




DIE SPRINKLER AUSLÖSEN
Das Gas kam bedrohlich näher, ein süßer Teppich mit gierigen Fäden, die um sich griffen. Er streifte bereits ihre Knöchel, nur um dann einen Moment zurückzuweichen, als ob er mit ihnen spielen wollte. Sie mussten schnell eine Lösung finden und dafür sorgen, dass dieser schwarze Marmorraum nicht zu ihrer Krypta werden würde.
Inez merkte, wie Téo neben ihr seine Arbeit für einen Moment unterbrach und zurückwich, sich noch mehr an die Wand presste – zu schnell, zu hektisch, als dass er jetzt einen klaren Gedanken fassen könnte. Nein, auf Téo konnte sie jetzt nicht setzen, zu groß das Risiko, dass der Dym ihn ausknocken würde.
»Bleib bei mir«, raunte sie und legte ihm eine Hand in den Nacken, um ihn dann Schritt für Schritt in die Hocke zu führen, den Rücken an die schwarze Marmorwand, die unter ihren Fingern vibrierte, möglichst weit weg von den Dämpfen der Rose. Dann riss sie aus dem Saum ihres Kleides drei Fetzen Stoff heraus – eine winzige Sekunde das nun ruinierte Kleid bedauernd – und presste den Stoff vor Téos Mund; er nickte nur und bedeckte Mund und Nase.
Einen zweiten Lappen presste sie gegen ihre eigenen Lippen, bevor sie aus den Augenwinkeln Lyz sah, die den Kopf in den Nacken warf und in der Decke nach einem Zugang zu den Sprinklern suchte. Sie merkte, wie auch Lyz’ Hand leicht zitterte, obwohl sie es sich nicht anmerken ließ. Drei Minuten lang die Luft anhalten? Bis dahin wären sie entweder völlig zugedröhnt, bereits im Sterben – oder beides. Nein, sie hatte es schon geahnt, als Lyz das erste Mal von den Sprinklern sprach: Diese leise Hoffnung, das Wasser – einfaches Wasser! – würde ihr Leben retten, war jetzt der einzige Plan, der noch irgendwelche realistischen Chancen hatte. Lyz war jetzt ihre einzige realistische Rettung.
»Wie komm ich zu euch kleinen idiotas …«, murmelte Lyz. Sie sah zu einem der goldenen Wagen, in denen sie noch vor einigen Minuten gehockt hatten, und stieß ein kurzes, anerkennendes Pfeifen aus. »Das sollte gehen …« Sofort zog sie ihre Schuhe aus und zog den Absatz von beiden in zwei kurzen Bewegungen ab. In ihrer Hand lagen nun zwei runde, dünne Stifte, die sie in aller Seelenruhe abschraubte, so, als wollte sie nur mal schnell ihr Make-up auffrischen. Der Dietrich, der aussah wie ein etwas zu futuristisch geratener Autoschlüssel, war schnell zusammengesetzt.
Geübt ließ sie ihn in ihren Fingern wandern, bis sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Wagen richtete. Sie tippte mit zwei Fingern gegen die Front, prüfte die Rollen und stieß ihn dann mit einem knappen Hüftschwung direkt unter ein Stahlrohr, das bis zum Boden reichte. Noch während der Wagen rollte, sprang sie leichtfüßig darauf – nur um dann sofort wieder abzurutschen und sich mit einer Hand festzuhalten. Sie fluchte leise und grinste Inez an, zuckte nur mit den Schultern, als wollte sie sagen: Schau mich nicht so an, eleganter wird’s nicht mehr.
»Lyz, wenn du fällst-« Inez brach ab und warf einen kurzen Blick zu Téo, bevor sie ihre Stimme senkte. »Und wenn’s nicht klappt?«
»Sei nicht immer so pessimistisch, Nez«, sagte Lyz und zwinkerte ihr zu – bevor sie ein Hustenanfall packte und sie beinahe von der Kiste fiel.
Alles schien langsamer zu werden: ihr Herzschlag, der Dym, der sich elegant nach oben drehte, und auch Lyz, die noch wie verrückt hustete.
Nein. Nicht Lyz.
»Lyz!« Für einen Moment blieb ihr das Herz stehen, und sie streckte hilflos die Hand aus. War es das gewesen? Hatte Lyz bereits eine tödliche Dosis eingeatmet und würde jetzt einfach vor ihnen zusammenbrechen, ihren letzten Atemzug tun, nie wieder …
»Mach dir nicht ins Hemd.« Lyz hatte sich wieder aufgerichtet und schüttelte nur den Kopf. »Lass mich einfach machen, Liebes. Obwohl …« – sie hob süffisant eine Augenbraue – »… wenn du immer so reagierst, wenn du dir Sorgen um mich machst …«
Lyz stemmte den Wagen endgültig unter das Rohr, stellte sich auf die Reling und griff zu. Nachdem sie ein paarmal an dem Stahl gezogen hatte, nickte sie zufrieden, nahm den Dietrich zwischen die Zähne und begann, ihre Füße an der Wand zu platzieren und Halt zu finden. Ein Rad des Wagens quietschte, und die ganze Kiste rollte zurück, bevor Lyz schließlich begann, das Stahlrohr hinaufzuklettern. Sie war auf direktem Wege zu einem winzigen Vorsprung ganz am Ende des Rohrs, auf dem sie – mit ganz viel Glück – für einen Moment lang stehen konnte, um sich zum Sprinkler zu strecken.
Inez erwischte sich dabei, wie sie den Atem anhielt und ihre Augen ihrer Freundin folgten. Ob sie es wahrhaben wollten oder nicht: Würde Lyz scheitern, dann würde das Trio sein unschönes Ende am Fuße dieser Rose finden. Selbst wenn Lyz es irgendwie schaffen sollte, den Sprinkler zu aktivieren, stand noch lange nicht fest, dass das Wasser irgendetwas mit dem Dym machen würde.
Vielleicht käme es nur noch schlimmer, und sie hätten ein neues, noch toxischeres Gemisch, das ihnen ein schnelleres Ende bereiten würde.
Und dennoch … ein einzelner Gedanke, den sie nicht zu fassen bekam, schlich sich in ihren Kopf und wollte nicht mehr gehen. Wieso nur fühlte sie sich so zuversichtlich, dass Wasser helfen würde? Hatte sie bereits zu viel Dym eingeatmet? Sie schüttelte den Kopf und gab sich einen Ruck. Hier unten konnte sie Lyz nicht helfen – Téo allerdings schon. Kurz riskierte sie einen Blick zur Anzeige.
02:47. Zu langsam. Viel zu langsam. Schon jetzt merkte sie, wie ihr schummrig wurde. Das Keuchen von Téo holte sie wieder zurück.
Heute Nacht würden sie niemanden verlieren.
Sie rannte zu ihrem Freund, der sich an die Wand gelehnt hatte, während die nebligen Fäden bereits gierig an seiner Kleidung zogen. Sofort kniete sie sich neben ihn, bemüht, so wenig und so langsam wie möglich zu atmen. Téos Augen flatterten.
»Nez«, flüsterte er durch den Stoff, der schon nach Dym roch, nach Kirche und Metall, »ich werde hyperventilieren, nur damit du’s weißt.« Er versuchte zu lächeln, aber seine Hände zitterten unentwegt, sodass er sie umso stärker zusammenkrampfte.
»Nicht heute«, sagte Inez. »Bleib bei mir. Ganz ruhig, Téo. Denk an was Schönes. Denk dran, dass du wieder stundenlang an diesen alten Automaten rumschrauben kannst, wenn wir zurück sind. Langsam.« Sie legte seine Handfläche sanft auf ihren Bauch, wie eine Mutter bei ihrem Kind, und nahm ihn an der Hand. Behutsam atmete sie ein, so gemächlich, dass das Einatmen kaum zu hören war, und aus, bis ihre Rippen sanft wieder zur Ruhe kamen. Ihr Kopf drehte sich jetzt immer stärker, und eine verräterische Wärme breitete sich in ihrer Brust aus. Sie versuchte es zu ignorieren und zwang sich zu einem Lächeln, das hoffentlich ihre Augen erreichte. »Zähl’s mir nach.« Er nickte.
Eins–zwei–drei. Der Zeiger über der Tür quälte sich zu 01:59. Verflucht, wie lange konnten drei Minuten dauern?
Dann hörte sie ein angestrengtes Stöhnen und schaute nach oben.
Lyz hatte es irgendwie geschafft, ihren einen Fuß im Rohr zu verkeilen und mit dem anderen Halt auf dem Vorsprung zu finden. In dieser angestrengten Position verrenkte sie sich in Richtung des Sprinklers, der Dietrich bereits in den metallenen Einzelteilen der Vorrichtung versenkt. Sie ließ ihn ein winziges Stück arbeiten, millimeterweise, schraubte so lange darin herum, bis er schließlich tiefer in das Innenleben sank – und sie alle etwas hörten.
Ein kurzer, metallischer Klick, kein zerbrochenes Glas oder brechendes Metall, eher ein Anzeichen dafür, dass sie auf dem richtigen Weg waren. Und doch gab die Ampulle nicht sofort nach, widersetzte sich dem stählernen Dietrich.
Sie hörte, wie Lyz frustriert keuchte. »Mach schon, du dummes …« Sie drehte den Dietrich weiter und zitterte inzwischen am ganzen Körper, ihr Fuß langsam, aber sicher auf dem Weg, sich vom Vorsprung zu verabschieden.
Es war zu spät. Sie würden hier ihr Ende finden. Die Welt um sie herum begann immer wärmere Farben anzunehmen, und im Augenwinkel glaubte sie, Formen und Figuren zu erkennen, Wasser und Fische, fast so wie bei ihrem-
Und dann – wie eine Spule, die eine alte Erinnerung zurückspult – brüllte der Gedanke, der sich so geschickt in ihrem Kopf versteckt hatte, triumphierend auf und brachte sie zurück in diese Welt. Ein einzelner Satz war es, der Inez wie ein Blitz traf:
»Synthetisierter Dym löst sich erstaunlich schnell in Wasser auf … Wenn es so große Mengen Wasser oder Dampf in diesem Raum gibt … dann haben Sie Flecken an den Wänden – die kriegen Sie nie wieder raus.«
Anaïs’ Stimme, hell und leise, eine höfliche Warnung verkleidet als Salonplauderei. Inez sah die Fische über dem Triptyque-Tisch, sah den Dampf, die Tropfen auf Anaïs’ Hand; sie sah, wie die alte Frau ihr zugezwinkert hatte, als wären sie alte Freunde, die sich schon ewig kannten. Was, wenn diese Worte kein Spott gewesen waren? Was, wenn sie nicht Montclaro galten, sondern den drei Dieben?
