KONTROLLIERT ATMEN

KONTROLLIERT ATMEN

KONTROLLIERT ATMEN


Der Nebel näherte sich ihnen nicht als gierige Welle, sondern als höflicher Gast: zögerlich, mit dem süßen Duft von Weihrauch und einem Hauch von Rose, den er mit sich trug. Sie kannte diesen Duft, hatte ihn tagein, tagaus in den Straßen von La Perdante wahrgenommen. Einmal hatte sie sogar selbst einen Zug genommen, als ein Éclatario der Maison, eine Art Unterhändler der Lamize-Casinos, mit ihnen nach erfolgreichem Auftrag feiern wollte.

Synthetisierter Dym machte den Kopf frei und ließ bewusst und genüsslich träumen – allerdings war es sehr leicht, zu wenig oder zu viel davon zu nehmen. Einige in La Perdante – die, die es sich leisten konnten –, versuchten, so lange wie möglich in dem süßen Dämmerzustand des Träumens zu verbleiben und sich das Leben auszumalen, das sie niemals haben würden. Manche erwachten und waren danach antriebslos und lethargisch, Hüllen ihrer Selbst.

Andere wachten einfach nicht mehr auf.

Aber wer konnte es ihnen denn wirklich übelnehmen? In Escorial war es an manchen Tagen verlockend, lieber zu träumen, als sich der kalten Wahrheit der Goldenen Stadt zu stellen. Inez selbst hatte zwar danach einen langen und intensiven Traum, der ihr allerdings mehr verwirrend als fesselnd vorkam – und die Kopfschmerzen waren es allemal nicht wert. Sie wusste, dass es Gerüchte gab, wonach die Familie Dolorea in dymgeschwängerten Träumen die Zukunft vorhersagen konnte.

Allerdings war es weitaus wahrscheinlicher, dass damit einfach die Nachfrage angekurbelt werden sollte.

Das Husten von Téo riss sie aus ihren Überlegungen, und sie warf einen schnellen Blick auf die Anzeige.

03:18. Die Rose im Boden atmete weiterhin genüsslich aus.

»Hinlegen«, zischte sie, und obwohl ihre Stimme kaum zu hören war, folgte ihr etwas, das größer war als Panik: Gehorsam. Lyz stand neben ihr und suchte fieberhaft die Decke ab, bevor sie schließlich zerknirscht nickte und sich an die Wand legte, möglichst weit weg von der dampfenden Rose. Neben ihr suchte Téo blind nach Halt, sein Overall bereits nass vom Nebel und von seiner Angst. Er schaute sie mit aufgerissenen Augen an, und für einen Moment sah sie in ihm nicht den begnadeten Techie und besten Freund, der in jeder ausweglosen Situation mit etwas Klebeband und ein paar Kabeln ihren Hintern retten konnte. Nein, in den grauen Augen sah sie, wie jung er war, wie jung sie alle waren. Sie waren jung und dumm und hatten alle Angst davor, im süßen Nebel ihr Leben zu lassen.

03:02.

Inez zwang sich, weiterzusprechen, und riss sich mit einigen kurzen Bewegungen Stücke ihres Kleides ab. Sie drückte ihnen die roten Fetzen in die Hand. »Hier, haltet euch das vor das Gesicht … und dann ruhig atmen, ganz ruhig, hört ihr? Téo, hörst du mich?« Sie packte sein Gesicht und schüttelte ihn leicht. »Was ist schon etwas Luft anhalten, oder? Das macht doch nichts.« Sie zwang sich zu einem Lächeln und wandte sich dann Lyz zu. »Du auch, Liebes. Ganz ruhig und vorsichtig, alles klar? Hier, ich zähle für euch mit.«

Sie wusste, es war lächerlich, den Versuch zu unternehmen, so lange die Luft anzuhalten. Sie durften nur nicht zu viel von dem Dym einatmen. Was war da schon eine kleine Dosis? Vielleicht würde es ihnen sogar dabei helfen, die vor ihnen liegenden Gefahren zu bewältigen. Das wäre doch was: völlig zugedröhnt La Golgotha stehlen und zu Legenden werden … Sie merkte, wie sich in ihrem Kopf ein leichter Wirbel zu drehen begann, und kniff sich in den Arm. Sie musste an den Dym denken, an eine Lösung aus ihrer Misere.

Der Geruch war inzwischen ganz deutlich: Es roch nach alter Kirche und einer Süße, die sie aus den Gärten von La Gagnante kannte. Es roch nach Kindheit in der Viadombra, nach Regen und Staub. Eine kleine Träne schlich sich in ihr Auge, die sie mit dem Handrücken unwirsch beiseiteschob.

»Bleib hier, verstanden? Zähl bis fünf … einatmen … dann wieder bis fünf … ausatmen.«

Téo nickte, sein Kopf ein zitterndes Etwas, das auf und ab schwang. Er atmete jetzt ruhiger, die Augen geschlossen, die Wimpern feucht. »Kann ich …« Er setzte an, irgendetwas zu sagen, vielleicht selbst Trost zu spenden, doch Inez ließ es nicht zu. »Nicht reden«, hauchte sie. »Spar’s dir. Bei fünf atmen wir aus.« Und wieder: »Eins … zwei … drei … vier … fünf.«

Am Rand ihres Blickfeldes merkte sie, wie Lyz hin- und herrutschte, die Augen abwechselnd auf den Nebel und die Rohre über ihr gerichtet. »Nez …«, begann sie, der Tuchfetzen zitternd über ihrem Mund, die Pupillen groß wie die Lichter über dem Strip. Inez streckte die Hand hinüber, suchte ihre Finger, fand sie, drückte zu. »Bei mir bleiben«, sagte sie. »Wir schaffen die fünf Minuten. Wir haben schon Schlimmeres überlebt, weißt du noch?« Lyz schenkte ihr ein Lächeln – zumindest meinte sie es an ihren Augen zu erkennen, die hinter dem blutroten Fetzen hervorlugten. Diese schönen, blauen Augen …

»Eins … zwei … drei … vier … fünf.«

Sie versuchte, an das Autokino zu denken, das Versprechen, das sie sich im Lagerraum gegeben hatten – eine leere Leinwand, die abends die Lichter der Stadt einfing; der Wind, der durch die Autoskelette ging; Lyz, die sich dort immer auf dasselbe Auto fläzte und dann hinauf in den Himmel schaute. Die Pläne, die sie geschmiedet hatten – wie sie aus Escorial abhauen wollten, ihre Mutter und Kynoz mitnehmen und irgendwo ein neues Leben anfangen würden, weit weg von den Saints und Sinners, weg von der Goldenen Stadt.

02:43.

Der Nebel schnupperte jetzt zaghaft an ihnen, als wollte er erst testen, ob sie wirklich zu seiner Beute gehören würden. Téo lachte einmal, nur kurz, bevor seine Miene etwas Träumerisches annahm. »Das Meer«, murmelte er, die Stirn an dem kalten Stein, »ist endlich ruhig.« Es war kein Laut des Schmerzes, kein Laut der Angst, und dennoch klang er viel schrecklicher als alles, was sie je von ihm gehört hatte. Inez wollte »Bleib bei mir« wiederholen, doch das »Bleib« blieb an der Zunge hängen.

»Atmen«, sagte sie stattdessen, und sie zählten wieder langsam, versuchten, ihre Atemzüge bewusst zu setzen. Eins … zwei … drei …

Die Kälte des Marmors zog durch den Rücken in die Brust, und trotzdem wurde Inez warm. Ihr Herz schlug jetzt kräftig und bewusst, und für einen Moment war ihr Kopf so klar wie schon lange nicht mehr; er zeigte ihr Bilder mit leisen, kaum hörbaren Tönen: ein Sommertag in den Sandgruben von Vita Nera, eine staubige alte Lagerhalle, in der sie das Rauschen von Jetons hörte, die einen stählernen Schacht hinunterrutschten. Dann Augen, grau und blau, die rasch immer größer und zu dem rauschenden Meer selbst wurden. Über all dem hing ein eigenartiger Geruch von Lavendel, Weihrauch und warmem Metall, der sie schwindlig machte.

02:27. »Eins … zwei …«

Lyz schob sich näher an sie heran, so nah, dass der Fetzen an Inez’ Wange kratzte. »Weißt du noch«, flüsterte sie in den Stoff, »als wir den goldenen Handschuh geklaut haben und ich mir von den Edins dieses dumme Katzenpfötchen habe stechen lassen?«

Inez lachte leise und legte ihren Kopf an ihren. »Und wie die Tätowiererin dich zehnmal gefragt hatte, ob du dir wirklich sicher warst …«, sie hustete kurz. »Das war …« – sie suchte nach einem Wort, fand nur ein Gefühl – »… aber es sieht gut aus, Lyz. Es … sieht wirklich … gut aus.«

02:10.

Téo drehte den Kopf zu ihnen um und kicherte, ein kehliges Geräusch, das direkt aus einer Lunge kam. »Ich hab’s immer gewusst«, sagte er, ohne zu sagen, was. Vielleicht meinte er die Sprinkler, vielleicht sie; vielleicht meinte er einfach, dass sie lieber hätten ihm vertrauen sollen. »Ihr zwei«, setzte er an, brach ab, lächelte, und da war wieder dieses zarte, überforderte Grinsen. Sie merkte, wie sich sein Körper zunehmend entspannte.

Inez wollte widersprechen, die Dinge richtigstellen, doch der Dym hatte schon begonnen, ihr ein Gefühl der Ruhe zu geben. »Nicht einschlafen«, sagte sie. Dieses Wort, Schlaf, ging ihr so wunderbar einfach über die Lippen. »Nur zählen. Eins … eins … eins …«

Lyz’ Finger fanden ihre erneut, entschlossener diesmal. »Nez«, flüsterte Lyz, und sie klang traurig. »Falls … also nur falls …« Sie ließ den Satz hängen, als hätte sie den Faden verloren, und fand stattdessen Inez’ Wange. »Das vorhin – das war nicht nur Theater, oder?«

Der Dym horchte aufmerksam und ließ sie gewähren. Inez lächelte, fühlte, wie die Augen feucht wurden – ob vom Nebel oder von etwas anderem, war egal. »Ich fürchte«, raunte sie, »ich bin eine lausige Schauspielerin.« Lyz lachte und weinte in einem Ton, der ihr das Herz zuschnürte. Sie griff noch fester nach ihren Fingern. »Dann gehen wir wirklich ins Kino«, sagte sie, »wenn wir hier raus sind. Einverstanden?« Inez nickte nur und holte tief Luft. Lyz sollte sie nicht weinen sehen.

02:03.

Inez’ Brust hob und senkte sich im Takt einer langsamen Melodie. Sie drehte den Kopf und sah Téo, der auf den Marmor starrte, als wäre dort ein Code verborgen, den keiner außer ihm lesen konnte. »Téo«, sagte sie, »hab … keine Angst, okay?« Er nickte nur und rieb seine Hand an dem Marmor, zunächst mit schnellen Bewegungen, dann immer langsamer.

»Eins … zwei … drei …«, setzte Inez noch einmal an, aber das Zählen verzweigte sich, verlor sich in merkwürdigen Zeichen und Symbolen, die sie nicht deuten konnte. Die Geräusche um sie herum nahmen einen … weichen Ton an: das Summen hinter der Tür, das leise Arbeiten der Klimaanlage und irgendwo das Rollen der Jetons und das Klirren von Gläsern, die angestoßen wurden. Lyz’ Stirn lehnte jetzt an Inez’ Schulter, und Inez dachte wieder an diesen Geruch, daran, dass Lavendel und Rauch ganz gut zusammenpassten.

