an der gepolsterten Dämmung entlang und ließ sich von Lyz in die Kiste ziehen. »Sardine Zwei ist auf dem Weg«, murmelte sie und schob sich tiefer, bis ihre Knie hinter Lyz’ Fersen hingen und ihre Stirn fast den Deckel berührte. Es roch nach Metall und Kabeln, und darunter immer noch dieser Hauch von Lavendel und Rauch, der sich in ihrer Erinnerung festgesetzt hatte. Téo quetschte sich zuletzt hinein, atmete kurz hörbar durch die Zähne, und für zwei Sekunden lagen sie wirklich wie Sardinen: Rücken an Rücken, Gesicht an Haar, die Unordnung der Gliedmaßen ein einziges Wirrwarr, von dem niemand mehr wirklich sagen konnte, was zu wem gehörte.
Klack.
»Wer auch immer diese Entscheidung für gut befunden hat«, wisperte Lyz, »gehört bestraft.«
»Gab ja genug funktionierende Alternativen«, zischte Téo, seine Stimme dumpf und an der Wand kaum hörbar. Dann schloss er den Deckel.
Sofort fiel die Dunkelheit über sie hinab, machte das Gewirr aus Gliedmaßen, angestrengtem Atem und Metall perfekt. Für einen Moment hörten sie nur sich selbst, bemüht, sich nicht zu viel zu bewegen und gleichzeitig irgendwo ein Fünkchen Bequemlichkeit zu ergattern. Dann hörten sie – kaum vernehmbar – das Knacken des Funkgeräts.
Ein letztes Klack – und dann die Aufzugstüren, die sich öffneten. Inez merkte, wie sie den Atem anhielt.
Zunächst waren da Schritte. Einer, dann zwei, bevor sie aufhörten. Ein Koffer, der kurz anstieß. Dann war nichts mehr zu hören, nur das leise Fluchen von Lyz und der schwere Atem von Téo, sodass sie glaubte, das Funkgerät würde nicht mehr funktionieren, jemand hätte sie entdeckt, die Kameras wären gar nicht geloopt, sie würden verhaftet werden, ihren Tod durch die Hand der Sangrada finden.
»Ach, komm schon!«
Die Stimme eines Mannes, rau und genervt, die durch das Funkgerät so klang, als ob ein Schulleiter eine leidige Durchsage machen würde.
»Valeto hat schon wieder die Kiste vorm Fahrstuhl stehen lassen. Beim Herrn, ich schwör’s …«
Valeto, Valeto. Irgendwo hatte sie diesen Namen schon einmal gehört.
Die Stimme wurde lauter. »Wenn ich dich noch einmal suchen muss wegen so ’nem Ding, Valeto, dann schieb ich dir ’ne ganze Palette ins Büro. Und danach ganz woandershin.« Ein dumpfer Schlag an der Seite der Kiste; sie rollte zehn Zentimeter, ruckte, weil das eine Rad sich wieder beschwerte.
»Hör auf zu quietschen, du dummes Ding«, murmelte der Mann. »Sonst entsorg ich dich eigenhändig. Das wär doch was, oder? Zusammengepresst bei dem ganzen anderen Schrott.«
Lyz’ Fingernägel bohrten sich in Inez’ Handballen – so fest, dass es wehtat.
Für einige Sekunden herrschte Stille, bis das Funkgerät wieder knackte. Die Stimme des Mannes auf der anderen Seite hatte einen eigenartigen Ton angenommen.
»Hier stimmt doch was nicht …«
Niemand sagte etwas. Téo atmete nicht mehr schwer – wenn er überhaupt noch atmete –Lyz’ Hand fühlte sich eiskalt an, und selbst Inez wusste nicht, was sie jetzt noch sagen könnte. Ihr Schicksal würde sich in den wenigen Sekunden entscheiden, die vor ihnen lagen. Drei Entscheidungen, dachte sie. Jetzt gibt es genau drei Entscheidungen für die Stimme auf der anderen Seite.
Nummer 1: Ein unrühmliches Ende in der Müllpresse – zerquetscht zwischen Gold und Abfall, alles zertifiziert, alles stabiles Material.