»Lyz«, keuchte sie, »das ist es. Das Wasser. Mach’s kaputt.«
»Mit Vergnügen«, knurrte Lyz, presste den Dietrich noch einmal an … drehte … und riss in einer einzigen, ungeduldigen Bewegung die Ampulle aus der Fassung – und jetzt gab sie nach, nicht mit einem Knall, eher mit einem kleinen, beschämten Zischen, als wäre es ihr peinlich, so lange widerstanden zu haben.
Für den Bruchteil einer Sekunde passierte gar nichts. Der Dym streckte sich weiterhin gleichgültig zur Decke, Téo atmete weiterhin unregelmäßig und mit zitternden Händen, Lyz wendete ihre gesamte Kraft auf, nicht von dem Vorsprung zu fallen, ihr Körper ein einziges krampfendes Etwas. Nur Inez stand da, merkte, wie sie langsam kein Gefühl mehr in ihrem Körper hatte, und bereit war, ihr Schicksal zu akzeptieren. Wie ironisch, dachte sie, und musste fast lachen. Natürlich hatte Téo recht, natürlich war kein Wasser in den Tanks, vielleicht hatte Anaïs auch gelogen und einfach nur einen Scherz gemacht, vielleicht waren sie zu arrogant und stolz gewesen, überhaupt daran zu denken …
Und dann kam das Wasser.
Es war ein heroischer, triumphaler Schwall. Der einzelne Sprinkler, der nachgegeben hatte, sendete ein Signal an seine Brüder, und diese folgten ihm bereitwillig. Mit einem Mal explodierte die Decke über ihnen in einem kalten Regen und traf die drei Freunde, den Boden der Halle und die Kisten – und natürlich den Dym. Beleidigt zog sich der Nebel zurück und wurde zurückgedrängt, bis selbst das austretende Gas aus der Rose keine Chance mehr hatte, den Raum für sich zu beanspruchen. Sie glänzte jetzt, und an ihren Dornen perlten Tropfen wie an Zähnen, auf denen Lyz mit einem eleganten Sprung landete und die Andeutung einer Verbeugung machte, bis sie auf dem nassen Boden ausrutschte und Inez mit sich riss. Lachend versuchten sie, Halt zu finden, bis sie schließlich gegen den grinsenden Téo stießen und alle gemeinsam in einer Pfütze aus Wasser und Dym landeten. Sie waren sofort nass, überall nass, Haare im Gesicht, Stoff am Körper klebend, und doch war das die angenehmste Nässe, an die Inez sich erinnern konnte. Sie merkte, wie der Schwindel langsam weniger wurde, die Hitze in ihrer Brust der Kälte des Wassers Platz machte.
Lyz hatte es geschafft. Die nasse, prustende und zitternde Lyz hatte es geschafft. Die kleine Katzenpfote an ihrem Hals, die jetzt glänzte, winkte gleichgültig ab, als wollte sie sagen: Nicht der Rede wert. Eine meiner leichtesten Übungen. Inez drückte sie fest an sich, vergrub das Gesicht in ihrem nassen Haar. »Danke … danke …«, raunte sie, und Lyz murmelte nur verlegen etwas vor sich hin.
Téo, der ein ungelenkes Lachen ausstieß, das nahe am Schluchzen lag, hob den Kopf, ließ ihn gegen das Metall sacken, atmete – einmal, zweimal, ohne zu zählen – und wirkte auf einmal wieder viel lebendiger.
»Ich nehme alles zurück, was ich über Sprinkler gesagt habe«, murmelte er, obwohl er vorher gar nichts über Sprinkler gesagt hatte, und das brachte alle drei zum Lachen. Vielleicht waren es die letzten Reste von Dym, die noch in ihrem System waren, allerdings fühlte sich dieses Lachen echt an, fühlte sich richtig an.
Lyz legte die Stirn an Inez’ Schläfe, nur kurz, ganz selbstverständlich, wie man im Vorübergehen jemanden anerkennend auf die Schulter klopfte. »Ich schulde dir ein neues Kleid«, flüsterte sie. »Und ich dir neue Schuhe«, sagte Inez, und es war erstaunlich leicht, das zu sagen, so, als ob sie gerade nicht im letzten Moment mit dem Leben davongekommen waren.
Über der Tür lösten sich die letzten Sekunden in Luft auf und gaben schließlich ihr Signal weiter. Das Gelb der Anzeige sprang auf Null, und sofort glitt eine grüne Linie über das Display, die den dreien anerkennend zunickte – und die Tür schließlich öffnete. Widerwillig gab sie nach, den Bruchteil eines Wimpernschlags zögerlich, dann entschieden, als wolle sie sich besinnen und sagen: schon gut, ihr drei, dann kommt eben rein.
Sie standen auf, immer noch triefend, und lachten kurz über die Absurdität des Moments. Und doch war auch Zeit und Raum für andere Gesten: Inez wischte Lyz’ Wimpern das Wasser aus, eine beiläufige Geste, klein, harmlos, und doch so intim, dass sie sofort wegschauen musste, um sie nicht zu groß werden zu lassen. Auch Lyz senkte die Augen, und für einen Moment war da wieder ein Schwindel in ihrem Kopf – ein anderer allerdings.
Téo machte ein Gesicht, als wolle er etwas sagen, entschied sich aber dann doch dagegen, zog stattdessen den völlig nassen Overall an sich hoch und nickte zur offenen Tür.
»Weiter, ich friere mir noch den Arsch ab, wenn ich mich nicht ein bisschen bewege.« Inez nickte und warf noch einen Blick zur Decke, an der die Sprinkler inzwischen versiegt waren.
Danke, Anaïs, dachte sie, ohne zu wissen, ob man einer Fremden danken sollte, die vielleicht gar keine war – und trat mit den anderen durch die offene Tür.
Vor ihnen lag ein langer, dunkler Gang, in dem sie kaum etwas erkennen konnten. Einzelne abstrakte Muster gaben dem Boden etwas Geheimnisvolles und führten zu der einzelnen Lichtquelle, die am Ende auf sie wartete und sich in dem glänzenden Metall spiegelte. Téo atmete überrascht auf, und selbst Lyz pfiff durch die Zähne. »Na, sieh mal einer an.«
Vor ihnen, ganz am Ende des Ganges, lag eine gewaltige Tresortür, aus der drei verzierte stählerne Drachenköpfe sie hämisch angrinsten.
Das Gas kam bedrohlich näher, ein süßer Teppich mit gierigen Fäden, die um sich griffen. Er streifte bereits ihre Knöchel, nur um dann einen Moment zurückzuweichen, als ob er mit ihnen spielen wollte. Sie mussten schnell eine Lösung finden und dafür sorgen, dass dieser schwarze Marmorraum nicht zu ihrer Krypta werden würde.
Inez merkte, wie Téo neben ihr seine Arbeit für einen Moment unterbrach und zurückwich, sich noch mehr an die Wand presste – zu schnell, zu hektisch, als dass er jetzt einen klaren Gedanken fassen könnte. Nein, auf Téo konnte sie jetzt nicht setzen, zu groß das Risiko, dass der Dym ihn ausknocken würde.
»Bleib bei mir«, raunte sie und legte ihm eine Hand in den Nacken, um ihn dann Schritt für Schritt in die Hocke zu führen, den Rücken an die schwarze Marmorwand, die unter ihren Fingern vibrierte, möglichst weit weg von den Dämpfen der Rose. Dann riss sie aus dem Saum ihres Kleides drei Fetzen Stoff heraus – eine winzige Sekunde das nun ruinierte Kleid bedauernd – und presste den Stoff vor Téos Mund; er nickte nur und bedeckte Mund und Nase.
Einen zweiten Lappen presste sie gegen ihre eigenen Lippen, bevor sie aus den Augenwinkeln Lyz sah, die den Kopf in den Nacken warf und in der Decke nach einem Zugang zu den Sprinklern suchte. Sie merkte, wie auch Lyz’ Hand leicht zitterte, obwohl sie es sich nicht anmerken ließ. Drei Minuten lang die Luft anhalten? Bis dahin wären sie entweder völlig zugedröhnt, bereits im Sterben – oder beides. Nein, sie hatte es schon geahnt, als Lyz das erste Mal von den Sprinklern sprach: Diese leise Hoffnung, das Wasser – einfaches Wasser! – würde ihr Leben retten, war jetzt der einzige Plan, der noch irgendwelche realistischen Chancen hatte. Lyz war jetzt ihre einzige realistische Rettung.
»Wie komm ich zu euch kleinen idiotas …«, murmelte Lyz. Sie sah zu einem der goldenen Wagen, in denen sie noch vor einigen Minuten gehockt hatten, und stieß ein kurzes, anerkennendes Pfeifen aus. »Das sollte gehen …« Sofort zog sie ihre Schuhe aus und zog den Absatz von beiden in zwei kurzen Bewegungen ab. In ihrer Hand lagen nun zwei runde, dünne Stifte, die sie in aller Seelenruhe abschraubte, so, als wollte sie nur mal schnell ihr Make-up auffrischen. Der Dietrich, der aussah wie ein etwas zu futuristisch geratener Autoschlüssel, war schnell zusammengesetzt.
Geübt ließ sie ihn in ihren Fingern wandern, bis sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Wagen richtete. Sie tippte mit zwei Fingern gegen die Front, prüfte die Rollen und stieß ihn dann mit einem knappen Hüftschwung direkt unter ein Stahlrohr, das bis zum Boden reichte. Noch während der Wagen rollte, sprang sie leichtfüßig darauf – nur um dann sofort wieder abzurutschen und sich mit einer Hand festzuhalten. Sie fluchte leise und grinste Inez an, zuckte nur mit den Schultern, als wollte sie sagen: Schau mich nicht so an, eleganter wird’s nicht mehr.
»Lyz, wenn du fällst-« Inez brach ab und warf einen kurzen Blick zu Téo, bevor sie ihre Stimme senkte. »Und wenn’s nicht klappt?«
»Sei nicht immer so pessimistisch, Nez«, sagte Lyz und zwinkerte ihr zu – bevor sie ein Hustenanfall packte und sie beinahe von der Kiste fiel.
Alles schien langsamer zu werden: ihr Herzschlag, der Dym, der sich elegant nach oben drehte, und auch Lyz, die noch wie verrückt hustete.
Nein. Nicht Lyz.