»Ich hab Angst«, sagte Lyz plötzlich, fast fröhlich, als sei ihr dieser Gedanke erst jetzt gekommen. »Ich auch«, antwortete Inez, und mit diesem einfachen Eingeständnis schwand ihr letzter Widerstand und erlaubte dem Dym, ihr endlich Ruhe vor dem zu geben, was unmittelbar bevorstand. »Ich hab dich wirklich gern, Nez«,

raunte Lyz, und es klang aufrichtig, als ob es nichts mit dem Dym zu tun hatte, der seinen filigranen Tanz um sie herum vollführte. »Wirklich … wirklich … gern.« Ihr Kopf sackte jetzt vollständig auf ihre Schulter und blieb dort liegen.

Inez kicherte, weil der Dym ihr ein leichtes Gefühl in der Brust gab, so, als ob sie noch einen La Golgotha getrunken hätte, der ihr heiß die Kehle hinunterrann und ein warmes Gefühl im Bauch machte, das ihr bis in die Zehenspitzen kroch. Sie nickte heftig, als hätte ihr jemand ein Geheimnis anvertraut, das nur für Kinderohren bestimmt war. »Ich dich auch«, sagte sie schlicht. Es war eine reine, ehrliche Tatsache.

Téo drehte den Kopf und hob die Hand, suchte blind, bis beide Mädchen sie fanden; drei Hände in der Mitte eines Raumes, in dem immer schneller die Zeit ablief.

01:47.

Inez dachte daran, dass Perfectio bei Dreiunddreißig lag und dass manche Zahlen gnädiger waren als andere. Sie schloss die Augen – nicht um zu fliehen, sondern um näher dran zu sein an den Dingen, an die sie jetzt denken wollte: das Autokino, Lyz’ Lachen, Téos umständliche Erklärungen, La Golgotha auf der Zunge, das körnige Gold, das aus dem Schädel gerieselt kam, als wäre er all die Jahrhunderte im goldenen Staub vergraben gewesen. Die Bilder schwammen gnädig vor ihrem Auge, wie die Fische, die Anais so mochte.

Seltsam, sie wurde das Gefühl nicht los, dass die alte Frau besonders enttäuscht von ihr wäre, so, als ob sie irgendetwas vergessen hätte. Doch der Gedanke zerfloss rasch im Fluss ihrer Gedanken.

»Eins«, sagte sie noch einmal, kaum hörbar, und spürte, wie sich die Schultern neben ihr immer langsamer hoben und senkten, bevor auch sie sich entspannte. Es war schon in Ordnung, dachte sie. Sie waren zusammen, sie waren hier, sie würden sich nur kurz ausruhen und danach ins Autokino gehen.

Die Rose im Boden atmete weiter, höflich und stetig, bemüht, ihre drei Gäste bloß nicht zu wecken, während über der Tür die letzte Minute fiel und das Licht erlosch.

Irgendwann im Laufe der Nacht würden Wachleute auf den wieder funktionierenden Kamerabildschirmen ein Bild sehen, das zunächst Verwunderung und schließlich Mitleid erwecken sollte. Drei Freunde, Arm in Arm auf dem Boden liegend, ihre Gesichter in einem seligen Lächeln gefangen – sie wirkten entspannt, wie sie da lagen und nach oben schauten, so, als würden sie im dunklen Marmor nach Sternen suchen. Die Beamten konnten nicht wissen, dass im letzten Augenblick ihres Lebens dasselbe Bild vor ihren Augen aufgeflackert war, kurz nur, wie Erinnerungen nun mal waren.

Zwei Mädchen auf der Motorhaube eines verrosteten Autos, ein Junge, der ihnen von Sternbildern erzählte, die es über Escorial nicht gab, über den Wind, der nach Regen roch, und davon, dass alles gut werden würde, wenn man nur lang genug die Luft anhalten könnte.

Dass alles gut werden würde, wenn man nicht allein war.







Der Nebel näherte sich ihnen nicht als gierige Welle, sondern als höflicher Gast: zögerlich, mit dem süßen Duft von Weihrauch und einem Hauch von Rose, den er mit sich trug. Sie kannte diesen Duft, hatte ihn tagein, tagaus in den Straßen von La Perdante wahrgenommen. Einmal hatte sie sogar selbst einen Zug genommen, als ein Éclatario der Maison, eine Art Unterhändler der Lamize-Casinos, mit ihnen nach erfolgreichem Auftrag feiern wollte.

Synthetisierter Dym machte den Kopf frei und ließ bewusst und genüsslich träumen – allerdings war es sehr leicht, zu wenig oder zu viel davon zu nehmen. Einige in La Perdante – die, die es sich leisten konnten –, versuchten, so lange wie möglich in dem süßen Dämmerzustand des Träumens zu verbleiben und sich das Leben auszumalen, das sie niemals haben würden. Manche erwachten und waren danach antriebslos und lethargisch, Hüllen ihrer Selbst.

Andere wachten einfach nicht mehr auf.

Aber wer konnte es ihnen denn wirklich übelnehmen? In Escorial war es an manchen Tagen verlockend, lieber zu träumen, als sich der kalten Wahrheit der Goldenen Stadt zu stellen. Inez selbst hatte zwar danach einen langen und intensiven Traum, der ihr allerdings mehr verwirrend als fesselnd vorkam – und die Kopfschmerzen waren es allemal nicht wert. Sie wusste, dass es Gerüchte gab, wonach die Familie Dolorea in dymgeschwängerten Träumen die Zukunft vorhersagen konnte.

Allerdings war es weitaus wahrscheinlicher, dass damit einfach die Nachfrage angekurbelt werden sollte.

Das Husten von Téo riss sie aus ihren Überlegungen, und sie warf einen schnellen Blick auf die Anzeige.

03:18. Die Rose im Boden atmete weiterhin genüsslich aus.

»Hinlegen«, zischte sie, und obwohl ihre Stimme kaum zu hören war, folgte ihr etwas, das größer war als Panik: Gehorsam. Lyz stand neben ihr und suchte fieberhaft die Decke ab, bevor sie schließlich zerknirscht nickte und sich an die Wand legte, möglichst weit weg von der dampfenden Rose. Neben ihr suchte Téo blind nach Halt, sein Overall bereits nass vom Nebel und von seiner Angst. Er schaute sie mit aufgerissenen Augen an, und für einen Moment sah sie in ihm nicht den begnadeten Techie und besten Freund, der in jeder ausweglosen Situation mit etwas Klebeband und ein paar Kabeln ihren Hintern retten konnte. Nein, in den grauen Augen sah sie, wie jung er war, wie jung sie alle waren. Sie waren jung und dumm und hatten alle Angst davor, im süßen Nebel ihr Leben zu lassen.

03:02.

Inez zwang sich, weiterzusprechen, und riss sich mit einigen kurzen Bewegungen Stücke ihres Kleides ab. Sie drückte ihnen die roten Fetzen in die Hand. »Hier, haltet euch das vor das Gesicht … und dann ruhig atmen, ganz ruhig, hört ihr? Téo, hörst du mich?« Sie packte sein Gesicht und schüttelte ihn leicht. »Was ist schon etwas Luft anhalten, oder? Das macht doch nichts.« Sie zwang sich zu einem Lächeln und wandte sich dann Lyz zu. »Du auch, Liebes. Ganz ruhig und vorsichtig, alles klar? Hier, ich zähle für euch mit.«

Sie wusste, es war lächerlich, den Versuch zu unternehmen, so lange die Luft anzuhalten. Sie durften nur nicht zu viel von dem Dym einatmen. Was war da schon eine kleine Dosis? Vielleicht würde es ihnen sogar dabei helfen, die vor ihnen liegenden Gefahren zu bewältigen. Das wäre doch was: völlig zugedröhnt La Golgotha stehlen und zu Legenden werden … Sie merkte, wie sich in ihrem Kopf ein leichter Wirbel zu drehen begann, und kniff sich in den Arm. Sie musste an den Dym denken, an eine Lösung aus ihrer Misere.

Der Geruch war inzwischen ganz deutlich: Es roch nach alter Kirche und einer Süße, die sie aus den Gärten von La Gagnante kannte. Es roch nach Kindheit in der Viadombra, nach Regen und Staub. Eine kleine Träne schlich sich in ihr Auge, die sie mit dem Handrücken unwirsch beiseiteschob.

»Bleib hier, verstanden? Zähl bis fünf … einatmen … dann wieder bis fünf … ausatmen.«

Téo nickte, sein Kopf ein zitterndes Etwas, das auf und ab schwang. Er atmete jetzt ruhiger, die Augen geschlossen, die Wimpern feucht. »Kann ich …« Er setzte an, irgendetwas zu sagen, vielleicht selbst Trost zu spenden, doch Inez ließ es nicht zu. »Nicht reden«, hauchte sie. »Spar’s dir. Bei fünf atmen wir aus.« Und wieder: »Eins … zwei … drei … vier … fünf.«

Am Rand ihres Blickfeldes merkte sie, wie Lyz hin- und herrutschte, die Augen abwechselnd auf den Nebel und die Rohre über ihr gerichtet. »Nez …«, begann sie, der Tuchfetzen zitternd über ihrem Mund, die Pupillen groß wie die Lichter über dem Strip. Inez streckte die Hand hinüber, suchte ihre Finger, fand sie, drückte zu. »Bei mir bleiben«, sagte sie. »Wir schaffen die fünf Minuten. Wir haben schon Schlimmeres überlebt, weißt du noch?« Lyz schenkte ihr ein Lächeln – zumindest meinte sie es an ihren Augen zu erkennen, die hinter dem blutroten Fetzen hervorlugten. Diese schönen, blauen Augen …

»Eins … zwei … drei … vier … fünf.«

Sie versuchte, an das Autokino zu denken, das Versprechen, das sie sich im Lagerraum gegeben hatten – eine leere Leinwand, die abends die Lichter der Stadt einfing; der Wind, der durch die Autoskelette ging; Lyz, die sich dort immer auf dasselbe Auto fläzte und dann hinauf in den Himmel schaute. Die Pläne, die sie geschmiedet hatten – wie sie aus Escorial abhauen wollten, ihre Mutter und Kynoz mitnehmen und irgendwo ein neues Leben anfangen würden, weit weg von den Saints und Sinners, weg von der Goldenen Stadt.

02:43.

Der Nebel schnupperte jetzt zaghaft an ihnen, als wollte er erst testen, ob sie wirklich zu seiner Beute gehören würden. Téo lachte einmal, nur kurz, bevor seine Miene etwas Träumerisches annahm. »Das Meer«, murmelte er, die Stirn an dem kalten Stein, »ist endlich ruhig.« Es war kein Laut des Schmerzes, kein Laut der Angst, und dennoch klang er viel schrecklicher als alles, was sie je von ihm gehört hatte. Inez wollte »Bleib bei mir« wiederholen, doch das »Bleib« blieb an der Zunge hängen.

»Atmen«, sagte sie stattdessen, und sie zählten wieder langsam, versuchten, ihre Atemzüge bewusst zu setzen. Eins … zwei … drei …

Die Kälte des Marmors zog durch den Rücken in die Brust, und trotzdem wurde Inez warm. Ihr Herz schlug jetzt kräftig und bewusst, und für einen Moment war ihr Kopf so klar wie schon lange nicht mehr; er zeigte ihr Bilder mit leisen, kaum hörbaren Tönen: ein Sommertag in den Sandgruben von Vita Nera, eine staubige alte Lagerhalle, in der sie das Rauschen von Jetons hörte, die einen stählernen Schacht hinunterrutschten. Dann Augen, grau und blau, die rasch immer größer und zu dem rauschenden Meer selbst wurden. Über all dem hing ein eigenartiger Geruch von Lavendel, Weihrauch und warmem Metall, der sie schwindlig machte.