Nummer 2: Der Deckel wird geöffnet und ihr kleiner, unbedeutender Raub endete so schnell, wie er begonnen hatte. Der Mann würde vermutlich einen Herzinfarkt bekommen, wenn er das zusammengeknäuelte Etwas in der Kiste sehen würde.
Nummer 3: Durch eine glückliche Fügung des Schicksals hatte die Stimme auf der anderen Seite einfach nur entdeckt, dass gleich schon Feierabend war und es demnach keinen Grund zur Panik gab.
Sie wollte nicht einmal über ihre Chancen nachdenken.
»Was machst du denn hier?« Die Stimme war jetzt so laut, als ob der Mann direkt in das Funkgerät husten würde. Dann ein lautes Ratschen, das sie zusammenzucken ließ.
»Valeto, du absoluter Idiot … wenn das schon wieder so ein Scheißstreich …« Es schien jetzt so, als ob die Stimme direkt zu ihnen, direkt in das Funkgerät sprechen würde. Und dann fiel es Inez wie Schuppen von den Augen.
»… kannst du es glauben, Valeto hat schon wieder die verdammte Kiste vor dem Fahrstuhl stehen lassen! Ich habe so langsam keine Lust mehr, die immer wieder für ihn nach unten zu bringen … Das nächste Mal lass ich die einfach stehen.«
Die zwei Männer, die sie im Technikbereich fast entdeckt hatten. Valeto, der trottelige Kollege, der immer die Kisten stehen ließ. Die Art und Weise, wie Téo nach Luft schnappte, sagte ihr, dass auch er verstanden hatte.
Und dann geschah etwas ganz Wunderbares.
Die Kiste setzte sich in Bewegung.
Erst langsam, dann mit diesem gleichmäßigen Druck, den rollende Kisten nun mal hatten. Inez fühlte Lyz’ Schulterknochen an ihrer Wange und zählte die Sekunden zwischen dem Summen und dem Einrasten, als die Aufzugstür sich schloss. Das Metall vibrierte, ihr Magen machte diesen altbekannten Salto – und schon waren sie auf dem Weg nach unten.
Inez konnte ihr Glück kaum fassen. Irgendwie hatten sie es geschafft, dass das Sanctum Sins selbst ihnen wohlwollend dabei half, ausgeraubt zu werden.
»Ich fass es nicht«, hauchte Lyz in die Dunkelheit. »Ich. Fass. Es. Nicht.« Téo lachte nur, als ob auch er mit allem anderen gerechnet hatte.
Die Sekunden, die sie nach unten fuhren, fühlten sich unendlich lange an – doch dann befreite sie das nun erlösende Klack des Aufzugs, und ihr treues Gefährt, geschoben von ihrem vierten inoffiziellen Gruppenmitglied, setzte sich wieder in Bewegung. Der Mann stieß sie wieder an, und sie rollte erneut, diesmal über einen glatteren Boden; das Quietschen des Rads klang hier dumpfer, als würde der Raum Geräusche verschlucken. Dann hielten sie. Erneut knackte das Funkgeräusch.
»Da bleibst du«, sagte der Mann, und seine Stimme bekam eine zufrieden-resignierte Farbe, die sich rasch in eine gepfiffene Melodie verwandelte und sich zunehmend entfernte. Ein erneutes Klack und die sich schließenden Türen verabschiedeten den Mann, der durch die fehlende Verbindung zum Funkgerät nicht mehr zu hören war.
Schließlich Stille, die sich eine Weile hinzog. Niemand wollte etwas sagen, ängstlich, den Zauber zu brechen, jemanden auf sie aufmerksam zu machen.
»Zehn«, murmelte Téo dann, so leise, als ob er ein Schlaflied singen würde. »Neun. Acht …«
Bei Drei drückte Inez die Hand gegen den Deckel und ließ frische und kalte Luft hineinströmen, nach der die drei gierig schnappten. Endlich.
Sie krochen heraus wie Menschen, die mehr schlecht als recht dem Tod entkommen waren – etwas zu schnell, etwas zu wild. Lyz stolperte, fing sich und stand dann mit beiden Händen in die Seiten gestemmt da, immer noch wacklig auf den Beinen. Téo tappte instinktiv nach seinem Etui und stopfte es zurück in die Jacke – es war ihre einzige Versicherung in diesen Hallen. Inez fiel einfach nur aus der Kiste und rieb sich ihre inzwischen komplett eingeschlafenen Beine, um wieder ein Gefühl zu bekommen. Elend sahen die drei aus, aber eigenartig selbstzufrieden – sie hatten es geschafft.