»Lyz!« Für einen Moment blieb ihr das Herz stehen, und sie streckte hilflos die Hand aus. War es das gewesen? Hatte Lyz bereits eine tödliche Dosis eingeatmet und würde jetzt einfach vor ihnen zusammenbrechen, ihren letzten Atemzug tun, nie wieder …
»Mach dir nicht ins Hemd.« Lyz hatte sich wieder aufgerichtet und schüttelte nur den Kopf. »Lass mich einfach machen, Liebes. Obwohl …« – sie hob süffisant eine Augenbraue – »… wenn du immer so reagierst, wenn du dir Sorgen um mich machst …«
Lyz stemmte den Wagen endgültig unter das Rohr, stellte sich auf die Reling und griff zu. Nachdem sie ein paarmal an dem Stahl gezogen hatte, nickte sie zufrieden, nahm den Dietrich zwischen die Zähne und begann, ihre Füße an der Wand zu platzieren und Halt zu finden. Ein Rad des Wagens quietschte, und die ganze Kiste rollte zurück, bevor Lyz schließlich begann, das Stahlrohr hinaufzuklettern. Sie war auf direktem Wege zu einem winzigen Vorsprung ganz am Ende des Rohrs, auf dem sie – mit ganz viel Glück – für einen Moment lang stehen konnte, um sich zum Sprinkler zu strecken.
Inez erwischte sich dabei, wie sie den Atem anhielt und ihre Augen ihrer Freundin folgten. Ob sie es wahrhaben wollten oder nicht: Würde Lyz scheitern, dann würde das Trio sein unschönes Ende am Fuße dieser Rose finden. Selbst wenn Lyz es irgendwie schaffen sollte, den Sprinkler zu aktivieren, stand noch lange nicht fest, dass das Wasser irgendetwas mit dem Dym machen würde.
Vielleicht käme es nur noch schlimmer, und sie hätten ein neues, noch toxischeres Gemisch, das ihnen ein schnelleres Ende bereiten würde.
Und dennoch … ein einzelner Gedanke, den sie nicht zu fassen bekam, schlich sich in ihren Kopf und wollte nicht mehr gehen. Wieso nur fühlte sie sich so zuversichtlich, dass Wasser helfen würde? Hatte sie bereits zu viel Dym eingeatmet? Sie schüttelte den Kopf und gab sich einen Ruck. Hier unten konnte sie Lyz nicht helfen – Téo allerdings schon. Kurz riskierte sie einen Blick zur Anzeige.
02:47. Zu langsam. Viel zu langsam. Schon jetzt merkte sie, wie ihr schummrig wurde. Das Keuchen von Téo holte sie wieder zurück.
Heute Nacht würden sie niemanden verlieren.
Sie rannte zu ihrem Freund, der sich an die Wand gelehnt hatte, während die nebligen Fäden bereits gierig an seiner Kleidung zogen. Sofort kniete sie sich neben ihn, bemüht, so wenig und so langsam wie möglich zu atmen. Téos Augen flatterten.
»Nez«, flüsterte er durch den Stoff, der schon nach Dym roch, nach Kirche und Metall, »ich werde hyperventilieren, nur damit du’s weißt.« Er versuchte zu lächeln, aber seine Hände zitterten unentwegt, sodass er sie umso stärker zusammenkrampfte.
»Nicht heute«, sagte Inez. »Bleib bei mir. Ganz ruhig, Téo. Denk an was Schönes. Denk dran, dass du wieder stundenlang an diesen alten Automaten rumschrauben kannst, wenn wir zurück sind. Langsam.« Sie legte seine Handfläche sanft auf ihren Bauch, wie eine Mutter bei ihrem Kind, und nahm ihn an der Hand. Behutsam atmete sie ein, so gemächlich, dass das Einatmen kaum zu hören war, und aus, bis ihre Rippen sanft wieder zur Ruhe kamen. Ihr Kopf drehte sich jetzt immer stärker, und eine verräterische Wärme breitete sich in ihrer Brust aus. Sie versuchte es zu ignorieren und zwang sich zu einem Lächeln, das hoffentlich ihre Augen erreichte. »Zähl’s mir nach.« Er nickte.
Eins–zwei–drei. Der Zeiger über der Tür quälte sich zu 01:59. Verflucht, wie lange konnten drei Minuten dauern?
Dann hörte sie ein angestrengtes Stöhnen und schaute nach oben.
Lyz hatte es irgendwie geschafft, ihren einen Fuß im Rohr zu verkeilen und mit dem anderen Halt auf dem Vorsprung zu finden. In dieser angestrengten Position verrenkte sie sich in Richtung des Sprinklers, der Dietrich bereits in den metallenen Einzelteilen der Vorrichtung versenkt. Sie ließ ihn ein winziges Stück arbeiten, millimeterweise, schraubte so lange darin herum, bis er schließlich tiefer in das Innenleben sank – und sie alle etwas hörten.
Ein kurzer, metallischer Klick, kein zerbrochenes Glas oder brechendes Metall, eher ein Anzeichen dafür, dass sie auf dem richtigen Weg waren. Und doch gab die Ampulle nicht sofort nach, widersetzte sich dem stählernen Dietrich.
Sie hörte, wie Lyz frustriert keuchte. »Mach schon, du dummes …« Sie drehte den Dietrich weiter und zitterte inzwischen am ganzen Körper, ihr Fuß langsam, aber sicher auf dem Weg, sich vom Vorsprung zu verabschieden.
Es war zu spät. Sie würden hier ihr Ende finden. Die Welt um sie herum begann immer wärmere Farben anzunehmen, und im Augenwinkel glaubte sie, Formen und Figuren zu erkennen, Wasser und Fische, fast so wie bei ihrem-
Und dann – wie eine Spule, die eine alte Erinnerung zurückspult – brüllte der Gedanke, der sich so geschickt in ihrem Kopf versteckt hatte, triumphierend auf und brachte sie zurück in diese Welt. Ein einzelner Satz war es, der Inez wie ein Blitz traf:
»Synthetisierter Dym löst sich erstaunlich schnell in Wasser auf … Wenn es so große Mengen Wasser oder Dampf in diesem Raum gibt … dann haben Sie Flecken an den Wänden – die kriegen Sie nie wieder raus.«
Anaïs’ Stimme, hell und leise, eine höfliche Warnung verkleidet als Salonplauderei. Inez sah die Fische über dem Triptyque-Tisch, sah den Dampf, die Tropfen auf Anaïs’ Hand; sie sah, wie die alte Frau ihr zugezwinkert hatte, als wären sie alte Freunde, die sich schon ewig kannten. Was, wenn diese Worte kein Spott gewesen waren? Was, wenn sie nicht Montclaro galten, sondern den drei Dieben?
»Lyz«, keuchte sie, »das ist es. Das Wasser. Mach’s kaputt.«
»Mit Vergnügen«, knurrte Lyz, presste den Dietrich noch einmal an … drehte … und riss in einer einzigen, ungeduldigen Bewegung die Ampulle aus der Fassung – und jetzt gab sie nach, nicht mit einem Knall, eher mit einem kleinen, beschämten Zischen, als wäre es ihr peinlich, so lange widerstanden zu haben.
Für den Bruchteil einer Sekunde passierte gar nichts. Der Dym streckte sich weiterhin gleichgültig zur Decke, Téo atmete weiterhin unregelmäßig und mit zitternden Händen, Lyz wendete ihre gesamte Kraft auf, nicht von dem Vorsprung zu fallen, ihr Körper ein einziges krampfendes Etwas. Nur Inez stand da, merkte, wie sie langsam kein Gefühl mehr in ihrem Körper hatte, und bereit war, ihr Schicksal zu akzeptieren. Wie ironisch, dachte sie, und musste fast lachen. Natürlich hatte Téo recht, natürlich war kein Wasser in den Tanks, vielleicht hatte Anaïs auch gelogen und einfach nur einen Scherz gemacht, vielleicht waren sie zu arrogant und stolz gewesen, überhaupt daran zu denken …
Und dann kam das Wasser.
Es war ein heroischer, triumphaler Schwall. Der einzelne Sprinkler, der nachgegeben hatte, sendete ein Signal an seine Brüder, und diese folgten ihm bereitwillig. Mit einem Mal explodierte die Decke über ihnen in einem kalten Regen und traf die drei Freunde, den Boden der Halle und die Kisten – und natürlich den Dym. Beleidigt zog sich der Nebel zurück und wurde zurückgedrängt, bis selbst das austretende Gas aus der Rose keine Chance mehr hatte, den Raum für sich zu beanspruchen. Sie glänzte jetzt, und an ihren Dornen perlten Tropfen wie an Zähnen, auf denen Lyz mit einem eleganten Sprung landete und die Andeutung einer Verbeugung machte, bis sie auf dem nassen Boden ausrutschte und Inez mit sich riss. Lachend versuchten sie, Halt zu finden, bis sie schließlich gegen den grinsenden Téo stießen und alle gemeinsam in einer Pfütze aus Wasser und Dym landeten. Sie waren sofort nass, überall nass, Haare im Gesicht, Stoff am Körper klebend, und doch war das die angenehmste Nässe, an die Inez sich erinnern konnte. Sie merkte, wie der Schwindel langsam weniger wurde, die Hitze in ihrer Brust der Kälte des Wassers Platz machte.
Lyz hatte es geschafft. Die nasse, prustende und zitternde Lyz hatte es geschafft. Die kleine Katzenpfote an ihrem Hals, die jetzt glänzte, winkte gleichgültig ab, als wollte sie sagen: Nicht der Rede wert. Eine meiner leichtesten Übungen. Inez drückte sie fest an sich, vergrub das Gesicht in ihrem nassen Haar. »Danke … danke …«, raunte sie, und Lyz murmelte nur verlegen etwas vor sich hin.
Téo, der ein ungelenkes Lachen ausstieß, das nahe am Schluchzen lag, hob den Kopf, ließ ihn gegen das Metall sacken, atmete – einmal, zweimal, ohne zu zählen – und wirkte auf einmal wieder viel lebendiger.
»Ich nehme alles zurück, was ich über Sprinkler gesagt habe«, murmelte er, obwohl er vorher gar nichts über Sprinkler gesagt hatte, und das brachte alle drei zum Lachen. Vielleicht waren es die letzten Reste von Dym, die noch in ihrem System waren, allerdings fühlte sich dieses Lachen echt an, fühlte sich richtig an.
Lyz legte die Stirn an Inez’ Schläfe, nur kurz, ganz selbstverständlich, wie man im Vorübergehen jemanden anerkennend auf die Schulter klopfte. »Ich schulde dir ein neues Kleid«, flüsterte sie. »Und ich dir neue Schuhe«, sagte Inez, und es war erstaunlich leicht, das zu sagen, so, als ob sie gerade nicht im letzten Moment mit dem Leben davongekommen waren.