02:27. »Eins … zwei …«

Lyz schob sich näher an sie heran, so nah, dass der Fetzen an Inez’ Wange kratzte. »Weißt du noch«, flüsterte sie in den Stoff, »als wir den goldenen Handschuh geklaut haben und ich mir von den Edins dieses dumme Katzenpfötchen habe stechen lassen?«

Inez lachte leise und legte ihren Kopf an ihren. »Und wie die Tätowiererin dich zehnmal gefragt hatte, ob du dir wirklich sicher warst …«, sie hustete kurz. »Das war …« – sie suchte nach einem Wort, fand nur ein Gefühl – »… aber es sieht gut aus, Lyz. Es … sieht wirklich … gut aus.«

02:10.

Téo drehte den Kopf zu ihnen um und kicherte, ein kehliges Geräusch, das direkt aus einer Lunge kam. »Ich hab’s immer gewusst«, sagte er, ohne zu sagen, was. Vielleicht meinte er die Sprinkler, vielleicht sie; vielleicht meinte er einfach, dass sie lieber hätten ihm vertrauen sollen. »Ihr zwei«, setzte er an, brach ab, lächelte, und da war wieder dieses zarte, überforderte Grinsen. Sie merkte, wie sich sein Körper zunehmend entspannte.

Inez wollte widersprechen, die Dinge richtigstellen, doch der Dym hatte schon begonnen, ihr ein Gefühl der Ruhe zu geben. »Nicht einschlafen«, sagte sie. Dieses Wort, Schlaf, ging ihr so wunderbar einfach über die Lippen. »Nur zählen. Eins … eins … eins …«

Lyz’ Finger fanden ihre erneut, entschlossener diesmal. »Nez«, flüsterte Lyz, und sie klang traurig. »Falls … also nur falls …« Sie ließ den Satz hängen, als hätte sie den Faden verloren, und fand stattdessen Inez’ Wange. »Das vorhin – das war nicht nur Theater, oder?«

Der Dym horchte aufmerksam und ließ sie gewähren. Inez lächelte, fühlte, wie die Augen feucht wurden – ob vom Nebel oder von etwas anderem, war egal. »Ich fürchte«, raunte sie, »ich bin eine lausige Schauspielerin.« Lyz lachte und weinte in einem Ton, der ihr das Herz zuschnürte. Sie griff noch fester nach ihren Fingern. »Dann gehen wir wirklich ins Kino«, sagte sie, »wenn wir hier raus sind. Einverstanden?« Inez nickte nur und holte tief Luft. Lyz sollte sie nicht weinen sehen.

02:03.

Inez’ Brust hob und senkte sich im Takt einer langsamen Melodie. Sie drehte den Kopf und sah Téo, der auf den Marmor starrte, als wäre dort ein Code verborgen, den keiner außer ihm lesen konnte. »Téo«, sagte sie, »hab … keine Angst, okay?« Er nickte nur und rieb seine Hand an dem Marmor, zunächst mit schnellen Bewegungen, dann immer langsamer.

»Eins … zwei … drei …«, setzte Inez noch einmal an, aber das Zählen verzweigte sich, verlor sich in merkwürdigen Zeichen und Symbolen, die sie nicht deuten konnte. Die Geräusche um sie herum nahmen einen … weichen Ton an: das Summen hinter der Tür, das leise Arbeiten der Klimaanlage und irgendwo das Rollen der Jetons und das Klirren von Gläsern, die angestoßen wurden. Lyz’ Stirn lehnte jetzt an Inez’ Schulter, und Inez dachte wieder an diesen Geruch, daran, dass Lavendel und Rauch ganz gut zusammenpassten.

»Ich hab Angst«, sagte Lyz plötzlich, fast fröhlich, als sei ihr dieser Gedanke erst jetzt gekommen. »Ich auch«, antwortete Inez, und mit diesem einfachen Eingeständnis schwand ihr letzter Widerstand und erlaubte dem Dym, ihr endlich Ruhe vor dem zu geben, was unmittelbar bevorstand. »Ich hab dich wirklich gern, Nez«,

raunte Lyz, und es klang aufrichtig, als ob es nichts mit dem Dym zu tun hatte, der seinen filigranen Tanz um sie herum vollführte. »Wirklich … wirklich … gern.« Ihr Kopf sackte jetzt vollständig auf ihre Schulter und blieb dort liegen.

Inez kicherte, weil der Dym ihr ein leichtes Gefühl in der Brust gab, so, als ob sie noch einen La Golgotha getrunken hätte, der ihr heiß die Kehle hinunterrann und ein warmes Gefühl im Bauch machte, das ihr bis in die Zehenspitzen kroch. Sie nickte heftig, als hätte ihr jemand ein Geheimnis anvertraut, das nur für Kinderohren bestimmt war. »Ich dich auch«, sagte sie schlicht. Es war eine reine, ehrliche Tatsache.

Téo drehte den Kopf und hob die Hand, suchte blind, bis beide Mädchen sie fanden; drei Hände in der Mitte eines Raumes, in dem immer schneller die Zeit ablief.

01:47.

Inez dachte daran, dass Perfectio bei Dreiunddreißig lag und dass manche Zahlen gnädiger waren als andere. Sie schloss die Augen – nicht um zu fliehen, sondern um näher dran zu sein an den Dingen, an die sie jetzt denken wollte: das Autokino, Lyz’ Lachen, Téos umständliche Erklärungen, La Golgotha auf der Zunge, das körnige Gold, das aus dem Schädel gerieselt kam, als wäre er all die Jahrhunderte im goldenen Staub vergraben gewesen. Die Bilder schwammen gnädig vor ihrem Auge, wie die Fische, die Anais so mochte.

Seltsam, sie wurde das Gefühl nicht los, dass die alte Frau besonders enttäuscht von ihr wäre, so, als ob sie irgendetwas vergessen hätte. Doch der Gedanke zerfloss rasch im Fluss ihrer Gedanken.

»Eins«, sagte sie noch einmal, kaum hörbar, und spürte, wie sich die Schultern neben ihr immer langsamer hoben und senkten, bevor auch sie sich entspannte. Es war schon in Ordnung, dachte sie. Sie waren zusammen, sie waren hier, sie würden sich nur kurz ausruhen und danach ins Autokino gehen.

Die Rose im Boden atmete weiter, höflich und stetig, bemüht, ihre drei Gäste bloß nicht zu wecken, während über der Tür die letzte Minute fiel und das Licht erlosch.

Irgendwann im Laufe der Nacht würden Wachleute auf den wieder funktionierenden Kamerabildschirmen ein Bild sehen, das zunächst Verwunderung und schließlich Mitleid erwecken sollte. Drei Freunde, Arm in Arm auf dem Boden liegend, ihre Gesichter in einem seligen Lächeln gefangen – sie wirkten entspannt, wie sie da lagen und nach oben schauten, so, als würden sie im dunklen Marmor nach Sternen suchen. Die Beamten konnten nicht wissen, dass im letzten Augenblick ihres Lebens dasselbe Bild vor ihren Augen aufgeflackert war, kurz nur, wie Erinnerungen nun mal waren.

Zwei Mädchen auf der Motorhaube eines verrosteten Autos, ein Junge, der ihnen von Sternbildern erzählte, die es über Escorial nicht gab, über den Wind, der nach Regen roch, und davon, dass alles gut werden würde, wenn man nur lang genug die Luft anhalten könnte.

Dass alles gut werden würde, wenn man nicht allein war.







Der Nebel näherte sich ihnen nicht als gierige Welle, sondern als höflicher Gast: zögerlich, mit dem süßen Duft von Weihrauch und einem Hauch von Rose, den er mit sich trug. Sie kannte diesen Duft, hatte ihn tagein, tagaus in den Straßen von La Perdante wahrgenommen. Einmal hatte sie sogar selbst einen Zug genommen, als ein Éclatario der Maison, eine Art Unterhändler der Lamize-Casinos, mit ihnen nach erfolgreichem Auftrag feiern wollte.

Synthetisierter Dym machte den Kopf frei und ließ bewusst und genüsslich träumen – allerdings war es sehr leicht, zu wenig oder zu viel davon zu nehmen. Einige in La Perdante – die, die es sich leisten konnten –, versuchten, so lange wie möglich in dem süßen Dämmerzustand des Träumens zu verbleiben und sich das Leben auszumalen, das sie niemals haben würden. Manche erwachten und waren danach antriebslos und lethargisch, Hüllen ihrer Selbst.

Andere wachten einfach nicht mehr auf.

Aber wer konnte es ihnen denn wirklich übelnehmen? In Escorial war es an manchen Tagen verlockend, lieber zu träumen, als sich der kalten Wahrheit der Goldenen Stadt zu stellen. Inez selbst hatte zwar danach einen langen und intensiven Traum, der ihr allerdings mehr verwirrend als fesselnd vorkam – und die Kopfschmerzen waren es allemal nicht wert. Sie wusste, dass es Gerüchte gab, wonach die Familie Dolorea in dymgeschwängerten Träumen die Zukunft vorhersagen konnte.

Allerdings war es weitaus wahrscheinlicher, dass damit einfach die Nachfrage angekurbelt werden sollte.

Das Husten von Téo riss sie aus ihren Überlegungen, und sie warf einen schnellen Blick auf die Anzeige.

03:18. Die Rose im Boden atmete weiterhin genüsslich aus.

»Hinlegen«, zischte sie, und obwohl ihre Stimme kaum zu hören war, folgte ihr etwas, das größer war als Panik: Gehorsam. Lyz stand neben ihr und suchte fieberhaft die Decke ab, bevor sie schließlich zerknirscht nickte und sich an die Wand legte, möglichst weit weg von der dampfenden Rose. Neben ihr suchte Téo blind nach Halt, sein Overall bereits nass vom Nebel und von seiner Angst. Er schaute sie mit aufgerissenen Augen an, und für einen Moment sah sie in ihm nicht den begnadeten Techie und besten Freund, der in jeder ausweglosen Situation mit etwas Klebeband und ein paar Kabeln ihren Hintern retten konnte. Nein, in den grauen Augen sah sie, wie jung er war, wie jung sie alle waren. Sie waren jung und dumm und hatten alle Angst davor, im süßen Nebel ihr Leben zu lassen.

03:02.

Inez zwang sich, weiterzusprechen, und riss sich mit einigen kurzen Bewegungen Stücke ihres Kleides ab. Sie drückte ihnen die roten Fetzen in die Hand. »Hier, haltet euch das vor das Gesicht … und dann ruhig atmen, ganz ruhig, hört ihr? Téo, hörst du mich?« Sie packte sein Gesicht und schüttelte ihn leicht. »Was ist schon etwas Luft anhalten, oder? Das macht doch nichts.« Sie zwang sich zu einem Lächeln und wandte sich dann Lyz zu. »Du auch, Liebes. Ganz ruhig und vorsichtig, alles klar? Hier, ich zähle für euch mit.«

Sie wusste, es war lächerlich, den Versuch zu unternehmen, so lange die Luft anzuhalten. Sie durften nur nicht zu viel von dem Dym einatmen. Was war da schon eine kleine Dosis? Vielleicht würde es ihnen sogar dabei helfen, die vor ihnen liegenden Gefahren zu bewältigen. Das wäre doch was: völlig zugedröhnt La Golgotha stehlen und zu Legenden werden … Sie merkte, wie sich in ihrem Kopf ein leichter Wirbel zu drehen begann, und kniff sich in den Arm. Sie musste an den Dym denken, an eine Lösung aus ihrer Misere.