Für drei Herzschläge grinsten sie einander nur an wie Idioten. Dann lachte Lyz, kurz und unwirsch zugleich, und strich sich eine Strähne aus der Stirn.
»Also gut, Mastermind«, knurrte sie und verdrehte die Augen, als würde ihr das Wort auf der Zunge brennen. »Einmal. Einmal hast du recht gehabt. Einmal. Großartig. Nie wieder.«
Téo hob beide Hände, als wolle er den Frieden beschwören. »Das hat mir für ein Leben gereicht.«
»Uns allen«, korrigierte Inez, doch auch sie musste lachen. Sie zeigte auf das blank glitzernde Ungetüm, das beinahe unschuldig im Flur stand, und fühlte, wie das Adrenalin nachließ. Sie atmete durch, tief, einmal, zweimal. Das Zittern in den Fingern war noch da, aber jetzt war es erträglich.
Erst da sah sie sich um.
Ein Flur, der breit genug für zwei Kisten nebeneinander war, lag vor ihnen. Die Wände in mattem Schwarz, in denen die Konturen ihrer Körper zu zitternden Schatten wurden. Der Flur endete in einer Tür – schlicht, schwarz, matt – mit einem schmalen Rahmen aus poliertem Messing, der das wenige Licht einfing. Als Téo das Etui anlegte, brummte die Mechanik, tiefer diesmal, und die Tür schwang kommentarlos auf.
Da waren sie also.
Der Raum war groß, so groß, dass ihre Schritte widerhallten. Viele goldene Kisten, ähnlich zu denen, die sie schon kannten, lagen verteilt vor massiven Tischen, auf denen einsame Jetons und Escodinar lagen. Es schien so, als ob an dieser Stelle Jetons und Edins getauscht und eingepackt wurden, um ihren Weg in das Casino zu finden.
Dann wurde ihr Blick von etwas angezogen.
In der Mitte – halb von Schatten, halb von einem feinen, goldenen Saum aus Deckenlicht umspielt – war ein Relief in den Boden eingearbeitet, das Inez sofort erkannte, obwohl sie es nur von den Bannern aus La Perdante kannte.
Das Wappen der Familie Dolorea.

Die Kiste, die Inez mit einem zugegebenermaßen immer noch skeptischen Blick betrachtete, schien ihr noch kleiner geworden zu sein. Selbst Lyz und sie hatten es sich schon sehr gemütlich gemacht, mit Téo zusammen hätten sie sich genauso gut übereinander stapeln können. Er bemerkte ihren Blick und beeilte sich zu erklären.
»Ich will da auch nicht unbedingt rein, aber es ist die sicherste Option. Wir fallen nicht auf, gehen nicht das Risiko ein, verhaftet oder umgebracht zu werden, und am Ende steigen wir einfach elegant aus der Kiste und fahren nach unten.«
Téo klang in etwa so überzeugend wie einer dieser Schrotthändler aus Révéran, die einem ständig Reliquien aus der Viadombra andrehen wollten, die wirklich und wahrhaftig Wunder vollbrachten. Hätte Téo die Karaffe des ersten Sands oder die Tagebücher von Miroel Tetz, dem Architekten der Clerarchie, angepriesen, es hätte perfekt gepasst.
»Und hocken dann da wie die Sardinen? Wenn wir überhaupt alle reinpassen?« Lyz stand schon links neben dem Fahrstuhl, bereit, ihre Fäuste auf die arme Seele niederregnen zu lassen, die gleich aus dem Fahrstuhl kommen würde. »Wenn du dich da unbedingt reinquetschen willst, fein. Aber ich bleib hier.«
Klack. Die Anzeige über dem Fahrstuhl schnippte eine Ziffer weiter. Für einen Moment war es so still, dass sie das Flackern der Neonröhren hören konnten.