Über der Tür lösten sich die letzten Sekunden in Luft auf und gaben schließlich ihr Signal weiter. Das Gelb der Anzeige sprang auf Null, und sofort glitt eine grüne Linie über das Display, die den dreien anerkennend zunickte – und die Tür schließlich öffnete. Widerwillig gab sie nach, den Bruchteil eines Wimpernschlags zögerlich, dann entschieden, als wolle sie sich besinnen und sagen: schon gut, ihr drei, dann kommt eben rein.
Sie standen auf, immer noch triefend, und lachten kurz über die Absurdität des Moments. Und doch war auch Zeit und Raum für andere Gesten: Inez wischte Lyz’ Wimpern das Wasser aus, eine beiläufige Geste, klein, harmlos, und doch so intim, dass sie sofort wegschauen musste, um sie nicht zu groß werden zu lassen. Auch Lyz senkte die Augen, und für einen Moment war da wieder ein Schwindel in ihrem Kopf – ein anderer allerdings.
Téo machte ein Gesicht, als wolle er etwas sagen, entschied sich aber dann doch dagegen, zog stattdessen den völlig nassen Overall an sich hoch und nickte zur offenen Tür.
»Weiter, ich friere mir noch den Arsch ab, wenn ich mich nicht ein bisschen bewege.« Inez nickte und warf noch einen Blick zur Decke, an der die Sprinkler inzwischen versiegt waren.
Danke, Anaïs, dachte sie, ohne zu wissen, ob man einer Fremden danken sollte, die vielleicht gar keine war – und trat mit den anderen durch die offene Tür.
Vor ihnen lag ein langer, dunkler Gang, in dem sie kaum etwas erkennen konnten. Einzelne abstrakte Muster gaben dem Boden etwas Geheimnisvolles und führten zu der einzelnen Lichtquelle, die am Ende auf sie wartete und sich in dem glänzenden Metall spiegelte. Téo atmete überrascht auf, und selbst Lyz pfiff durch die Zähne. »Na, sieh mal einer an.«
Vor ihnen, ganz am Ende des Ganges, lag eine gewaltige Tresortür, aus der drei verzierte stählerne Drachenköpfe sie hämisch angrinsten.
DIE SPRINKLER AUSLÖSEN

Das Gas kam bedrohlich näher, ein süßer Teppich mit gierigen Fäden, die um sich griffen. Er streifte bereits ihre Knöchel, nur um dann einen Moment zurückzuweichen, als ob er mit ihnen spielen wollte. Sie mussten schnell eine Lösung finden und dafür sorgen, dass dieser schwarze Marmorraum nicht zu ihrer Krypta werden würde.
Inez merkte, wie Téo neben ihr seine Arbeit für einen Moment unterbrach und zurückwich, sich noch mehr an die Wand presste – zu schnell, zu hektisch, als dass er jetzt einen klaren Gedanken fassen könnte. Nein, auf Téo konnte sie jetzt nicht setzen, zu groß das Risiko, dass der Dym ihn ausknocken würde.
»Bleib bei mir«, raunte sie und legte ihm eine Hand in den Nacken, um ihn dann Schritt für Schritt in die Hocke zu führen, den Rücken an die schwarze Marmorwand, die unter ihren Fingern vibrierte, möglichst weit weg von den Dämpfen der Rose. Dann riss sie aus dem Saum ihres Kleides drei Fetzen Stoff heraus – eine winzige Sekunde das nun ruinierte Kleid bedauernd – und presste den Stoff vor Téos Mund; er nickte nur und bedeckte Mund und Nase. Einen zweiten Lappen presste sie gegen ihre eigenen Lippen, bevor sie aus den Augenwinkeln Lyz sah, die den Kopf in den Nacken warf und in der Decke nach einem Zugang zu den Sprinklern suchte. Sie merkte, wie auch Lyz’ Hand leicht zitterte, obwohl sie es sich nicht anmerken ließ. Drei Minuten lang die Luft anhalten? Bis dahin wären sie entweder völlig zugedröhnt, bereits im Sterben – oder beides. Nein, sie hatte es schon geahnt, als Lyz das erste Mal von den Sprinklern sprach: Diese leise Hoffnung, das Wasser – einfaches Wasser! – würde ihr Leben retten, war jetzt der einzige Plan, der noch irgendwelche realistischen Chancen hatte. Lyz war jetzt ihre einzige realistische Rettung.
»Wie komm ich zu euch kleinen idiotas …«, murmelte Lyz. Sie sah zu einem der goldenen Wagen, in denen sie noch vor einigen Minuten gehockt hatten, und stieß ein kurzes, anerkennendes Pfeifen aus. »Das sollte gehen …« Sofort zog sie ihre Schuhe aus und zog den Absatz von beiden in zwei kurzen Bewegungen ab. In ihrer Hand lagen nun zwei runde, dünne Stifte, die sie in aller Seelenruhe abschraubte, so, als wollte sie nur mal schnell ihr Make-up auffrischen. Der Dietrich, der aussah wie ein etwas zu futuristisch geratener Autoschlüssel, war schnell zusammengesetzt.
Geübt ließ sie ihn in ihren Fingern wandern, bis sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Wagen richtete. Sie tippte mit zwei Fingern gegen die Front, prüfte die Rollen und stieß ihn dann mit einem knappen Hüftschwung direkt unter ein Stahlrohr, das bis zum Boden reichte. Noch während der Wagen rollte, sprang sie leichtfüßig darauf – nur um dann sofort wieder abzurutschen und sich mit einer Hand festzuhalten. Sie fluchte leise und grinste Inez an, zuckte nur mit den Schultern, als wollte sie sagen: Schau mich nicht so an, eleganter wird’s nicht mehr.
»Lyz, wenn du fällst-« Inez brach ab und warf einen kurzen Blick zu Téo, bevor sie ihre Stimme senkte. »Und wenn’s nicht klappt?«
»Sei nicht immer so pessimistisch, Nez«, sagte Lyz und zwinkerte ihr zu – bevor sie ein Hustenanfall packte und sie beinahe von der Kiste fiel.
Alles schien langsamer zu werden: ihr Herzschlag, der Dym, der sich elegant nach oben drehte, und auch Lyz, die noch wie verrückt hustete.
Nein. Nicht Lyz.
»Lyz!« Für einen Moment blieb ihr das Herz stehen, und sie streckte hilflos die Hand aus. War es das gewesen? Hatte Lyz bereits eine tödliche Dosis eingeatmet und würde jetzt einfach vor ihnen zusammenbrechen, ihren letzten Atemzug tun, nie wieder …
»Mach dir nicht ins Hemd.« Lyz hatte sich wieder aufgerichtet und schüttelte nur den Kopf. »Lass mich einfach machen, Liebes. Obwohl …« – sie hob süffisant eine Augenbraue – »… wenn du immer so reagierst, wenn du dir Sorgen um mich machst …«
Lyz stemmte den Wagen endgültig unter das Rohr, stellte sich auf die Reling und griff zu. Nachdem sie ein paarmal an dem Stahl gezogen hatte, nickte sie zufrieden, nahm den Dietrich zwischen die Zähne und begann, ihre Füße an der Wand zu platzieren und Halt zu finden. Ein Rad des Wagens quietschte, und die ganze Kiste rollte zurück, bevor Lyz schließlich begann, das Stahlrohr hinaufzuklettern. Sie war auf direktem Wege zu einem winzigen Vorsprung ganz am Ende des Rohrs, auf dem sie – mit ganz viel Glück – für einen Moment lang stehen konnte, um sich zum Sprinkler zu strecken.
Inez erwischte sich dabei, wie sie den Atem anhielt und ihre Augen ihrer Freundin folgten. Ob sie es wahrhaben wollten oder nicht: Würde Lyz scheitern, dann würde das Trio sein unschönes Ende am Fuße dieser Rose finden. Selbst wenn Lyz es irgendwie schaffen sollte, den Sprinkler zu aktivieren, stand noch lange nicht fest, dass das Wasser irgendetwas mit dem Dym machen würde. Vielleicht käme es nur noch schlimmer, und sie hätten ein neues, noch toxischeres Gemisch, das ihnen ein schnelleres Ende bereiten würde.
Und dennoch … ein einzelner Gedanke, den sie nicht zu fassen bekam, schlich sich in ihren Kopf und wollte nicht mehr gehen. Wieso nur fühlte sie sich so zuversichtlich, dass Wasser helfen würde? Hatte sie bereits zu viel Dym eingeatmet? Sie schüttelte den Kopf und gab sich einen Ruck. Hier unten konnte sie Lyz nicht helfen – Téo allerdings schon. Kurz riskierte sie einen Blick zur Anzeige.
02:47. Zu langsam. Viel zu langsam. Schon jetzt merkte sie, wie ihr schummrig wurde. Das Keuchen von Téo holte sie wieder zurück.
Heute Nacht würden sie niemanden verlieren.
Sie rannte zu ihrem Freund, der sich an die Wand gelehnt hatte, während die nebligen Fäden bereits gierig an seiner Kleidung zogen. Sofort kniete sie sich neben ihn, bemüht, so wenig und so langsam wie möglich zu atmen. Téos Augen flatterten.
»Nez«, flüsterte er durch den Stoff, der schon nach Dym roch, nach Kirche und Metall, »ich werde hyperventilieren, nur damit du’s weißt.« Er versuchte zu lächeln, aber seine Hände zitterten unentwegt, sodass er sie umso stärker zusammenkrampfte.
»Nicht heute«, sagte Inez. »Bleib bei mir. Ganz ruhig, Téo. Denk an was Schönes. Denk dran, dass du wieder stundenlang an diesen alten Automaten rumschrauben kannst, wenn wir zurück sind. Langsam.« Sie legte seine Handfläche sanft auf ihren Bauch, wie eine Mutter bei ihrem Kind, und nahm ihn an der Hand. Behutsam atmete sie ein, so gemächlich, dass das Einatmen kaum zu hören war, und aus, bis ihre Rippen sanft wieder zur Ruhe kamen. Ihr Kopf drehte sich jetzt immer stärker, und eine verräterische Wärme breitete sich in ihrer Brust aus. Sie versuchte es zu ignorieren und zwang sich zu einem Lächeln, das hoffentlich ihre Augen erreichte. »Zähl’s mir nach.« Er nickte.
Eins–zwei–drei. Der Zeiger über der Tür quälte sich zu 01:59. Verflucht, wie lange konnten drei Minuten dauern? Dann hörte sie ein angestrengtes Stöhnen und schaute nach oben.