Der Geruch war inzwischen ganz deutlich: Es roch nach alter Kirche und einer Süße, die sie aus den Gärten von La Gagnante kannte. Es roch nach Kindheit in der Viadombra, nach Regen und Staub. Eine kleine Träne schlich sich in ihr Auge, die sie mit dem Handrücken unwirsch beiseiteschob.

»Bleib hier, verstanden? Zähl bis fünf … einatmen … dann wieder bis fünf … ausatmen.«

Téo nickte, sein Kopf ein zitterndes Etwas, das auf und ab schwang. Er atmete jetzt ruhiger, die Augen geschlossen, die Wimpern feucht. »Kann ich …« Er setzte an, irgendetwas zu sagen, vielleicht selbst Trost zu spenden, doch Inez ließ es nicht zu. »Nicht reden«, hauchte sie. »Spar’s dir. Bei fünf atmen wir aus.« Und wieder: »Eins … zwei … drei … vier … fünf.«

Am Rand ihres Blickfeldes merkte sie, wie Lyz hin- und herrutschte, die Augen abwechselnd auf den Nebel und die Rohre über ihr gerichtet. »Nez …«, begann sie, der Tuchfetzen zitternd über ihrem Mund, die Pupillen groß wie die Lichter über dem Strip. Inez streckte die Hand hinüber, suchte ihre Finger, fand sie, drückte zu. »Bei mir bleiben«, sagte sie. »Wir schaffen die fünf Minuten. Wir haben schon Schlimmeres überlebt, weißt du noch?« Lyz schenkte ihr ein Lächeln – zumindest meinte sie es an ihren Augen zu erkennen, die hinter dem blutroten Fetzen hervorlugten. Diese schönen, blauen Augen …

»Eins … zwei … drei … vier … fünf.«

Sie versuchte, an das Autokino zu denken, das Versprechen, das sie sich im Lagerraum gegeben hatten – eine leere Leinwand, die abends die Lichter der Stadt einfing; der Wind, der durch die Autoskelette ging; Lyz, die sich dort immer auf dasselbe Auto fläzte und dann hinauf in den Himmel schaute. Die Pläne, die sie geschmiedet hatten – wie sie aus Escorial abhauen wollten, ihre Mutter und Kynoz mitnehmen und irgendwo ein neues Leben anfangen würden, weit weg von den Saints und Sinners, weg von der Goldenen Stadt.

02:43.

Der Nebel schnupperte jetzt zaghaft an ihnen, als wollte er erst testen, ob sie wirklich zu seiner Beute gehören würden. Téo lachte einmal, nur kurz, bevor seine Miene etwas Träumerisches annahm. »Das Meer«, murmelte er, die Stirn an dem kalten Stein, »ist endlich ruhig.« Es war kein Laut des Schmerzes, kein Laut der Angst, und dennoch klang er viel schrecklicher als alles, was sie je von ihm gehört hatte. Inez wollte »Bleib bei mir« wiederholen, doch das »Bleib« blieb an der Zunge hängen.

»Atmen«, sagte sie stattdessen, und sie zählten wieder langsam, versuchten, ihre Atemzüge bewusst zu setzen. Eins … zwei … drei …

Die Kälte des Marmors zog durch den Rücken in die Brust, und trotzdem wurde Inez warm. Ihr Herz schlug jetzt kräftig und bewusst, und für einen Moment war ihr Kopf so klar wie schon lange nicht mehr; er zeigte ihr Bilder mit leisen, kaum hörbaren Tönen: ein Sommertag in den Sandgruben von Vita Nera, eine staubige alte Lagerhalle, in der sie das Rauschen von Jetons hörte, die einen stählernen Schacht hinunterrutschten. Dann Augen, grau und blau, die rasch immer größer und zu dem rauschenden Meer selbst wurden. Über all dem hing ein eigenartiger Geruch von Lavendel, Weihrauch und warmem Metall, der sie schwindlig machte.

02:27. »Eins … zwei …«

Lyz schob sich näher an sie heran, so nah, dass der Fetzen an Inez’ Wange kratzte. »Weißt du noch«, flüsterte sie in den Stoff, »als wir den goldenen Handschuh geklaut haben und ich mir von den Edins dieses dumme Katzenpfötchen habe stechen lassen?«

Inez lachte leise und legte ihren Kopf an ihren. »Und wie die Tätowiererin dich zehnmal gefragt hatte, ob du dir wirklich sicher warst …«, sie hustete kurz. »Das war …« – sie suchte nach einem Wort, fand nur ein Gefühl – »… aber es sieht gut aus, Lyz. Es … sieht wirklich … gut aus.«

02:10.

Téo drehte den Kopf zu ihnen um und kicherte, ein kehliges Geräusch, das direkt aus einer Lunge kam. »Ich hab’s immer gewusst«, sagte er, ohne zu sagen, was. Vielleicht meinte er die Sprinkler, vielleicht sie; vielleicht meinte er einfach, dass sie lieber hätten ihm vertrauen sollen. »Ihr zwei«, setzte er an, brach ab, lächelte, und da war wieder dieses zarte, überforderte Grinsen. Sie merkte, wie sich sein Körper zunehmend entspannte.

Inez wollte widersprechen, die Dinge richtigstellen, doch der Dym hatte schon begonnen, ihr ein Gefühl der Ruhe zu geben. »Nicht einschlafen«, sagte sie. Dieses Wort, Schlaf, ging ihr so wunderbar einfach über die Lippen. »Nur zählen. Eins … eins … eins …«

Lyz’ Finger fanden ihre erneut, entschlossener diesmal. »Nez«, flüsterte Lyz, und sie klang traurig. »Falls … also nur falls …« Sie ließ den Satz hängen, als hätte sie den Faden verloren, und fand stattdessen Inez’ Wange. »Das vorhin – das war nicht nur Theater, oder?«

Der Dym horchte aufmerksam und ließ sie gewähren. Inez lächelte, fühlte, wie die Augen feucht wurden – ob vom Nebel oder von etwas anderem, war egal. »Ich fürchte«, raunte sie, »ich bin eine lausige Schauspielerin.« Lyz lachte und weinte in einem Ton, der ihr das Herz zuschnürte. Sie griff noch fester nach ihren Fingern. »Dann gehen wir wirklich ins Kino«, sagte sie, »wenn wir hier raus sind. Einverstanden?« Inez nickte nur und holte tief Luft. Lyz sollte sie nicht weinen sehen.

02:03.

Inez’ Brust hob und senkte sich im Takt einer langsamen Melodie. Sie drehte den Kopf und sah Téo, der auf den Marmor starrte, als wäre dort ein Code verborgen, den keiner außer ihm lesen konnte. »Téo«, sagte sie, »hab … keine Angst, okay?« Er nickte nur und rieb seine Hand an dem Marmor, zunächst mit schnellen Bewegungen, dann immer langsamer.

»Eins … zwei … drei …«, setzte Inez noch einmal an, aber das Zählen verzweigte sich, verlor sich in merkwürdigen Zeichen und Symbolen, die sie nicht deuten konnte. Die Geräusche um sie herum nahmen einen … weichen Ton an: das Summen hinter der Tür, das leise Arbeiten der Klimaanlage und irgendwo das Rollen der Jetons und das Klirren von Gläsern, die angestoßen wurden. Lyz’ Stirn lehnte jetzt an Inez’ Schulter, und Inez dachte wieder an diesen Geruch, daran, dass Lavendel und Rauch ganz gut zusammenpassten.

»Ich hab Angst«, sagte Lyz plötzlich, fast fröhlich, als sei ihr dieser Gedanke erst jetzt gekommen. »Ich auch«, antwortete Inez, und mit diesem einfachen Eingeständnis schwand ihr letzter Widerstand und erlaubte dem Dym, ihr endlich Ruhe vor dem zu geben, was unmittelbar bevorstand. »Ich hab dich wirklich gern, Nez«,

raunte Lyz, und es klang aufrichtig, als ob es nichts mit dem Dym zu tun hatte, der seinen filigranen Tanz um sie herum vollführte. »Wirklich … wirklich … gern.« Ihr Kopf sackte jetzt vollständig auf ihre Schulter und blieb dort liegen.

Inez kicherte, weil der Dym ihr ein leichtes Gefühl in der Brust gab, so, als ob sie noch einen La Golgotha getrunken hätte, der ihr heiß die Kehle hinunterrann und ein warmes Gefühl im Bauch machte, das ihr bis in die Zehenspitzen kroch. Sie nickte heftig, als hätte ihr jemand ein Geheimnis anvertraut, das nur für Kinderohren bestimmt war. »Ich dich auch«, sagte sie schlicht. Es war eine reine, ehrliche Tatsache.

Téo drehte den Kopf und hob die Hand, suchte blind, bis beide Mädchen sie fanden; drei Hände in der Mitte eines Raumes, in dem immer schneller die Zeit ablief.

01:47.

Inez dachte daran, dass Perfectio bei Dreiunddreißig lag und dass manche Zahlen gnädiger waren als andere. Sie schloss die Augen – nicht um zu fliehen, sondern um näher dran zu sein an den Dingen, an die sie jetzt denken wollte: das Autokino, Lyz’ Lachen, Téos umständliche Erklärungen, La Golgotha auf der Zunge, das körnige Gold, das aus dem Schädel gerieselt kam, als wäre er all die Jahrhunderte im goldenen Staub vergraben gewesen. Die Bilder schwammen gnädig vor ihrem Auge, wie die Fische, die Anais so mochte.

Seltsam, sie wurde das Gefühl nicht los, dass die alte Frau besonders enttäuscht von ihr wäre, so, als ob sie irgendetwas vergessen hätte. Doch der Gedanke zerfloss rasch im Fluss ihrer Gedanken.

»Eins«, sagte sie noch einmal, kaum hörbar, und spürte, wie sich die Schultern neben ihr immer langsamer hoben und senkten, bevor auch sie sich entspannte. Es war schon in Ordnung, dachte sie. Sie waren zusammen, sie waren hier, sie würden sich nur kurz ausruhen und danach ins Autokino gehen.

Die Rose im Boden atmete weiter, höflich und stetig, bemüht, ihre drei Gäste bloß nicht zu wecken, während über der Tür die letzte Minute fiel und das Licht erlosch.

Irgendwann im Laufe der Nacht würden Wachleute auf den wieder funktionierenden Kamerabildschirmen ein Bild sehen, das zunächst Verwunderung und schließlich Mitleid erwecken sollte. Drei Freunde, Arm in Arm auf dem Boden liegend, ihre Gesichter in einem seligen Lächeln gefangen – sie wirkten entspannt, wie sie da lagen und nach oben schauten, so, als würden sie im dunklen Marmor nach Sternen suchen. Die Beamten konnten nicht wissen, dass im letzten Augenblick ihres Lebens dasselbe Bild vor ihren Augen aufgeflackert war, kurz nur, wie Erinnerungen nun mal waren.

Zwei Mädchen auf der Motorhaube eines verrosteten Autos, ein Junge, der ihnen von Sternbildern erzählte, die es über Escorial nicht gab, über den Wind, der nach Regen roch, und davon, dass alles gut werden würde, wenn man nur lang genug die Luft anhalten könnte.

Dass alles gut werden würde, wenn man nicht allein war.