»Sie hat Stauraum für Tagesumsätze«, zischte Téo, schon halb am Deckel, das Funkgerät unter dem Arm geklemmt. »Wenn wir die Knie einklappen und uns leicht vers-«
»Vergiss es, Téo.« Lyz stemmte die Hände in die Hüften. »Und wenn du nicht gleich mit dem Unsinn aufhörst, dann wird mein Knie sich ganz woanders hin vers-«
Inez hörte das Gezanke kaum und tastete mit der flachen Hand über das metallene »F« an der Kante. Die kleinen Flammen von Feuvigil züngelten im Relief. Stabiles Material. Sie musste an die beiden Waffenhändler Montclaro und Zhenferro denken, die sich bis auf den Tod nicht ausstehen konnten. Was würden sie wohl sagen, wenn sie wüssten, dass ihr merkwürdiges Trio, das noch vor einigen Minuten am Triptyque-Tisch saß, den größten Schatz des Casinos stehlen wollte? Wie auch immer, es musste jedenfalls eine Lösung her. Sie drehte sich zu ihren beiden Freunden um.
»Wir versuchen es mit der Kiste«, sagte sie trocken. »Téo hat schon recht. Es ist die sicherste Option.«
Téo war gerade dabei, das Funkgerät mit Klebeband an die Außenseite des Deckels zu friemeln, als er die Worte hörte und es beinahe fallen ließ. »Wirklich? Ich meine, sag ich doch …«, murmelte er und hob schnell den Deckel an, bevor irgendwer es sich anders überlegte. »Los jetzt.«
Klack.
Lyz schnaufte. »Großartig. Ich bin jetzt also offiziell zu einer Sardine degradiert worden. Einfach großartig.« Trotzdem kletterte sie hinein – zuerst ein Knie, die Beine, dann der Rest, geschmeidig wie jemand, der Luftschächte und uralte Gänge seit Jahren zum Zeitvertreib nutzte. »Und lass Inez zuerst rein, du legst dich schön an die Wand, klar?«
Inez fragte sich manchmal, ob die beiden sich wirklich stritten oder es mehr eine Art Hobby war, ein Zeitvertreib, wenn ihnen langweilig war.
Sie folgte, rutschte mit der Schulter an der gepolsterten Dämmung entlang und ließ sich von Lyz in die Kiste ziehen. »Sardine Zwei ist auf dem Weg«, murmelte sie und schob sich tiefer, bis ihre Knie hinter Lyz’ Fersen hingen und ihre Stirn fast den Deckel berührte. Es roch nach Metall und Kabeln, und darunter immer noch dieser Hauch von Lavendel und Rauch, der sich in ihrer Erinnerung festgesetzt hatte. Téo quetschte sich zuletzt hinein, atmete kurz hörbar durch die Zähne, und für zwei Sekunden lagen sie wirklich wie Sardinen: Rücken an Rücken, Gesicht an Haar, die Unordnung der Gliedmaßen ein einziges Wirrwarr, von dem niemand mehr wirklich sagen konnte, was zu wem gehörte.
Klack.
»Wer auch immer diese Entscheidung für gut befunden hat«, wisperte Lyz, »gehört bestraft.«
»Gab ja genug funktionierende Alternativen«, zischte Téo, seine Stimme dumpf und an der Wand kaum hörbar. Dann schloss er den Deckel.
Sofort fiel die Dunkelheit über sie hinab, machte das Gewirr aus Gliedmaßen, angestrengtem Atem und Metall perfekt. Für einen Moment hörten sie nur sich selbst, bemüht, sich nicht zu viel zu bewegen und gleichzeitig irgendwo ein Fünkchen Bequemlichkeit zu ergattern. Dann hörten sie – kaum vernehmbar – das Knacken des Funkgeräts.
Ein letztes Klack – und dann die Aufzugstüren, die sich öffneten. Inez merkte, wie sie den Atem anhielt.
Zunächst waren da Schritte. Einer, dann zwei, bevor sie aufhörten. Ein Koffer, der kurz anstieß. Dann war nichts mehr zu hören, nur das leise Fluchen von Lyz und der schwere Atem von Téo, sodass sie glaubte, das Funkgerät würde nicht mehr funktionieren, jemand hätte sie entdeckt, die Kameras wären gar nicht geloopt, sie würden verhaftet werden, ihren Tod durch die Hand der Sangrada finden.
»Ach, komm schon!«
Die Stimme eines Mannes, rau und genervt, die durch das Funkgerät so klang, als ob ein Schulleiter eine leidige Durchsage machen würde.