Lyz hatte es irgendwie geschafft, ihren einen Fuß im Rohr zu verkeilen und mit dem anderen Halt auf dem Vorsprung zu finden. In dieser angestrengten Position verrenkte sie sich in Richtung des Sprinklers, der Dietrich bereits in den metallenen Einzelteilen der Vorrichtung versenkt. Sie ließ ihn ein winziges Stück arbeiten, millimeterweise, schraubte so lange darin herum, bis er schließlich tiefer in das Innenleben sank – und sie alle etwas hörten.
Ein kurzer, metallischer Klick, kein zerbrochenes Glas oder brechendes Metall, eher ein Anzeichen dafür, dass sie auf dem richtigen Weg waren. Und doch gab die Ampulle nicht sofort nach, widersetzte sich dem stählernen Dietrich. Sie hörte, wie Lyz frustriert keuchte. »Mach schon, du dummes …« Sie drehte den Dietrich weiter und zitterte inzwischen am ganzen Körper, ihr Fuß langsam, aber sicher auf dem Weg, sich vom Vorsprung zu verabschieden.
Es war zu spät. Sie würden hier ihr Ende finden. Die Welt um sie herum begann immer wärmere Farben anzunehmen, und im Augenwinkel glaubte sie, Formen und Figuren zu erkennen, Wasser und Fische, fast so wie bei ihrem-
Und dann – wie eine Spule, die eine alte Erinnerung zurückspult – brüllte der Gedanke, der sich so geschickt in ihrem Kopf versteckt hatte, triumphierend auf und brachte sie zurück in diese Welt. Ein einzelner Satz war es, der Inez wie ein Blitz traf:
»Synthetisierter Dym löst sich erstaunlich schnell in Wasser auf … Wenn es so große Mengen Wasser oder Dampf in diesem Raum gibt … dann haben Sie Flecken an den Wänden – die kriegen Sie nie wieder raus.«
Anaïs’ Stimme, hell und leise, eine höfliche Warnung verkleidet als Salonplauderei. Inez sah die Fische über dem Triptyque-Tisch, sah den Dampf, die Tropfen auf Anaïs’ Hand; sie sah, wie die alte Frau ihr zugezwinkert hatte, als wären sie alte Freunde, die sich schon ewig kannten. Was, wenn diese Worte kein Spott gewesen waren? Was, wenn sie nicht Montclaro galten, sondern den drei Dieben?
»Lyz«, keuchte sie, »das ist es. Das Wasser. Mach’s kaputt.«
»Mit Vergnügen«, knurrte Lyz, presste den Dietrich noch einmal an … drehte … und riss in einer einzigen, ungeduldigen Bewegung die Ampulle aus der Fassung – und jetzt gab sie nach, nicht mit einem Knall, eher mit einem kleinen, beschämten Zischen, als wäre es ihr peinlich, so lange widerstanden zu haben.
Für den Bruchteil einer Sekunde passierte gar nichts. Der Dym streckte sich weiterhin gleichgültig zur Decke, Téo atmete weiterhin unregelmäßig und mit zitternden Händen, Lyz wendete ihre gesamte Kraft auf, nicht von dem Vorsprung zu fallen, ihr Körper ein einziges krampfendes Etwas. Nur Inez stand da, merkte, wie sie langsam kein Gefühl mehr in ihrem Körper hatte, und bereit war, ihr Schicksal zu akzeptieren. Wie ironisch, dachte sie, und musste fast lachen. Natürlich hatte Téo recht, natürlich war kein Wasser in den Tanks, vielleicht hatte Anaïs auch gelogen und einfach nur einen Scherz gemacht, vielleicht waren sie zu arrogant und stolz gewesen, überhaupt daran zu denken …
Und dann kam das Wasser.
Es war ein heroischer, triumphaler Schwall. Der einzelne Sprinkler, der nachgegeben hatte, sendete ein Signal an seine Brüder, und diese folgten ihm bereitwillig. Mit einem Mal explodierte die Decke über ihnen in einem kalten Regen und traf die drei Freunde, den Boden der Halle und die Kisten – und natürlich den Dym. Beleidigt zog sich der Nebel zurück und wurde zurückgedrängt, bis selbst das austretende Gas aus der Rose keine Chance mehr hatte, den Raum für sich zu beanspruchen. Sie glänzte jetzt, und an ihren Dornen perlten Tropfen wie an Zähnen, auf denen Lyz mit einem eleganten Sprung landete und die Andeutung einer Verbeugung machte, bis sie auf dem nassen Boden ausrutschte und Inez mit sich riss. Lachend versuchten sie, Halt zu finden, bis sie schließlich gegen den grinsenden Téo stießen und alle gemeinsam in einer Pfütze aus Wasser und Dym landeten. Sie waren sofort nass, überall nass, Haare im Gesicht, Stoff am Körper klebend, und doch war das die angenehmste Nässe, an die Inez sich erinnern konnte. Sie merkte, wie der Schwindel langsam weniger wurde, die Hitze in ihrer Brust der Kälte des Wassers Platz machte.
Lyz hatte es geschafft. Die nasse, prustende und zitternde Lyz hatte es geschafft. Die kleine Katzenpfote an ihrem Hals, die jetzt glänzte, winkte gleichgültig ab, als wollte sie sagen: Nicht der Rede wert. Eine meiner leichtesten Übungen. Inez drückte sie fest an sich, vergrub das Gesicht in ihrem nassen Haar. »Danke … danke …«, raunte sie, und Lyz murmelte nur verlegen etwas vor sich hin.
Téo, der ein ungelenkes Lachen ausstieß, das nahe am Schluchzen lag, hob den Kopf, ließ ihn gegen das Metall sacken, atmete – einmal, zweimal, ohne zu zählen – und wirkte auf einmal wieder viel lebendiger.
»Ich nehme alles zurück, was ich über Sprinkler gesagt habe«, murmelte er, obwohl er vorher gar nichts über Sprinkler gesagt hatte, und das brachte alle drei zum Lachen. Vielleicht waren es die letzten Reste von Dym, die noch in ihrem System waren, allerdings fühlte sich dieses Lachen echt an, fühlte sich richtig an.
Lyz legte die Stirn an Inez’ Schläfe, nur kurz, ganz selbstverständlich, wie man im Vorübergehen jemanden anerkennend auf die Schulter klopfte. »Ich schulde dir ein neues Kleid«, flüsterte sie. »Und ich dir neue Schuhe«, sagte Inez, und es war erstaunlich leicht, das zu sagen, so, als ob sie gerade nicht im letzten Moment mit dem Leben davongekommen waren.
Über der Tür lösten sich die letzten Sekunden in Luft auf und gaben schließlich ihr Signal weiter. Das Gelb der Anzeige sprang auf Null, und sofort glitt eine grüne Linie über das Display, die den dreien anerkennend zunickte – und die Tür schließlich öffnete. Widerwillig gab sie nach, den Bruchteil eines Wimpernschlags zögerlich, dann entschieden, als wolle sie sich besinnen und sagen: schon gut, ihr drei, dann kommt eben rein.
Sie standen auf, immer noch triefend, und lachten kurz über die Absurdität des Moments. Und doch war auch Zeit und Raum für andere Gesten: Inez wischte Lyz’ Wimpern das Wasser aus, eine beiläufige Geste, klein, harmlos, und doch so intim, dass sie sofort wegschauen musste, um sie nicht zu groß werden zu lassen. Auch Lyz senkte die Augen, und für einen Moment war da wieder ein Schwindel in ihrem Kopf – ein anderer allerdings.
Téo machte ein Gesicht, als wolle er etwas sagen, entschied sich aber dann doch dagegen, zog stattdessen den völlig nassen Overall an sich hoch und nickte zur offenen Tür.
»Weiter, ich friere mir noch den Arsch ab, wenn ich mich nicht ein bisschen bewege.« Inez nickte und warf noch einen Blick zur Decke, an der die Sprinkler inzwischen versiegt waren.
Danke, Anaïs, dachte sie, ohne zu wissen, ob man einer Fremden danken sollte, die vielleicht gar keine war – und trat mit den anderen durch die offene Tür.
Vor ihnen lag ein langer, dunkler Gang, in dem sie kaum etwas erkennen konnten. Einzelne abstrakte Muster gaben dem Boden etwas Geheimnisvolles und führten zu der einzelnen Lichtquelle, die am Ende auf sie wartete und sich in dem glänzenden Metall spiegelte. Téo atmete überrascht auf, und selbst Lyz pfiff durch die Zähne. »Na, sieh mal einer an.«
Vor ihnen, ganz am Ende des Ganges, lag eine gewaltige Tresortür, aus der drei verzierte stählerne Drachenköpfe sie hämisch angrinsten.

Das Gas kam bedrohlich näher, ein süßer Teppich mit gierigen Fäden, die um sich griffen. Er streifte bereits ihre Knöchel, nur um dann einen Moment zurückzuweichen, als ob er mit ihnen spielen wollte. Sie mussten schnell eine Lösung finden und dafür sorgen, dass dieser schwarze Marmorraum nicht zu ihrer Krypta werden würde.
Inez merkte, wie Téo neben ihr seine Arbeit für einen Moment unterbrach und zurückwich, sich noch mehr an die Wand presste – zu schnell, zu hektisch, als dass er jetzt einen klaren Gedanken fassen könnte. Nein, auf Téo konnte sie jetzt nicht setzen, zu groß das Risiko, dass der Dym ihn ausknocken würde.
»Bleib bei mir«, raunte sie und legte ihm eine Hand in den Nacken, um ihn dann Schritt für Schritt in die Hocke zu führen, den Rücken an die schwarze Marmorwand, die unter ihren Fingern vibrierte, möglichst weit weg von den Dämpfen der Rose. Dann riss sie aus dem Saum ihres Kleides drei Fetzen Stoff heraus – eine winzige Sekunde das nun ruinierte Kleid bedauernd – und presste den Stoff vor Téos Mund; er nickte nur und bedeckte Mund und Nase. Einen zweiten Lappen presste sie gegen ihre eigenen Lippen, bevor sie aus den Augenwinkeln Lyz sah, die den Kopf in den Nacken warf und in der Decke nach einem Zugang zu den Sprinklern suchte. Sie merkte, wie auch Lyz’ Hand leicht zitterte, obwohl sie es sich nicht anmerken ließ. Drei Minuten lang die Luft anhalten? Bis dahin wären sie entweder völlig zugedröhnt, bereits im Sterben – oder beides. Nein, sie hatte es schon geahnt, als Lyz das erste Mal von den Sprinklern sprach: Diese leise Hoffnung, das Wasser – einfaches Wasser! – würde ihr Leben retten, war jetzt der einzige Plan, der noch irgendwelche realistischen Chancen hatte. Lyz war jetzt ihre einzige realistische Rettung.