Der Nebel näherte sich ihnen nicht als gierige Welle, sondern als höflicher Gast: zögerlich, mit dem süßen Duft von Weihrauch und einem Hauch von Rose, den er mit sich trug. Sie kannte diesen Duft, hatte ihn tagein, tagaus in den Straßen von La Perdante wahrgenommen. Einmal hatte sie sogar selbst einen Zug genommen, als ein Éclatario der Maison, eine Art Unterhändler der Lamize-Casinos, mit ihnen nach erfolgreichem Auftrag feiern wollte.

Synthetisierter Dym machte den Kopf frei und ließ bewusst und genüsslich träumen – allerdings war es sehr leicht, zu wenig oder zu viel davon zu nehmen. Einige in La Perdante – die, die es sich leisten konnten –, versuchten, so lange wie möglich in dem süßen Dämmerzustand des Träumens zu verbleiben und sich das Leben auszumalen, das sie niemals haben würden. Manche erwachten und waren danach antriebslos und lethargisch, Hüllen ihrer Selbst.

Andere wachten einfach nicht mehr auf.

Aber wer konnte es ihnen denn wirklich übelnehmen? In Escorial war es an manchen Tagen verlockend, lieber zu träumen, als sich der kalten Wahrheit der Goldenen Stadt zu stellen. Inez selbst hatte zwar danach einen langen und intensiven Traum, der ihr allerdings mehr verwirrend als fesselnd vorkam – und die Kopfschmerzen waren es allemal nicht wert. Sie wusste, dass es Gerüchte gab, wonach die Familie Dolorea in dymgeschwängerten Träumen die Zukunft vorhersagen konnte.

Allerdings war es weitaus wahrscheinlicher, dass damit einfach die Nachfrage angekurbelt werden sollte.

Das Husten von Téo riss sie aus ihren Überlegungen, und sie warf einen schnellen Blick auf die Anzeige.

03:18. Die Rose im Boden atmete weiterhin genüsslich aus.

»Hinlegen«, zischte sie, und obwohl ihre Stimme kaum zu hören war, folgte ihr etwas, das größer war als Panik: Gehorsam. Lyz stand neben ihr und suchte fieberhaft die Decke ab, bevor sie schließlich zerknirscht nickte und sich an die Wand legte, möglichst weit weg von der dampfenden Rose. Neben ihr suchte Téo blind nach Halt, sein Overall bereits nass vom Nebel und von seiner Angst. Er schaute sie mit aufgerissenen Augen an, und für einen Moment sah sie in ihm nicht den begnadeten Techie und besten Freund, der in jeder ausweglosen Situation mit etwas Klebeband und ein paar Kabeln ihren Hintern retten konnte. Nein, in den grauen Augen sah sie, wie jung er war, wie jung sie alle waren. Sie waren jung und dumm und hatten alle Angst davor, im süßen Nebel ihr Leben zu lassen.

03:02.

Inez zwang sich, weiterzusprechen, und riss sich mit einigen kurzen Bewegungen Stücke ihres Kleides ab. Sie drückte ihnen die roten Fetzen in die Hand. »Hier, haltet euch das vor das Gesicht … und dann ruhig atmen, ganz ruhig, hört ihr? Téo, hörst du mich?« Sie packte sein Gesicht und schüttelte ihn leicht. »Was ist schon etwas Luft anhalten, oder? Das macht doch nichts.« Sie zwang sich zu einem Lächeln und wandte sich dann Lyz zu. »Du auch, Liebes. Ganz ruhig und vorsichtig, alles klar? Hier, ich zähle für euch mit.«

Sie wusste, es war lächerlich, den Versuch zu unternehmen, so lange die Luft anzuhalten. Sie durften nur nicht zu viel von dem Dym einatmen. Was war da schon eine kleine Dosis? Vielleicht würde es ihnen sogar dabei helfen, die vor ihnen liegenden Gefahren zu bewältigen. Das wäre doch was: völlig zugedröhnt La Golgotha stehlen und zu Legenden werden … Sie merkte, wie sich in ihrem Kopf ein leichter Wirbel zu drehen begann, und kniff sich in den Arm. Sie musste an den Dym denken, an eine Lösung aus ihrer Misere.

Der Geruch war inzwischen ganz deutlich: Es roch nach alter Kirche und einer Süße, die sie aus den Gärten von La Gagnante kannte. Es roch nach Kindheit in der Viadombra, nach Regen und Staub. Eine kleine Träne schlich sich in ihr Auge, die sie mit dem Handrücken unwirsch beiseiteschob.

»Bleib hier, verstanden? Zähl bis fünf … einatmen … dann wieder bis fünf … ausatmen.«

Téo nickte, sein Kopf ein zitterndes Etwas, das auf und ab schwang. Er atmete jetzt ruhiger, die Augen geschlossen, die Wimpern feucht. »Kann ich …« Er setzte an, irgendetwas zu sagen, vielleicht selbst Trost zu spenden, doch Inez ließ es nicht zu. »Nicht reden«, hauchte sie. »Spar’s dir. Bei fünf atmen wir aus.« Und wieder: »Eins … zwei … drei … vier … fünf.«

Am Rand ihres Blickfeldes merkte sie, wie Lyz hin- und herrutschte, die Augen abwechselnd auf den Nebel und die Rohre über ihr gerichtet. »Nez …«, begann sie, der Tuchfetzen zitternd über ihrem Mund, die Pupillen groß wie die Lichter über dem Strip. Inez streckte die Hand hinüber, suchte ihre Finger, fand sie, drückte zu. »Bei mir bleiben«, sagte sie. »Wir schaffen die fünf Minuten. Wir haben schon Schlimmeres überlebt, weißt du noch?« Lyz schenkte ihr ein Lächeln – zumindest meinte sie es an ihren Augen zu erkennen, die hinter dem blutroten Fetzen hervorlugten. Diese schönen, blauen Augen …

»Eins … zwei … drei … vier … fünf.«

Sie versuchte, an das Autokino zu denken, das Versprechen, das sie sich im Lagerraum gegeben hatten – eine leere Leinwand, die abends die Lichter der Stadt einfing; der Wind, der durch die Autoskelette ging; Lyz, die sich dort immer auf dasselbe Auto fläzte und dann hinauf in den Himmel schaute. Die Pläne, die sie geschmiedet hatten – wie sie aus Escorial abhauen wollten, ihre Mutter und Kynoz mitnehmen und irgendwo ein neues Leben anfangen würden, weit weg von den Saints und Sinners, weg von der Goldenen Stadt.

02:43.

Der Nebel schnupperte jetzt zaghaft an ihnen, als wollte er erst testen, ob sie wirklich zu seiner Beute gehören würden. Téo lachte einmal, nur kurz, bevor seine Miene etwas Träumerisches annahm. »Das Meer«, murmelte er, die Stirn an dem kalten Stein, »ist endlich ruhig.« Es war kein Laut des Schmerzes, kein Laut der Angst, und dennoch klang er viel schrecklicher als alles, was sie je von ihm gehört hatte. Inez wollte »Bleib bei mir« wiederholen, doch das »Bleib« blieb an der Zunge hängen.

»Atmen«, sagte sie stattdessen, und sie zählten wieder langsam, versuchten, ihre Atemzüge bewusst zu setzen. Eins … zwei … drei …

Die Kälte des Marmors zog durch den Rücken in die Brust, und trotzdem wurde Inez warm. Ihr Herz schlug jetzt kräftig und bewusst, und für einen Moment war ihr Kopf so klar wie schon lange nicht mehr; er zeigte ihr Bilder mit leisen, kaum hörbaren Tönen: ein Sommertag in den Sandgruben von Vita Nera, eine staubige alte Lagerhalle, in der sie das Rauschen von Jetons hörte, die einen stählernen Schacht hinunterrutschten. Dann Augen, grau und blau, die rasch immer größer und zu dem rauschenden Meer selbst wurden. Über all dem hing ein eigenartiger Geruch von Lavendel, Weihrauch und warmem Metall, der sie schwindlig machte.

02:27. »Eins … zwei …«

Lyz schob sich näher an sie heran, so nah, dass der Fetzen an Inez’ Wange kratzte. »Weißt du noch«, flüsterte sie in den Stoff, »als wir den goldenen Handschuh geklaut haben und ich mir von den Edins dieses dumme Katzenpfötchen habe stechen lassen?«

Inez lachte leise und legte ihren Kopf an ihren. »Und wie die Tätowiererin dich zehnmal gefragt hatte, ob du dir wirklich sicher warst …«, sie hustete kurz. »Das war …« – sie suchte nach einem Wort, fand nur ein Gefühl – »… aber es sieht gut aus, Lyz. Es … sieht wirklich … gut aus.«

02:10.

Téo drehte den Kopf zu ihnen um und kicherte, ein kehliges Geräusch, das direkt aus einer Lunge kam. »Ich hab’s immer gewusst«, sagte er, ohne zu sagen, was. Vielleicht meinte er die Sprinkler, vielleicht sie; vielleicht meinte er einfach, dass sie lieber hätten ihm vertrauen sollen. »Ihr zwei«, setzte er an, brach ab, lächelte, und da war wieder dieses zarte, überforderte Grinsen. Sie merkte, wie sich sein Körper zunehmend entspannte.

Inez wollte widersprechen, die Dinge richtigstellen, doch der Dym hatte schon begonnen, ihr ein Gefühl der Ruhe zu geben. »Nicht einschlafen«, sagte sie. Dieses Wort, Schlaf, ging ihr so wunderbar einfach über die Lippen. »Nur zählen. Eins … eins … eins …«

Lyz’ Finger fanden ihre erneut, entschlossener diesmal. »Nez«, flüsterte Lyz, und sie klang traurig. »Falls … also nur falls …« Sie ließ den Satz hängen, als hätte sie den Faden verloren, und fand stattdessen Inez’ Wange. »Das vorhin – das war nicht nur Theater, oder?«

Der Dym horchte aufmerksam und ließ sie gewähren. Inez lächelte, fühlte, wie die Augen feucht wurden – ob vom Nebel oder von etwas anderem, war egal. »Ich fürchte«, raunte sie, »ich bin eine lausige Schauspielerin.« Lyz lachte und weinte in einem Ton, der ihr das Herz zuschnürte. Sie griff noch fester nach ihren Fingern. »Dann gehen wir wirklich ins Kino«, sagte sie, »wenn wir hier raus sind. Einverstanden?« Inez nickte nur und holte tief Luft. Lyz sollte sie nicht weinen sehen.

02:03.

Inez’ Brust hob und senkte sich im Takt einer langsamen Melodie. Sie drehte den Kopf und sah Téo, der auf den Marmor starrte, als wäre dort ein Code verborgen, den keiner außer ihm lesen konnte. »Téo«, sagte sie, »hab … keine Angst, okay?« Er nickte nur und rieb seine Hand an dem Marmor, zunächst mit schnellen Bewegungen, dann immer langsamer.

»Eins … zwei … drei …«, setzte Inez noch einmal an, aber das Zählen verzweigte sich, verlor sich in merkwürdigen Zeichen und Symbolen, die sie nicht deuten konnte. Die Geräusche um sie herum nahmen einen … weichen Ton an: das Summen hinter der Tür, das leise Arbeiten der Klimaanlage und irgendwo das Rollen der Jetons und das Klirren von Gläsern, die angestoßen wurden. Lyz’ Stirn lehnte jetzt an Inez’ Schulter, und Inez dachte wieder an diesen Geruch, daran, dass Lavendel und Rauch ganz gut zusammenpassten.