»Valeto hat schon wieder die Kiste vorm Fahrstuhl stehen lassen. Beim Herrn, ich schwör’s …«
Valeto, Valeto. Irgendwo hatte sie diesen Namen schon einmal gehört.
Die Stimme wurde lauter. »Wenn ich dich noch einmal suchen muss wegen so ’nem Ding, Valeto, dann schieb ich dir ’ne ganze Palette ins Büro. Und danach ganz woandershin.« Ein dumpfer Schlag an der Seite der Kiste; sie rollte zehn Zentimeter, ruckte, weil das eine Rad sich wieder beschwerte.
»Hör auf zu quietschen, du dummes Ding«, murmelte der Mann. »Sonst entsorg ich dich eigenhändig. Das wär doch was, oder? Zusammengepresst bei dem ganzen anderen Schrott.«
Lyz’ Fingernägel bohrten sich in Inez’ Handballen – so fest, dass es wehtat.
Für einige Sekunden herrschte Stille, bis das Funkgerät wieder knackte. Die Stimme des Mannes auf der anderen Seite hatte einen eigenartigen Ton angenommen.
»Hier stimmt doch was nicht …«
Niemand sagte etwas. Téo atmete nicht mehr schwer – wenn er überhaupt noch atmete –Lyz’ Hand fühlte sich eiskalt an, und selbst Inez wusste nicht, was sie jetzt noch sagen könnte. Ihr Schicksal würde sich in den wenigen Sekunden entscheiden, die vor ihnen lagen. Drei Entscheidungen, dachte sie. Jetzt gibt es genau drei Entscheidungen für die Stimme auf der anderen Seite.
Nummer 1: Ein unrühmliches Ende in der Müllpresse – zerquetscht zwischen Gold und Abfall, alles zertifiziert, alles stabiles Material.
Nummer 2: Der Deckel wird geöffnet und ihr kleiner, unbedeutender Raub endete so schnell, wie er begonnen hatte. Der Mann würde vermutlich einen Herzinfarkt bekommen, wenn er das zusammengeknäuelte Etwas in der Kiste sehen würde.
Nummer 3: Durch eine glückliche Fügung des Schicksals hatte die Stimme auf der anderen Seite einfach nur entdeckt, dass gleich schon Feierabend war und es demnach keinen Grund zur Panik gab.
Sie wollte nicht einmal über ihre Chancen nachdenken.
»Was machst du denn hier?« Die Stimme war jetzt so laut, als ob der Mann direkt in das Funkgerät husten würde. Dann ein lautes Ratschen, das sie zusammenzucken ließ.
»Valeto, du absoluter Idiot … wenn das schon wieder so ein Scheißstreich …« Es schien jetzt so, als ob die Stimme direkt zu ihnen, direkt in das Funkgerät sprechen würde. Und dann fiel es Inez wie Schuppen von den Augen.
»… kannst du es glauben, Valeto hat schon wieder die verdammte Kiste vor dem Fahrstuhl stehen lassen! Ich habe so langsam keine Lust mehr, die immer wieder für ihn nach unten zu bringen … Das nächste Mal lass ich die einfach stehen.«
Die zwei Männer, die sie im Technikbereich fast entdeckt hatten. Valeto, der trottelige Kollege, der immer die Kisten stehen ließ. Die Art und Weise, wie Téo nach Luft schnappte, sagte ihr, dass auch er verstanden hatte.
Und dann geschah etwas ganz Wunderbares.
Die Kiste setzte sich in Bewegung.
Erst langsam, dann mit diesem gleichmäßigen Druck, den rollende Kisten nun mal hatten. Inez fühlte Lyz’ Schulterknochen an ihrer Wange und zählte die Sekunden zwischen dem Summen und dem Einrasten, als die Aufzugstür sich schloss. Das Metall vibrierte, ihr Magen machte diesen altbekannten Salto – und schon waren sie auf dem Weg nach unten.
Inez konnte ihr Glück kaum fassen. Irgendwie hatten sie es geschafft, dass das Sanctum Sins selbst ihnen wohlwollend dabei half, ausgeraubt zu werden.
»Ich fass es nicht«, hauchte Lyz in die Dunkelheit. »Ich. Fass. Es. Nicht.« Téo lachte nur, als ob auch er mit allem anderen gerechnet hatte.