»Wie komm ich zu euch kleinen idiotas …«, murmelte Lyz. Sie sah zu einem der goldenen Wagen, in denen sie noch vor einigen Minuten gehockt hatten, und stieß ein kurzes, anerkennendes Pfeifen aus. »Das sollte gehen …« Sofort zog sie ihre Schuhe aus und zog den Absatz von beiden in zwei kurzen Bewegungen ab. In ihrer Hand lagen nun zwei runde, dünne Stifte, die sie in aller Seelenruhe abschraubte, so, als wollte sie nur mal schnell ihr Make-up auffrischen. Der Dietrich, der aussah wie ein etwas zu futuristisch geratener Autoschlüssel, war schnell zusammengesetzt.
Geübt ließ sie ihn in ihren Fingern wandern, bis sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Wagen richtete. Sie tippte mit zwei Fingern gegen die Front, prüfte die Rollen und stieß ihn dann mit einem knappen Hüftschwung direkt unter ein Stahlrohr, das bis zum Boden reichte. Noch während der Wagen rollte, sprang sie leichtfüßig darauf – nur um dann sofort wieder abzurutschen und sich mit einer Hand festzuhalten. Sie fluchte leise und grinste Inez an, zuckte nur mit den Schultern, als wollte sie sagen: Schau mich nicht so an, eleganter wird’s nicht mehr.
»Lyz, wenn du fällst-« Inez brach ab und warf einen kurzen Blick zu Téo, bevor sie ihre Stimme senkte. »Und wenn’s nicht klappt?«
»Sei nicht immer so pessimistisch, Nez«, sagte Lyz und zwinkerte ihr zu – bevor sie ein Hustenanfall packte und sie beinahe von der Kiste fiel.
Alles schien langsamer zu werden: ihr Herzschlag, der Dym, der sich elegant nach oben drehte, und auch Lyz, die noch wie verrückt hustete.
Nein. Nicht Lyz.
»Lyz!« Für einen Moment blieb ihr das Herz stehen, und sie streckte hilflos die Hand aus. War es das gewesen? Hatte Lyz bereits eine tödliche Dosis eingeatmet und würde jetzt einfach vor ihnen zusammenbrechen, ihren letzten Atemzug tun, nie wieder …
»Mach dir nicht ins Hemd.« Lyz hatte sich wieder aufgerichtet und schüttelte nur den Kopf. »Lass mich einfach machen, Liebes. Obwohl …« – sie hob süffisant eine Augenbraue – »… wenn du immer so reagierst, wenn du dir Sorgen um mich machst …«
Lyz stemmte den Wagen endgültig unter das Rohr, stellte sich auf die Reling und griff zu. Nachdem sie ein paarmal an dem Stahl gezogen hatte, nickte sie zufrieden, nahm den Dietrich zwischen die Zähne und begann, ihre Füße an der Wand zu platzieren und Halt zu finden. Ein Rad des Wagens quietschte, und die ganze Kiste rollte zurück, bevor Lyz schließlich begann, das Stahlrohr hinaufzuklettern. Sie war auf direktem Wege zu einem winzigen Vorsprung ganz am Ende des Rohrs, auf dem sie – mit ganz viel Glück – für einen Moment lang stehen konnte, um sich zum Sprinkler zu strecken.
Inez erwischte sich dabei, wie sie den Atem anhielt und ihre Augen ihrer Freundin folgten. Ob sie es wahrhaben wollten oder nicht: Würde Lyz scheitern, dann würde das Trio sein unschönes Ende am Fuße dieser Rose finden. Selbst wenn Lyz es irgendwie schaffen sollte, den Sprinkler zu aktivieren, stand noch lange nicht fest, dass das Wasser irgendetwas mit dem Dym machen würde. Vielleicht käme es nur noch schlimmer, und sie hätten ein neues, noch toxischeres Gemisch, das ihnen ein schnelleres Ende bereiten würde.
Und dennoch … ein einzelner Gedanke, den sie nicht zu fassen bekam, schlich sich in ihren Kopf und wollte nicht mehr gehen. Wieso nur fühlte sie sich so zuversichtlich, dass Wasser helfen würde? Hatte sie bereits zu viel Dym eingeatmet? Sie schüttelte den Kopf und gab sich einen Ruck. Hier unten konnte sie Lyz nicht helfen – Téo allerdings schon. Kurz riskierte sie einen Blick zur Anzeige.
02:47. Zu langsam. Viel zu langsam. Schon jetzt merkte sie, wie ihr schummrig wurde. Das Keuchen von Téo holte sie wieder zurück.
Heute Nacht würden sie niemanden verlieren.
Sie rannte zu ihrem Freund, der sich an die Wand gelehnt hatte, während die nebligen Fäden bereits gierig an seiner Kleidung zogen. Sofort kniete sie sich neben ihn, bemüht, so wenig und so langsam wie möglich zu atmen. Téos Augen flatterten.
»Nez«, flüsterte er durch den Stoff, der schon nach Dym roch, nach Kirche und Metall, »ich werde hyperventilieren, nur damit du’s weißt.« Er versuchte zu lächeln, aber seine Hände zitterten unentwegt, sodass er sie umso stärker zusammenkrampfte.
»Nicht heute«, sagte Inez. »Bleib bei mir. Ganz ruhig, Téo. Denk an was Schönes. Denk dran, dass du wieder stundenlang an diesen alten Automaten rumschrauben kannst, wenn wir zurück sind. Langsam.« Sie legte seine Handfläche sanft auf ihren Bauch, wie eine Mutter bei ihrem Kind, und nahm ihn an der Hand. Behutsam atmete sie ein, so gemächlich, dass das Einatmen kaum zu hören war, und aus, bis ihre Rippen sanft wieder zur Ruhe kamen. Ihr Kopf drehte sich jetzt immer stärker, und eine verräterische Wärme breitete sich in ihrer Brust aus. Sie versuchte es zu ignorieren und zwang sich zu einem Lächeln, das hoffentlich ihre Augen erreichte. »Zähl’s mir nach.« Er nickte.
Eins–zwei–drei. Der Zeiger über der Tür quälte sich zu 01:59. Verflucht, wie lange konnten drei Minuten dauern? Dann hörte sie ein angestrengtes Stöhnen und schaute nach oben.
Lyz hatte es irgendwie geschafft, ihren einen Fuß im Rohr zu verkeilen und mit dem anderen Halt auf dem Vorsprung zu finden. In dieser angestrengten Position verrenkte sie sich in Richtung des Sprinklers, der Dietrich bereits in den metallenen Einzelteilen der Vorrichtung versenkt. Sie ließ ihn ein winziges Stück arbeiten, millimeterweise, schraubte so lange darin herum, bis er schließlich tiefer in das Innenleben sank – und sie alle etwas hörten.
Ein kurzer, metallischer Klick, kein zerbrochenes Glas oder brechendes Metall, eher ein Anzeichen dafür, dass sie auf dem richtigen Weg waren. Und doch gab die Ampulle nicht sofort nach, widersetzte sich dem stählernen Dietrich. Sie hörte, wie Lyz frustriert keuchte. »Mach schon, du dummes …« Sie drehte den Dietrich weiter und zitterte inzwischen am ganzen Körper, ihr Fuß langsam, aber sicher auf dem Weg, sich vom Vorsprung zu verabschieden.
Es war zu spät. Sie würden hier ihr Ende finden. Die Welt um sie herum begann immer wärmere Farben anzunehmen, und im Augenwinkel glaubte sie, Formen und Figuren zu erkennen, Wasser und Fische, fast so wie bei ihrem-
Und dann – wie eine Spule, die eine alte Erinnerung zurückspult – brüllte der Gedanke, der sich so geschickt in ihrem Kopf versteckt hatte, triumphierend auf und brachte sie zurück in diese Welt. Ein einzelner Satz war es, der Inez wie ein Blitz traf:
»Synthetisierter Dym löst sich erstaunlich schnell in Wasser auf … Wenn es so große Mengen Wasser oder Dampf in diesem Raum gibt … dann haben Sie Flecken an den Wänden – die kriegen Sie nie wieder raus.«
Anaïs’ Stimme, hell und leise, eine höfliche Warnung verkleidet als Salonplauderei. Inez sah die Fische über dem Triptyque-Tisch, sah den Dampf, die Tropfen auf Anaïs’ Hand; sie sah, wie die alte Frau ihr zugezwinkert hatte, als wären sie alte Freunde, die sich schon ewig kannten. Was, wenn diese Worte kein Spott gewesen waren? Was, wenn sie nicht Montclaro galten, sondern den drei Dieben?
»Lyz«, keuchte sie, »das ist es. Das Wasser. Mach’s kaputt.«
»Mit Vergnügen«, knurrte Lyz, presste den Dietrich noch einmal an … drehte … und riss in einer einzigen, ungeduldigen Bewegung die Ampulle aus der Fassung – und jetzt gab sie nach, nicht mit einem Knall, eher mit einem kleinen, beschämten Zischen, als wäre es ihr peinlich, so lange widerstanden zu haben.
Für den Bruchteil einer Sekunde passierte gar nichts. Der Dym streckte sich weiterhin gleichgültig zur Decke, Téo atmete weiterhin unregelmäßig und mit zitternden Händen, Lyz wendete ihre gesamte Kraft auf, nicht von dem Vorsprung zu fallen, ihr Körper ein einziges krampfendes Etwas. Nur Inez stand da, merkte, wie sie langsam kein Gefühl mehr in ihrem Körper hatte, und bereit war, ihr Schicksal zu akzeptieren. Wie ironisch, dachte sie, und musste fast lachen. Natürlich hatte Téo recht, natürlich war kein Wasser in den Tanks, vielleicht hatte Anaïs auch gelogen und einfach nur einen Scherz gemacht, vielleicht waren sie zu arrogant und stolz gewesen, überhaupt daran zu denken …
Und dann kam das Wasser.