»Ich hab Angst«, sagte Lyz plötzlich, fast fröhlich, als sei ihr dieser Gedanke erst jetzt gekommen. »Ich auch«, antwortete Inez, und mit diesem einfachen Eingeständnis schwand ihr letzter Widerstand und erlaubte dem Dym, ihr endlich Ruhe vor dem zu geben, was unmittelbar bevorstand. »Ich hab dich wirklich gern, Nez«,

raunte Lyz, und es klang aufrichtig, als ob es nichts mit dem Dym zu tun hatte, der seinen filigranen Tanz um sie herum vollführte. »Wirklich … wirklich … gern.« Ihr Kopf sackte jetzt vollständig auf ihre Schulter und blieb dort liegen.

Inez kicherte, weil der Dym ihr ein leichtes Gefühl in der Brust gab, so, als ob sie noch einen La Golgotha getrunken hätte, der ihr heiß die Kehle hinunterrann und ein warmes Gefühl im Bauch machte, das ihr bis in die Zehenspitzen kroch. Sie nickte heftig, als hätte ihr jemand ein Geheimnis anvertraut, das nur für Kinderohren bestimmt war. »Ich dich auch«, sagte sie schlicht. Es war eine reine, ehrliche Tatsache.

Téo drehte den Kopf und hob die Hand, suchte blind, bis beide Mädchen sie fanden; drei Hände in der Mitte eines Raumes, in dem immer schneller die Zeit ablief.

01:47.

Inez dachte daran, dass Perfectio bei Dreiunddreißig lag und dass manche Zahlen gnädiger waren als andere. Sie schloss die Augen – nicht um zu fliehen, sondern um näher dran zu sein an den Dingen, an die sie jetzt denken wollte: das Autokino, Lyz’ Lachen, Téos umständliche Erklärungen, La Golgotha auf der Zunge, das körnige Gold, das aus dem Schädel gerieselt kam, als wäre er all die Jahrhunderte im goldenen Staub vergraben gewesen. Die Bilder schwammen gnädig vor ihrem Auge, wie die Fische, die Anais so mochte.

Seltsam, sie wurde das Gefühl nicht los, dass die alte Frau besonders enttäuscht von ihr wäre, so, als ob sie irgendetwas vergessen hätte. Doch der Gedanke zerfloss rasch im Fluss ihrer Gedanken.

»Eins«, sagte sie noch einmal, kaum hörbar, und spürte, wie sich die Schultern neben ihr immer langsamer hoben und senkten, bevor auch sie sich entspannte. Es war schon in Ordnung, dachte sie. Sie waren zusammen, sie waren hier, sie würden sich nur kurz ausruhen und danach ins Autokino gehen.

Die Rose im Boden atmete weiter, höflich und stetig, bemüht, ihre drei Gäste bloß nicht zu wecken, während über der Tür die letzte Minute fiel und das Licht erlosch.

Irgendwann im Laufe der Nacht würden Wachleute auf den wieder funktionierenden Kamerabildschirmen ein Bild sehen, das zunächst Verwunderung und schließlich Mitleid erwecken sollte. Drei Freunde, Arm in Arm auf dem Boden liegend, ihre Gesichter in einem seligen Lächeln gefangen – sie wirkten entspannt, wie sie da lagen und nach oben schauten, so, als würden sie im dunklen Marmor nach Sternen suchen. Die Beamten konnten nicht wissen, dass im letzten Augenblick ihres Lebens dasselbe Bild vor ihren Augen aufgeflackert war, kurz nur, wie Erinnerungen nun mal waren.

Zwei Mädchen auf der Motorhaube eines verrosteten Autos, ein Junge, der ihnen von Sternbildern erzählte, die es über Escorial nicht gab, über den Wind, der nach Regen roch, und davon, dass alles gut werden würde, wenn man nur lang genug die Luft anhalten könnte.

Dass alles gut werden würde, wenn man nicht allein war.







Der Nebel näherte sich ihnen nicht als gierige Welle, sondern als höflicher Gast: zögerlich, mit dem süßen Duft von Weihrauch und einem Hauch von Rose, den er mit sich trug. Sie kannte diesen Duft, hatte ihn tagein, tagaus in den Straßen von La Perdante wahrgenommen. Einmal hatte sie sogar selbst einen Zug genommen, als ein Éclatario der Maison, eine Art Unterhändler der Lamize-Casinos, mit ihnen nach erfolgreichem Auftrag feiern wollte.

Synthetisierter Dym machte den Kopf frei und ließ bewusst und genüsslich träumen – allerdings war es sehr leicht, zu wenig oder zu viel davon zu nehmen. Einige in La Perdante – die, die es sich leisten konnten –, versuchten, so lange wie möglich in dem süßen Dämmerzustand des Träumens zu verbleiben und sich das Leben auszumalen, das sie niemals haben würden. Manche erwachten und waren danach antriebslos und lethargisch, Hüllen ihrer Selbst.

Andere wachten einfach nicht mehr auf.

Aber wer konnte es ihnen denn wirklich übelnehmen? In Escorial war es an manchen Tagen verlockend, lieber zu träumen, als sich der kalten Wahrheit der Goldenen Stadt zu stellen. Inez selbst hatte zwar danach einen langen und intensiven Traum, der ihr allerdings mehr verwirrend als fesselnd vorkam – und die Kopfschmerzen waren es allemal nicht wert. Sie wusste, dass es Gerüchte gab, wonach die Familie Dolorea in dymgeschwängerten Träumen die Zukunft vorhersagen konnte.

Allerdings war es weitaus wahrscheinlicher, dass damit einfach die Nachfrage angekurbelt werden sollte.

Das Husten von Téo riss sie aus ihren Überlegungen, und sie warf einen schnellen Blick auf die Anzeige.

03:18. Die Rose im Boden atmete weiterhin genüsslich aus.

»Hinlegen«, zischte sie, und obwohl ihre Stimme kaum zu hören war, folgte ihr etwas, das größer war als Panik: Gehorsam. Lyz stand neben ihr und suchte fieberhaft die Decke ab, bevor sie schließlich zerknirscht nickte und sich an die Wand legte, möglichst weit weg von der dampfenden Rose. Neben ihr suchte Téo blind nach Halt, sein Overall bereits nass vom Nebel und von seiner Angst.

Er schaute sie mit aufgerissenen Augen an, und für einen Moment sah sie in ihm nicht den begnadeten Techie und besten Freund, der in jeder ausweglosen Situation mit etwas Klebeband und ein paar Kabeln ihren Hintern retten konnte. Nein, in den grauen Augen sah sie, wie jung er war, wie jung sie alle waren. Sie waren jung und dumm und hatten alle Angst davor, im süßen Nebel ihr Leben zu lassen.

03:02.

Inez zwang sich, weiterzusprechen, und riss sich mit einigen kurzen Bewegungen Stücke ihres Kleides ab. Sie drückte ihnen die roten Fetzen in die Hand. »Hier, haltet euch das vor das Gesicht … und dann ruhig atmen, ganz ruhig, hört ihr? Téo, hörst du mich?« Sie packte sein Gesicht und schüttelte ihn leicht. »Was ist schon etwas Luft anhalten, oder? Das macht doch nichts.« Sie zwang sich zu einem Lächeln und wandte sich dann Lyz zu. »Du auch, Liebes. Ganz ruhig und vorsichtig, alles klar? Hier, ich zähle für euch mit.«

Sie wusste, es war lächerlich, den Versuch zu unternehmen, so lange die Luft anzuhalten. Sie durften nur nicht zu viel von dem Dym einatmen. Was war da schon eine kleine Dosis? Vielleicht würde es ihnen sogar dabei helfen, die vor ihnen liegenden Gefahren zu bewältigen. Das wäre doch was: völlig zugedröhnt La Golgotha stehlen und zu Legenden werden … Sie merkte, wie sich in ihrem Kopf ein leichter Wirbel zu drehen begann, und kniff sich in den Arm. Sie musste an den Dym denken, an eine Lösung aus ihrer Misere.

Der Geruch war inzwischen ganz deutlich: Es roch nach alter Kirche und einer Süße, die sie aus den Gärten von La Gagnante kannte. Es roch nach Kindheit in der Viadombra, nach Regen und Staub. Eine kleine Träne schlich sich in ihr Auge, die sie mit dem Handrücken unwirsch beiseiteschob.

»Bleib hier, verstanden? Zähl bis fünf … einatmen … dann wieder bis fünf … ausatmen.«

Téo nickte, sein Kopf ein zitterndes Etwas, das auf und ab schwang. Er atmete jetzt ruhiger, die Augen geschlossen, die Wimpern feucht. »Kann ich …« Er setzte an, irgendetwas zu sagen, vielleicht selbst Trost zu spenden, doch Inez ließ es nicht zu. »Nicht reden«, hauchte sie. »Spar’s dir. Bei fünf atmen wir aus.« Und wieder: »Eins … zwei … drei … vier … fünf.«

Am Rand ihres Blickfeldes merkte sie, wie Lyz hin- und herrutschte, die Augen abwechselnd auf den Nebel und die Rohre über ihr gerichtet. »Nez …«, begann sie, der Tuchfetzen zitternd über ihrem Mund, die Pupillen groß wie die Lichter über dem Strip.

Inez streckte die Hand hinüber, suchte ihre Finger, fand sie, drückte zu. »Bei mir bleiben«, sagte sie. »Wir schaffen die fünf Minuten. Wir haben schon Schlimmeres überlebt, weißt du noch?« Lyz schenkte ihr ein Lächeln – zumindest meinte sie es an ihren Augen zu erkennen, die hinter dem blutroten Fetzen hervorlugten. Diese schönen, blauen Augen …

»Eins … zwei … drei … vier … fünf.«

Sie versuchte, an das Autokino zu denken, das Versprechen, das sie sich im Lagerraum gegeben hatten – eine leere Leinwand, die abends die Lichter der Stadt einfing; der Wind, der durch die Autoskelette ging; Lyz, die sich dort immer auf dasselbe Auto fläzte und dann hinauf in den Himmel schaute. Die Pläne, die sie geschmiedet hatten – wie sie aus Escorial abhauen wollten, ihre Mutter und Kynoz mitnehmen und irgendwo ein neues Leben anfangen würden, weit weg von den Saints und Sinners, weg von der Goldenen Stadt.

02:43.

Der Nebel schnupperte jetzt zaghaft an ihnen, als wollte er erst testen, ob sie wirklich zu seiner Beute gehören würden.

Téo lachte einmal, nur kurz, bevor seine Miene etwas Träumerisches annahm. »Das Meer«, murmelte er, die Stirn an dem kalten Stein, »ist endlich ruhig.« Es war kein Laut des Schmerzes, kein Laut der Angst, und dennoch klang er viel schrecklicher als alles, was sie je von ihm gehört hatte. Inez wollte »Bleib bei mir« wiederholen, doch das »Bleib« blieb an der Zunge hängen.

»Atmen«, sagte sie stattdessen, und sie zählten wieder langsam, versuchten, ihre Atemzüge bewusst zu setzen. Eins … zwei … drei …

Die Kälte des Marmors zog durch den Rücken in die Brust, und trotzdem wurde Inez warm. Ihr Herz schlug jetzt kräftig und bewusst, und für einen Moment war ihr Kopf so klar wie schon lange nicht mehr; er zeigte ihr Bilder mit leisen, kaum hörbaren Tönen: ein Sommertag in den Sandgruben von Vita Nera, eine staubige alte Lagerhalle, in der sie das Rauschen von Jetons hörte, die einen stählernen Schacht hinunterrutschten.