Die Sekunden, die sie nach unten fuhren, fühlten sich unendlich lange an – doch dann befreite sie das nun erlösende Klack des Aufzugs, und ihr treues Gefährt, geschoben von ihrem vierten inoffiziellen Gruppenmitglied, setzte sich wieder in Bewegung. Der Mann stieß sie wieder an, und sie rollte erneut, diesmal über einen glatteren Boden; das Quietschen des Rads klang hier dumpfer, als würde der Raum Geräusche verschlucken. Dann hielten sie. Erneut knackte das Funkgeräusch.
»Da bleibst du«, sagte der Mann, und seine Stimme bekam eine zufrieden-resignierte Farbe, die sich rasch in eine gepfiffene Melodie verwandelte und sich zunehmend entfernte. Ein erneutes Klack und die sich schließenden Türen verabschiedeten den Mann, der durch die fehlende Verbindung zum Funkgerät nicht mehr zu hören war.
Schließlich Stille, die sich eine Weile hinzog. Niemand wollte etwas sagen, ängstlich, den Zauber zu brechen, jemanden auf sie aufmerksam zu machen.
»Zehn«, murmelte Téo dann, so leise, als ob er ein Schlaflied singen würde. »Neun. Acht …«
Bei Drei drückte Inez die Hand gegen den Deckel und ließ frische und kalte Luft hineinströmen, nach der die drei gierig schnappten. Endlich.
Sie krochen heraus wie Menschen, die mehr schlecht als recht dem Tod entkommen waren – etwas zu schnell, etwas zu wild. Lyz stolperte, fing sich und stand dann mit beiden Händen in die Seiten gestemmt da, immer noch wacklig auf den Beinen. Téo tappte instinktiv nach seinem Etui und stopfte es zurück in die Jacke – es war ihre einzige Versicherung in diesen Hallen. Inez fiel einfach nur aus der Kiste und rieb sich ihre inzwischen komplett eingeschlafenen Beine, um wieder ein Gefühl zu bekommen. Elend sahen die drei aus, aber eigenartig selbstzufrieden – sie hatten es geschafft.
Für drei Herzschläge grinsten sie einander nur an wie Idioten. Dann lachte Lyz, kurz und unwirsch zugleich, und strich sich eine Strähne aus der Stirn.
»Also gut, Mastermind«, knurrte sie und verdrehte die Augen, als würde ihr das Wort auf der Zunge brennen. »Einmal. Einmal hast du recht gehabt. Einmal. Großartig. Nie wieder.«
Téo hob beide Hände, als wolle er den Frieden beschwören. »Das hat mir für ein Leben gereicht.«
»Uns allen«, korrigierte Inez, doch auch sie musste lachen. Sie zeigte auf das blank glitzernde Ungetüm, das beinahe unschuldig im Flur stand, und fühlte, wie das Adrenalin nachließ. Sie atmete durch, tief, einmal, zweimal. Das Zittern in den Fingern war noch da, aber jetzt war es erträglich.
Erst da sah sie sich um.
Ein Flur, der breit genug für zwei Kisten nebeneinander war, lag vor ihnen. Die Wände in mattem Schwarz, in denen die Konturen ihrer Körper zu zitternden Schatten wurden. Der Flur endete in einer Tür – schlicht, schwarz, matt – mit einem schmalen Rahmen aus poliertem Messing, der das wenige Licht einfing. Als Téo das Etui anlegte, brummte die Mechanik, tiefer diesmal, und die Tür schwang kommentarlos auf.
Da waren sie also.
Der Raum war groß, so groß, dass ihre Schritte widerhallten. Viele goldene Kisten, ähnlich zu denen, die sie schon kannten, lagen verteilt vor massiven Tischen, auf denen einsame Jetons und Escodinar lagen. Es schien so, als ob an dieser Stelle Jetons und Edins getauscht und eingepackt wurden, um ihren Weg in das Casino zu finden.
Dann wurde ihr Blick von etwas angezogen.
In der Mitte – halb von Schatten, halb von einem feinen, goldenen Saum aus Deckenlicht umspielt – war ein Relief in den Boden eingearbeitet, das Inez sofort erkannte, obwohl sie es nur von den Bannern aus La Perdante kannte.
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AIKIDO


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