Es war ein heroischer, triumphaler Schwall. Der einzelne Sprinkler, der nachgegeben hatte, sendete ein Signal an seine Brüder, und diese folgten ihm bereitwillig. Mit einem Mal explodierte die Decke über ihnen in einem kalten Regen und traf die drei Freunde, den Boden der Halle und die Kisten – und natürlich den Dym. Beleidigt zog sich der Nebel zurück und wurde zurückgedrängt, bis selbst das austretende Gas aus der Rose keine Chance mehr hatte, den Raum für sich zu beanspruchen. Sie glänzte jetzt, und an ihren Dornen perlten Tropfen wie an Zähnen, auf denen Lyz mit einem eleganten Sprung landete und die Andeutung einer Verbeugung machte, bis sie auf dem nassen Boden ausrutschte und Inez mit sich riss. Lachend versuchten sie, Halt zu finden, bis sie schließlich gegen den grinsenden Téo stießen und alle gemeinsam in einer Pfütze aus Wasser und Dym landeten. Sie waren sofort nass, überall nass, Haare im Gesicht, Stoff am Körper klebend, und doch war das die angenehmste Nässe, an die Inez sich erinnern konnte. Sie merkte, wie der Schwindel langsam weniger wurde, die Hitze in ihrer Brust der Kälte des Wassers Platz machte.
Lyz hatte es geschafft. Die nasse, prustende und zitternde Lyz hatte es geschafft. Die kleine Katzenpfote an ihrem Hals, die jetzt glänzte, winkte gleichgültig ab, als wollte sie sagen: Nicht der Rede wert. Eine meiner leichtesten Übungen. Inez drückte sie fest an sich, vergrub das Gesicht in ihrem nassen Haar. »Danke … danke …«, raunte sie, und Lyz murmelte nur verlegen etwas vor sich hin.
Téo, der ein ungelenkes Lachen ausstieß, das nahe am Schluchzen lag, hob den Kopf, ließ ihn gegen das Metall sacken, atmete – einmal, zweimal, ohne zu zählen – und wirkte auf einmal wieder viel lebendiger.
»Ich nehme alles zurück, was ich über Sprinkler gesagt habe«, murmelte er, obwohl er vorher gar nichts über Sprinkler gesagt hatte, und das brachte alle drei zum Lachen. Vielleicht waren es die letzten Reste von Dym, die noch in ihrem System waren, allerdings fühlte sich dieses Lachen echt an, fühlte sich richtig an.
Lyz legte die Stirn an Inez’ Schläfe, nur kurz, ganz selbstverständlich, wie man im Vorübergehen jemanden anerkennend auf die Schulter klopfte. »Ich schulde dir ein neues Kleid«, flüsterte sie. »Und ich dir neue Schuhe«, sagte Inez, und es war erstaunlich leicht, das zu sagen, so, als ob sie gerade nicht im letzten Moment mit dem Leben davongekommen waren.
Über der Tür lösten sich die letzten Sekunden in Luft auf und gaben schließlich ihr Signal weiter. Das Gelb der Anzeige sprang auf Null, und sofort glitt eine grüne Linie über das Display, die den dreien anerkennend zunickte – und die Tür schließlich öffnete. Widerwillig gab sie nach, den Bruchteil eines Wimpernschlags zögerlich, dann entschieden, als wolle sie sich besinnen und sagen: schon gut, ihr drei, dann kommt eben rein.
Sie standen auf, immer noch triefend, und lachten kurz über die Absurdität des Moments. Und doch war auch Zeit und Raum für andere Gesten: Inez wischte Lyz’ Wimpern das Wasser aus, eine beiläufige Geste, klein, harmlos, und doch so intim, dass sie sofort wegschauen musste, um sie nicht zu groß werden zu lassen. Auch Lyz senkte die Augen, und für einen Moment war da wieder ein Schwindel in ihrem Kopf – ein anderer allerdings.
Téo machte ein Gesicht, als wolle er etwas sagen, entschied sich aber dann doch dagegen, zog stattdessen den völlig nassen Overall an sich hoch und nickte zur offenen Tür.
»Weiter, ich friere mir noch den Arsch ab, wenn ich mich nicht ein bisschen bewege.« Inez nickte und warf noch einen Blick zur Decke, an der die Sprinkler inzwischen versiegt waren.
Danke, Anaïs, dachte sie, ohne zu wissen, ob man einer Fremden danken sollte, die vielleicht gar keine war – und trat mit den anderen durch die offene Tür.
Vor ihnen lag ein langer, dunkler Gang, in dem sie kaum etwas erkennen konnten. Einzelne abstrakte Muster gaben dem Boden etwas Geheimnisvolles und führten zu der einzelnen Lichtquelle, die am Ende auf sie wartete und sich in dem glänzenden Metall spiegelte. Téo atmete überrascht auf, und selbst Lyz pfiff durch die Zähne. »Na, sieh mal einer an.«
Vor ihnen, ganz am Ende des Ganges, lag eine gewaltige Tresortür, aus der drei verzierte stählerne Drachenköpfe sie hämisch angrinsten.

Das Gas kam bedrohlich näher, ein süßer Teppich mit gierigen Fäden, die um sich griffen. Er streifte bereits ihre Knöchel, nur um dann einen Moment zurückzuweichen, als ob er mit ihnen spielen wollte. Sie mussten schnell eine Lösung finden und dafür sorgen, dass dieser schwarze Marmorraum nicht zu ihrer Krypta werden würde.
Inez merkte, wie Téo neben ihr seine Arbeit für einen Moment unterbrach und zurückwich, sich noch mehr an die Wand presste – zu schnell, zu hektisch, als dass er jetzt einen klaren Gedanken fassen könnte. Nein, auf Téo konnte sie jetzt nicht setzen, zu groß das Risiko, dass der Dym ihn ausknocken würde.
»Bleib bei mir«, raunte sie und legte ihm eine Hand in den Nacken, um ihn dann Schritt für Schritt in die Hocke zu führen, den Rücken an die schwarze Marmorwand, die unter ihren Fingern vibrierte, möglichst weit weg von den Dämpfen der Rose. Dann riss sie aus dem Saum ihres Kleides drei Fetzen Stoff heraus – eine winzige Sekunde das nun ruinierte Kleid bedauernd – und presste den Stoff vor Téos Mund; er nickte nur und bedeckte Mund und Nase. Einen zweiten Lappen presste sie gegen ihre eigenen Lippen, bevor sie aus den Augenwinkeln Lyz sah, die den Kopf in den Nacken warf und in der Decke nach einem Zugang zu den Sprinklern suchte. Sie merkte, wie auch Lyz’ Hand leicht zitterte, obwohl sie es sich nicht anmerken ließ. Drei Minuten lang die Luft anhalten? Bis dahin wären sie entweder völlig zugedröhnt, bereits im Sterben – oder beides. Nein, sie hatte es schon geahnt, als Lyz das erste Mal von den Sprinklern sprach: Diese leise Hoffnung, das Wasser – einfaches Wasser! – würde ihr Leben retten, war jetzt der einzige Plan, der noch irgendwelche realistischen Chancen hatte. Lyz war jetzt ihre einzige realistische Rettung.
»Wie komm ich zu euch kleinen idiotas …«, murmelte Lyz. Sie sah zu einem der goldenen Wagen, in denen sie noch vor einigen Minuten gehockt hatten, und stieß ein kurzes, anerkennendes Pfeifen aus. »Das sollte gehen …« Sofort zog sie ihre Schuhe aus und zog den Absatz von beiden in zwei kurzen Bewegungen ab. In ihrer Hand lagen nun zwei runde, dünne Stifte, die sie in aller Seelenruhe abschraubte, so, als wollte sie nur mal schnell ihr Make-up auffrischen. Der Dietrich, der aussah wie ein etwas zu futuristisch geratener Autoschlüssel, war schnell zusammengesetzt.
Geübt ließ sie ihn in ihren Fingern wandern, bis sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Wagen richtete. Sie tippte mit zwei Fingern gegen die Front, prüfte die Rollen und stieß ihn dann mit einem knappen Hüftschwung direkt unter ein Stahlrohr, das bis zum Boden reichte. Noch während der Wagen rollte, sprang sie leichtfüßig darauf – nur um dann sofort wieder abzurutschen und sich mit einer Hand festzuhalten. Sie fluchte leise und grinste Inez an, zuckte nur mit den Schultern, als wollte sie sagen: Schau mich nicht so an, eleganter wird’s nicht mehr.
»Lyz, wenn du fällst-« Inez brach ab und warf einen kurzen Blick zu Téo, bevor sie ihre Stimme senkte. »Und wenn’s nicht klappt?«
»Sei nicht immer so pessimistisch, Nez«, sagte Lyz und zwinkerte ihr zu – bevor sie ein Hustenanfall packte und sie beinahe von der Kiste fiel.
Alles schien langsamer zu werden: ihr Herzschlag, der Dym, der sich elegant nach oben drehte, und auch Lyz, die noch wie verrückt hustete.
Nein. Nicht Lyz.
»Lyz!« Für einen Moment blieb ihr das Herz stehen, und sie streckte hilflos die Hand aus. War es das gewesen? Hatte Lyz bereits eine tödliche Dosis eingeatmet und würde jetzt einfach vor ihnen zusammenbrechen, ihren letzten Atemzug tun, nie wieder …
»Mach dir nicht ins Hemd.« Lyz hatte sich wieder aufgerichtet und schüttelte nur den Kopf. »Lass mich einfach machen, Liebes. Obwohl …« – sie hob süffisant eine Augenbraue – »… wenn du immer so reagierst, wenn du dir Sorgen um mich machst …«
Lyz stemmte den Wagen endgültig unter das Rohr, stellte sich auf die Reling und griff zu. Nachdem sie ein paarmal an dem Stahl gezogen hatte, nickte sie zufrieden, nahm den Dietrich zwischen die Zähne und begann, ihre Füße an der Wand zu platzieren und Halt zu finden. Ein Rad des Wagens quietschte, und die ganze Kiste rollte zurück, bevor Lyz schließlich begann, das Stahlrohr hinaufzuklettern. Sie war auf direktem Wege zu einem winzigen Vorsprung ganz am Ende des Rohrs, auf dem sie – mit ganz viel Glück – für einen Moment lang stehen konnte, um sich zum Sprinkler zu strecken.
Inez erwischte sich dabei, wie sie den Atem anhielt und ihre Augen ihrer Freundin folgten. Ob sie es wahrhaben wollten oder nicht: Würde Lyz scheitern, dann würde das Trio sein unschönes Ende am Fuße dieser Rose finden. Selbst wenn Lyz es irgendwie schaffen sollte, den Sprinkler zu aktivieren, stand noch lange nicht fest, dass das Wasser irgendetwas mit dem Dym machen würde. Vielleicht käme es nur noch schlimmer, und sie hätten ein neues, noch toxischeres Gemisch, das ihnen ein schnelleres Ende bereiten würde.