Dann Augen, grau und blau, die rasch immer größer und zu dem rauschenden Meer selbst wurden. Über all dem hing ein eigenartiger Geruch von Lavendel, Weihrauch und warmem Metall, der sie schwindlig machte.

02:27. »Eins … zwei …«

Lyz schob sich näher an sie heran, so nah, dass der Fetzen an Inez’ Wange kratzte. »Weißt du noch«, flüsterte sie in den Stoff, »als wir den goldenen Handschuh geklaut haben und ich mir von den Edins dieses dumme Katzenpfötchen habe stechen lassen?«

Inez lachte leise und legte ihren Kopf an ihren. »Und wie die Tätowiererin dich zehnmal gefragt hatte, ob du dir wirklich sicher warst …«, sie hustete kurz. »Das war …« – sie suchte nach einem Wort, fand nur ein Gefühl – »… aber es sieht gut aus, Lyz. Es … sieht wirklich … gut aus.«

02:10.

Téo drehte den Kopf zu ihnen um und kicherte, ein kehliges Geräusch, das direkt aus einer Lunge kam. »Ich hab’s immer gewusst«, sagte er, ohne zu sagen, was. Vielleicht meinte er die Sprinkler, vielleicht sie; vielleicht meinte er einfach, dass sie lieber hätten ihm vertrauen sollen. »Ihr zwei«, setzte er an, brach ab, lächelte, und da war wieder dieses zarte, überforderte Grinsen. Sie merkte, wie sich sein Körper zunehmend entspannte.

Inez wollte widersprechen, die Dinge richtigstellen, doch der Dym hatte schon begonnen, ihr ein Gefühl der Ruhe zu geben. »Nicht einschlafen«, sagte sie. Dieses Wort, Schlaf, ging ihr so wunderbar einfach über die Lippen. »Nur zählen. Eins … eins … eins …«

Lyz’ Finger fanden ihre erneut, entschlossener diesmal. »Nez«, flüsterte Lyz, und sie klang traurig. »Falls … also nur falls …« Sie ließ den Satz hängen, als hätte sie den Faden verloren, und fand stattdessen Inez’ Wange. »Das vorhin – das war nicht nur Theater, oder?«

Der Dym horchte aufmerksam und ließ sie gewähren. Inez lächelte, fühlte, wie die Augen feucht wurden – ob vom Nebel oder von etwas anderem, war egal.

»Ich fürchte«, raunte sie, »ich bin eine lausige Schauspielerin.« Lyz lachte und weinte in einem Ton, der ihr das Herz zuschnürte. Sie griff noch fester nach ihren Fingern. »Dann gehen wir wirklich ins Kino«, sagte sie, »wenn wir hier raus sind. Einverstanden?« Inez nickte nur und holte tief Luft. Lyz sollte sie nicht weinen sehen.

02:03.

Inez’ Brust hob und senkte sich im Takt einer langsamen Melodie. Sie drehte den Kopf und sah Téo, der auf den Marmor starrte, als wäre dort ein Code verborgen, den keiner außer ihm lesen konnte. »Téo«, sagte sie, »hab … keine Angst, okay?« Er nickte nur und rieb seine Hand an dem Marmor, zunächst mit schnellen Bewegungen, dann immer langsamer.

»Eins … zwei … drei …«, setzte Inez noch einmal an, aber das Zählen verzweigte sich, verlor sich in merkwürdigen Zeichen und Symbolen, die sie nicht deuten konnte. Die Geräusche um sie herum nahmen einen … weichen Ton an: das Summen hinter der Tür, das leise Arbeiten der Klimaanlage und irgendwo das Rollen der Jetons und das Klirren von Gläsern, die angestoßen wurden. Lyz’ Stirn lehnte jetzt an Inez’ Schulter, und Inez dachte wieder an diesen Geruch, daran, dass Lavendel und Rauch ganz gut zusammenpassten.

»Ich hab Angst«, sagte Lyz plötzlich, fast fröhlich, als sei ihr dieser Gedanke erst jetzt gekommen. »Ich auch«, antwortete Inez, und mit diesem einfachen Eingeständnis schwand ihr letzter Widerstand und erlaubte dem Dym, ihr endlich Ruhe vor dem zu geben, was unmittelbar bevorstand.

»Ich hab dich wirklich gern, Nez«, raunte Lyz, und es klang aufrichtig, als ob es nichts mit dem Dym zu tun hatte, der seinen filigranen Tanz um sie herum vollführte. »Wirklich … wirklich … gern.« Ihr Kopf sackte jetzt vollständig auf ihre Schulter und blieb dort liegen.

Inez kicherte, weil der Dym ihr ein leichtes Gefühl in der Brust gab, so, als ob sie noch einen La Golgotha getrunken hätte, der ihr heiß die Kehle hinunterrann und ein warmes Gefühl im Bauch machte, das ihr bis in die Zehenspitzen kroch. Sie nickte heftig, als hätte ihr jemand ein Geheimnis anvertraut, das nur für Kinderohren bestimmt war. »Ich dich auch«, sagte sie schlicht. Es war eine reine, ehrliche Tatsache.

Téo drehte den Kopf und hob die Hand, suchte blind, bis beide Mädchen sie fanden; drei Hände in der Mitte eines Raumes, in dem immer schneller die Zeit ablief.

01:47.

Inez dachte daran, dass Perfectio bei Dreiunddreißig lag und dass manche Zahlen gnädiger waren als andere.

Sie schloss die Augen – nicht um zu fliehen, sondern um näher dran zu sein an den Dingen, an die sie jetzt denken wollte: das Autokino, Lyz’ Lachen, Téos umständliche Erklärungen, La Golgotha auf der Zunge, das körnige Gold, das aus dem Schädel gerieselt kam, als wäre er all die Jahrhunderte im goldenen Staub vergraben gewesen. Die Bilder schwammen gnädig vor ihrem Auge, wie die Fische, die Anais so mochte.

Seltsam, sie wurde das Gefühl nicht los, dass die alte Frau besonders enttäuscht von ihr wäre, so, als ob sie irgendetwas vergessen hätte. Doch der Gedanke zerfloss rasch im Fluss ihrer Gedanken.

»Eins«, sagte sie noch einmal, kaum hörbar, und spürte, wie sich die Schultern neben ihr immer langsamer hoben und senkten, bevor auch sie sich entspannte. Es war schon in Ordnung, dachte sie. Sie waren zusammen, sie waren hier, sie würden sich nur kurz ausruhen und danach ins Autokino gehen.

Die Rose im Boden atmete weiter, höflich und stetig, bemüht, ihre drei Gäste bloß nicht zu wecken, während über der Tür die letzte Minute fiel und das Licht erlosch.

Irgendwann im Laufe der Nacht würden Wachleute auf den wieder funktionierenden Kamerabildschirmen ein Bild sehen, das zunächst Verwunderung und schließlich Mitleid erwecken sollte. Drei Freunde, Arm in Arm auf dem Boden liegend, ihre Gesichter in einem seligen Lächeln gefangen – sie wirkten entspannt, wie sie da lagen und nach oben schauten, so, als würden sie im dunklen Marmor nach Sternen suchen. Die Beamten konnten nicht wissen, dass im letzten Augenblick ihres Lebens dasselbe Bild vor ihren Augen aufgeflackert war, kurz nur, wie Erinnerungen nun mal waren.

Zwei Mädchen auf der Motorhaube eines verrosteten Autos, ein Junge, der ihnen von Sternbildern erzählte, die es über Escorial nicht gab, über den Wind, der nach Regen roch, und davon, dass alles gut werden würde, wenn man nur lang genug die Luft anhalten könnte.

Dass alles gut werden würde, wenn man nicht allein war.









Der Nebel näherte sich ihnen nicht als gierige Welle, sondern als höflicher Gast: zögerlich, mit dem süßen Duft von Weihrauch und einem Hauch von Rose, den er mit sich trug. Sie kannte diesen Duft, hatte ihn tagein, tagaus in den Straßen von La Perdante wahrgenommen. Einmal hatte sie sogar selbst einen Zug genommen, als ein Éclatario der Maison, eine Art Unterhändler der Lamize-Casinos, mit ihnen nach erfolgreichem Auftrag feiern wollte.

Synthetisierter Dym machte den Kopf frei und ließ bewusst und genüsslich träumen – allerdings war es sehr leicht, zu wenig oder zu viel davon zu nehmen. Einige in La Perdante – die, die es sich leisten konnten –, versuchten, so lange wie möglich in dem süßen Dämmerzustand des Träumens zu verbleiben und sich das Leben auszumalen, das sie niemals haben würden. Manche erwachten und waren danach antriebslos und lethargisch, Hüllen ihrer Selbst.

Andere wachten einfach nicht mehr auf.

Aber wer konnte es ihnen denn wirklich übelnehmen? In Escorial war es an manchen Tagen verlockend, lieber zu träumen, als sich der kalten Wahrheit der Goldenen Stadt zu stellen. Inez selbst hatte zwar danach einen langen und intensiven Traum, der ihr allerdings mehr verwirrend als fesselnd vorkam – und die Kopfschmerzen waren es allemal nicht wert. Sie wusste, dass es Gerüchte gab, wonach die Familie Dolorea in dymgeschwängerten Träumen die Zukunft vorhersagen konnte.

Allerdings war es weitaus wahrscheinlicher, dass damit einfach die Nachfrage angekurbelt werden sollte.

Das Husten von Téo riss sie aus ihren Überlegungen, und sie warf einen schnellen Blick auf die Anzeige.

03:18. Die Rose im Boden atmete weiterhin genüsslich aus.

»Hinlegen«, zischte sie, und obwohl ihre Stimme kaum zu hören war, folgte ihr etwas, das größer war als Panik: Gehorsam. Lyz stand neben ihr und suchte fieberhaft die Decke ab, bevor sie schließlich zerknirscht nickte und sich an die Wand legte, möglichst weit weg von der dampfenden Rose. Neben ihr suchte Téo blind nach Halt, sein Overall bereits nass vom Nebel und von seiner Angst.

Er schaute sie mit aufgerissenen Augen an, und für einen Moment sah sie in ihm nicht den begnadeten Techie und besten Freund, der in jeder ausweglosen Situation mit etwas Klebeband und ein paar Kabeln ihren Hintern retten konnte. Nein, in den grauen Augen sah sie, wie jung er war, wie jung sie alle waren. Sie waren jung und dumm und hatten alle Angst davor, im süßen Nebel ihr Leben zu lassen.

03:02.

Inez zwang sich, weiterzusprechen, und riss sich mit einigen kurzen Bewegungen Stücke ihres Kleides ab. Sie drückte ihnen die roten Fetzen in die Hand. »Hier, haltet euch das vor das Gesicht … und dann ruhig atmen, ganz ruhig, hört ihr? Téo, hörst du mich?« Sie packte sein Gesicht und schüttelte ihn leicht. »Was ist schon etwas Luft anhalten, oder? Das macht doch nichts.« Sie zwang sich zu einem Lächeln und wandte sich dann Lyz zu. »Du auch, Liebes. Ganz ruhig und vorsichtig, alles klar? Hier, ich zähle für euch mit.«

Sie wusste, es war lächerlich, den Versuch zu unternehmen, so lange die Luft anzuhalten. Sie durften nur nicht zu viel von dem Dym einatmen. Was war da schon eine kleine Dosis? Vielleicht würde es ihnen sogar dabei helfen, die vor ihnen liegenden Gefahren zu bewältigen. Das wäre doch was: völlig zugedröhnt La Golgotha stehlen und zu Legenden werden … Sie merkte, wie sich in ihrem Kopf ein leichter Wirbel zu drehen begann, und kniff sich in den Arm. Sie musste an den Dym denken, an eine Lösung aus ihrer Misere.

Der Geruch war inzwischen ganz deutlich: Es roch nach alter Kirche und einer Süße, die sie aus den Gärten von La Gagnante kannte. Es roch nach Kindheit in der Viadombra, nach Regen und Staub. Eine kleine Träne schlich sich in ihr Auge, die sie mit dem Handrücken unwirsch beiseiteschob.

»Bleib hier, verstanden? Zähl bis fünf … einatmen … dann wieder bis fünf … ausatmen.«

Téo nickte, sein Kopf ein zitterndes Etwas, das auf und ab schwang. Er atmete jetzt ruhiger, die Augen geschlossen, die Wimpern feucht. »Kann ich …« Er setzte an, irgendetwas zu sagen, vielleicht selbst Trost zu spenden, doch Inez ließ es nicht zu. »Nicht reden«, hauchte sie. »Spar’s dir. Bei fünf atmen wir aus.« Und wieder: »Eins … zwei … drei … vier … fünf.«

Am Rand ihres Blickfeldes merkte sie, wie Lyz hin- und herrutschte, die Augen abwechselnd auf den Nebel und die Rohre über ihr gerichtet. »Nez …«, begann sie, der Tuchfetzen zitternd über ihrem Mund, die Pupillen groß wie die Lichter über dem Strip.

Inez streckte die Hand hinüber, suchte ihre Finger, fand sie, drückte zu. »Bei mir bleiben«, sagte sie. »Wir schaffen die fünf Minuten. Wir haben schon Schlimmeres überlebt, weißt du noch?« Lyz schenkte ihr ein Lächeln – zumindest meinte sie es an ihren Augen zu erkennen, die hinter dem blutroten Fetzen hervorlugten. Diese schönen, blauen Augen …

»Eins … zwei … drei … vier … fünf.«

Sie versuchte, an das Autokino zu denken, das Versprechen, das sie sich im Lagerraum gegeben hatten – eine leere Leinwand, die abends die Lichter der Stadt einfing; der Wind, der durch die Autoskelette ging; Lyz, die sich dort immer auf dasselbe Auto fläzte und dann hinauf in den Himmel schaute. Die Pläne, die sie geschmiedet hatten – wie sie aus Escorial abhauen wollten, ihre Mutter und Kynoz mitnehmen und irgendwo ein neues Leben anfangen würden, weit weg von den Saints und Sinners, weg von der Goldenen Stadt.

02:43.

Der Nebel schnupperte jetzt zaghaft an ihnen, als wollte er erst testen, ob sie wirklich zu seiner Beute gehören würden.

Téo lachte einmal, nur kurz, bevor seine Miene etwas Träumerisches annahm. »Das Meer«, murmelte er, die Stirn an dem kalten Stein, »ist endlich ruhig.« Es war kein Laut des Schmerzes, kein Laut der Angst, und dennoch klang er viel schrecklicher als alles, was sie je von ihm gehört hatte. Inez wollte »Bleib bei mir« wiederholen, doch das »Bleib« blieb an der Zunge hängen.

»Atmen«, sagte sie stattdessen, und sie zählten wieder langsam, versuchten, ihre Atemzüge bewusst zu setzen. Eins … zwei … drei …

Die Kälte des Marmors zog durch den Rücken in die Brust, und trotzdem wurde Inez warm. Ihr Herz schlug jetzt kräftig und bewusst, und für einen Moment war ihr Kopf so klar wie schon lange nicht mehr; er zeigte ihr Bilder mit leisen, kaum hörbaren Tönen: ein Sommertag in den Sandgruben von Vita Nera, eine staubige alte Lagerhalle, in der sie das Rauschen von Jetons hörte, die einen stählernen Schacht hinunterrutschten.

Dann Augen, grau und blau, die rasch immer größer und zu dem rauschenden Meer selbst wurden. Über all dem hing ein eigenartiger Geruch von Lavendel, Weihrauch und warmem Metall, der sie schwindlig machte.

02:27. »Eins … zwei …«

Lyz schob sich näher an sie heran, so nah, dass der Fetzen an Inez’ Wange kratzte. »Weißt du noch«, flüsterte sie in den Stoff, »als wir den goldenen Handschuh geklaut haben und ich mir von den Edins dieses dumme Katzenpfötchen habe stechen lassen?«

Inez lachte leise und legte ihren Kopf an ihren. »Und wie die Tätowiererin dich zehnmal gefragt hatte, ob du dir wirklich sicher warst …«, sie hustete kurz. »Das war …« – sie suchte nach einem Wort, fand nur ein Gefühl – »… aber es sieht gut aus, Lyz. Es … sieht wirklich … gut aus.«

02:10.

Téo drehte den Kopf zu ihnen um und kicherte, ein kehliges Geräusch, das direkt aus einer Lunge kam. »Ich hab’s immer gewusst«, sagte er, ohne zu sagen, was. Vielleicht meinte er die Sprinkler, vielleicht sie; vielleicht meinte er einfach, dass sie lieber hätten ihm vertrauen sollen. »Ihr zwei«, setzte er an, brach ab, lächelte, und da war wieder dieses zarte, überforderte Grinsen. Sie merkte, wie sich sein Körper zunehmend entspannte.

Inez wollte widersprechen, die Dinge richtigstellen, doch der Dym hatte schon begonnen, ihr ein Gefühl der Ruhe zu geben. »Nicht einschlafen«, sagte sie. Dieses Wort, Schlaf, ging ihr so wunderbar einfach über die Lippen. »Nur zählen. Eins … eins … eins …«

Lyz’ Finger fanden ihre erneut, entschlossener diesmal. »Nez«, flüsterte Lyz, und sie klang traurig. »Falls … also nur falls …« Sie ließ den Satz hängen, als hätte sie den Faden verloren, und fand stattdessen Inez’ Wange. »Das vorhin – das war nicht nur Theater, oder?«

Der Dym horchte aufmerksam und ließ sie gewähren. Inez lächelte, fühlte, wie die Augen feucht wurden – ob vom Nebel oder von etwas anderem, war egal.

»Ich fürchte«, raunte sie, »ich bin eine lausige Schauspielerin.« Lyz lachte und weinte in einem Ton, der ihr das Herz zuschnürte. Sie griff noch fester nach ihren Fingern. »Dann gehen wir wirklich ins Kino«, sagte sie, »wenn wir hier raus sind. Einverstanden?« Inez nickte nur und holte tief Luft. Lyz sollte sie nicht weinen sehen.

02:03.

Inez’ Brust hob und senkte sich im Takt einer langsamen Melodie. Sie drehte den Kopf und sah Téo, der auf den Marmor starrte, als wäre dort ein Code verborgen, den keiner außer ihm lesen konnte. »Téo«, sagte sie, »hab … keine Angst, okay?« Er nickte nur und rieb seine Hand an dem Marmor, zunächst mit schnellen Bewegungen, dann immer langsamer.

»Eins … zwei … drei …«, setzte Inez noch einmal an, aber das Zählen verzweigte sich, verlor sich in merkwürdigen Zeichen und Symbolen, die sie nicht deuten konnte. Die Geräusche um sie herum nahmen einen … weichen Ton an: das Summen hinter der Tür, das leise Arbeiten der Klimaanlage und irgendwo das Rollen der Jetons und das Klirren von Gläsern, die angestoßen wurden. Lyz’ Stirn lehnte jetzt an Inez’ Schulter, und Inez dachte wieder an diesen Geruch, daran, dass Lavendel und Rauch ganz gut zusammenpassten.

»Ich hab Angst«, sagte Lyz plötzlich, fast fröhlich, als sei ihr dieser Gedanke erst jetzt gekommen. »Ich auch«, antwortete Inez, und mit diesem einfachen Eingeständnis schwand ihr letzter Widerstand und erlaubte dem Dym, ihr endlich Ruhe vor dem zu geben, was unmittelbar bevorstand.

»Ich hab dich wirklich gern, Nez«, raunte Lyz, und es klang aufrichtig, als ob es nichts mit dem Dym zu tun hatte, der seinen filigranen Tanz um sie herum vollführte. »Wirklich … wirklich … gern.« Ihr Kopf sackte jetzt vollständig auf ihre Schulter und blieb dort liegen.

Inez kicherte, weil der Dym ihr ein leichtes Gefühl in der Brust gab, so, als ob sie noch einen La Golgotha getrunken hätte, der ihr heiß die Kehle hinunterrann und ein warmes Gefühl im Bauch machte, das ihr bis in die Zehenspitzen kroch. Sie nickte heftig, als hätte ihr jemand ein Geheimnis anvertraut, das nur für Kinderohren bestimmt war. »Ich dich auch«, sagte sie schlicht. Es war eine reine, ehrliche Tatsache.

Téo drehte den Kopf und hob die Hand, suchte blind, bis beide Mädchen sie fanden; drei Hände in der Mitte eines Raumes, in dem immer schneller die Zeit ablief.

01:47.

Inez dachte daran, dass Perfectio bei Dreiunddreißig lag und dass manche Zahlen gnädiger waren als andere.

Sie schloss die Augen – nicht um zu fliehen, sondern um näher dran zu sein an den Dingen, an die sie jetzt denken wollte: das Autokino, Lyz’ Lachen, Téos umständliche Erklärungen, La Golgotha auf der Zunge, das körnige Gold, das aus dem Schädel gerieselt kam, als wäre er all die Jahrhunderte im goldenen Staub vergraben gewesen. Die Bilder schwammen gnädig vor ihrem Auge, wie die Fische, die Anais so mochte.

Seltsam, sie wurde das Gefühl nicht los, dass die alte Frau besonders enttäuscht von ihr wäre, so, als ob sie irgendetwas vergessen hätte. Doch der Gedanke zerfloss rasch im Fluss ihrer Gedanken.

»Eins«, sagte sie noch einmal, kaum hörbar, und spürte, wie sich die Schultern neben ihr immer langsamer hoben und senkten, bevor auch sie sich entspannte. Es war schon in Ordnung, dachte sie. Sie waren zusammen, sie waren hier, sie würden sich nur kurz ausruhen und danach ins Autokino gehen.

Die Rose im Boden atmete weiter, höflich und stetig, bemüht, ihre drei Gäste bloß nicht zu wecken, während über der Tür die letzte Minute fiel und das Licht erlosch.

Irgendwann im Laufe der Nacht würden Wachleute auf den wieder funktionierenden Kamerabildschirmen ein Bild sehen, das zunächst Verwunderung und schließlich Mitleid erwecken sollte. Drei Freunde, Arm in Arm auf dem Boden liegend, ihre Gesichter in einem seligen Lächeln gefangen – sie wirkten entspannt, wie sie da lagen und nach oben schauten, so, als würden sie im dunklen Marmor nach Sternen suchen. Die Beamten konnten nicht wissen, dass im letzten Augenblick ihres Lebens dasselbe Bild vor ihren Augen aufgeflackert war, kurz nur, wie Erinnerungen nun mal waren.

Zwei Mädchen auf der Motorhaube eines verrosteten Autos, ein Junge, der ihnen von Sternbildern erzählte, die es über Escorial nicht gab, über den Wind, der nach Regen roch, und davon, dass alles gut werden würde, wenn man nur lang genug die Luft anhalten könnte.

Dass alles gut werden würde, wenn man nicht allein war.








ENDE 6: WIE FISCHE IM WASSER

ENDE 6: wie fische im wasser

ENDE 6: wie fische im wasser