Und dennoch … ein einzelner Gedanke, den sie nicht zu fassen bekam, schlich sich in ihren Kopf und wollte nicht mehr gehen. Wieso nur fühlte sie sich so zuversichtlich, dass Wasser helfen würde? Hatte sie bereits zu viel Dym eingeatmet? Sie schüttelte den Kopf und gab sich einen Ruck. Hier unten konnte sie Lyz nicht helfen – Téo allerdings schon. Kurz riskierte sie einen Blick zur Anzeige.
02:47. Zu langsam. Viel zu langsam. Schon jetzt merkte sie, wie ihr schummrig wurde. Das Keuchen von Téo holte sie wieder zurück.
Heute Nacht würden sie niemanden verlieren.
Sie rannte zu ihrem Freund, der sich an die Wand gelehnt hatte, während die nebligen Fäden bereits gierig an seiner Kleidung zogen. Sofort kniete sie sich neben ihn, bemüht, so wenig und so langsam wie möglich zu atmen. Téos Augen flatterten.
»Nez«, flüsterte er durch den Stoff, der schon nach Dym roch, nach Kirche und Metall, »ich werde hyperventilieren, nur damit du’s weißt.« Er versuchte zu lächeln, aber seine Hände zitterten unentwegt, sodass er sie umso stärker zusammenkrampfte.
»Nicht heute«, sagte Inez. »Bleib bei mir. Ganz ruhig, Téo. Denk an was Schönes. Denk dran, dass du wieder stundenlang an diesen alten Automaten rumschrauben kannst, wenn wir zurück sind. Langsam.« Sie legte seine Handfläche sanft auf ihren Bauch, wie eine Mutter bei ihrem Kind, und nahm ihn an der Hand. Behutsam atmete sie ein, so gemächlich, dass das Einatmen kaum zu hören war, und aus, bis ihre Rippen sanft wieder zur Ruhe kamen. Ihr Kopf drehte sich jetzt immer stärker, und eine verräterische Wärme breitete sich in ihrer Brust aus. Sie versuchte es zu ignorieren und zwang sich zu einem Lächeln, das hoffentlich ihre Augen erreichte. »Zähl’s mir nach.« Er nickte.
Eins–zwei–drei. Der Zeiger über der Tür quälte sich zu 01:59. Verflucht, wie lange konnten drei Minuten dauern? Dann hörte sie ein angestrengtes Stöhnen und schaute nach oben.
Lyz hatte es irgendwie geschafft, ihren einen Fuß im Rohr zu verkeilen und mit dem anderen Halt auf dem Vorsprung zu finden. In dieser angestrengten Position verrenkte sie sich in Richtung des Sprinklers, der Dietrich bereits in den metallenen Einzelteilen der Vorrichtung versenkt. Sie ließ ihn ein winziges Stück arbeiten, millimeterweise, schraubte so lange darin herum, bis er schließlich tiefer in das Innenleben sank – und sie alle etwas hörten.
Ein kurzer, metallischer Klick, kein zerbrochenes Glas oder brechendes Metall, eher ein Anzeichen dafür, dass sie auf dem richtigen Weg waren. Und doch gab die Ampulle nicht sofort nach, widersetzte sich dem stählernen Dietrich. Sie hörte, wie Lyz frustriert keuchte. »Mach schon, du dummes …« Sie drehte den Dietrich weiter und zitterte inzwischen am ganzen Körper, ihr Fuß langsam, aber sicher auf dem Weg, sich vom Vorsprung zu verabschieden.
Es war zu spät. Sie würden hier ihr Ende finden. Die Welt um sie herum begann immer wärmere Farben anzunehmen, und im Augenwinkel glaubte sie, Formen und Figuren zu erkennen, Wasser und Fische, fast so wie bei ihrem-
Und dann – wie eine Spule, die eine alte Erinnerung zurückspult – brüllte der Gedanke, der sich so geschickt in ihrem Kopf versteckt hatte, triumphierend auf und brachte sie zurück in diese Welt. Ein einzelner Satz war es, der Inez wie ein Blitz traf:
»Synthetisierter Dym löst sich erstaunlich schnell in Wasser auf … Wenn es so große Mengen Wasser oder Dampf in diesem Raum gibt … dann haben Sie Flecken an den Wänden – die kriegen Sie nie wieder raus.«
Anaïs’ Stimme, hell und leise, eine höfliche Warnung verkleidet als Salonplauderei. Inez sah die Fische über dem Triptyque-Tisch, sah den Dampf, die Tropfen auf Anaïs’ Hand; sie sah, wie die alte Frau ihr zugezwinkert hatte, als wären sie alte Freunde, die sich schon ewig kannten. Was, wenn diese Worte kein Spott gewesen waren? Was, wenn sie nicht Montclaro galten, sondern den drei Dieben?
»Lyz«, keuchte sie, »das ist es. Das Wasser. Mach’s kaputt.«
»Mit Vergnügen«, knurrte Lyz, presste den Dietrich noch einmal an … drehte … und riss in einer einzigen, ungeduldigen Bewegung die Ampulle aus der Fassung – und jetzt gab sie nach, nicht mit einem Knall, eher mit einem kleinen, beschämten Zischen, als wäre es ihr peinlich, so lange widerstanden zu haben.
Für den Bruchteil einer Sekunde passierte gar nichts. Der Dym streckte sich weiterhin gleichgültig zur Decke, Téo atmete weiterhin unregelmäßig und mit zitternden Händen, Lyz wendete ihre gesamte Kraft auf, nicht von dem Vorsprung zu fallen, ihr Körper ein einziges krampfendes Etwas. Nur Inez stand da, merkte, wie sie langsam kein Gefühl mehr in ihrem Körper hatte, und bereit war, ihr Schicksal zu akzeptieren. Wie ironisch, dachte sie, und musste fast lachen. Natürlich hatte Téo recht, natürlich war kein Wasser in den Tanks, vielleicht hatte Anaïs auch gelogen und einfach nur einen Scherz gemacht, vielleicht waren sie zu arrogant und stolz gewesen, überhaupt daran zu denken …
Und dann kam das Wasser.
Es war ein heroischer, triumphaler Schwall. Der einzelne Sprinkler, der nachgegeben hatte, sendete ein Signal an seine Brüder, und diese folgten ihm bereitwillig. Mit einem Mal explodierte die Decke über ihnen in einem kalten Regen und traf die drei Freunde, den Boden der Halle und die Kisten – und natürlich den Dym. Beleidigt zog sich der Nebel zurück und wurde zurückgedrängt, bis selbst das austretende Gas aus der Rose keine Chance mehr hatte, den Raum für sich zu beanspruchen. Sie glänzte jetzt, und an ihren Dornen perlten Tropfen wie an Zähnen, auf denen Lyz mit einem eleganten Sprung landete und die Andeutung einer Verbeugung machte, bis sie auf dem nassen Boden ausrutschte und Inez mit sich riss. Lachend versuchten sie, Halt zu finden, bis sie schließlich gegen den grinsenden Téo stießen und alle gemeinsam in einer Pfütze aus Wasser und Dym landeten. Sie waren sofort nass, überall nass, Haare im Gesicht, Stoff am Körper klebend, und doch war das die angenehmste Nässe, an die Inez sich erinnern konnte. Sie merkte, wie der Schwindel langsam weniger wurde, die Hitze in ihrer Brust der Kälte des Wassers Platz machte.
Lyz hatte es geschafft. Die nasse, prustende und zitternde Lyz hatte es geschafft. Die kleine Katzenpfote an ihrem Hals, die jetzt glänzte, winkte gleichgültig ab, als wollte sie sagen: Nicht der Rede wert. Eine meiner leichtesten Übungen. Inez drückte sie fest an sich, vergrub das Gesicht in ihrem nassen Haar. »Danke … danke …«, raunte sie, und Lyz murmelte nur verlegen etwas vor sich hin.
Téo, der ein ungelenkes Lachen ausstieß, das nahe am Schluchzen lag, hob den Kopf, ließ ihn gegen das Metall sacken, atmete – einmal, zweimal, ohne zu zählen – und wirkte auf einmal wieder viel lebendiger.
»Ich nehme alles zurück, was ich über Sprinkler gesagt habe«, murmelte er, obwohl er vorher gar nichts über Sprinkler gesagt hatte, und das brachte alle drei zum Lachen. Vielleicht waren es die letzten Reste von Dym, die noch in ihrem System waren, allerdings fühlte sich dieses Lachen echt an, fühlte sich richtig an.
Lyz legte die Stirn an Inez’ Schläfe, nur kurz, ganz selbstverständlich, wie man im Vorübergehen jemanden anerkennend auf die Schulter klopfte. »Ich schulde dir ein neues Kleid«, flüsterte sie. »Und ich dir neue Schuhe«, sagte Inez, und es war erstaunlich leicht, das zu sagen, so, als ob sie gerade nicht im letzten Moment mit dem Leben davongekommen waren.
Über der Tür lösten sich die letzten Sekunden in Luft auf und gaben schließlich ihr Signal weiter. Das Gelb der Anzeige sprang auf Null, und sofort glitt eine grüne Linie über das Display, die den dreien anerkennend zunickte – und die Tür schließlich öffnete. Widerwillig gab sie nach, den Bruchteil eines Wimpernschlags zögerlich, dann entschieden, als wolle sie sich besinnen und sagen: schon gut, ihr drei, dann kommt eben rein.
Sie standen auf, immer noch triefend, und lachten kurz über die Absurdität des Moments. Und doch war auch Zeit und Raum für andere Gesten: Inez wischte Lyz’ Wimpern das Wasser aus, eine beiläufige Geste, klein, harmlos, und doch so intim, dass sie sofort wegschauen musste, um sie nicht zu groß werden zu lassen. Auch Lyz senkte die Augen, und für einen Moment war da wieder ein Schwindel in ihrem Kopf – ein anderer allerdings.
Téo machte ein Gesicht, als wolle er etwas sagen, entschied sich aber dann doch dagegen, zog stattdessen den völlig nassen Overall an sich hoch und nickte zur offenen Tür.
»Weiter, ich friere mir noch den Arsch ab, wenn ich mich nicht ein bisschen bewege.« Inez nickte und warf noch einen Blick zur Decke, an der die Sprinkler inzwischen versiegt waren.
Danke, Anaïs, dachte sie, ohne zu wissen, ob man einer Fremden danken sollte, die vielleicht gar keine war – und trat mit den anderen durch die offene Tür.
Vor ihnen lag ein langer, dunkler Gang, in dem sie kaum etwas erkennen konnten. Einzelne abstrakte Muster gaben dem Boden etwas Geheimnisvolles und führten zu der einzelnen Lichtquelle, die am Ende auf sie wartete und sich in dem glänzenden Metall spiegelte. Téo atmete überrascht auf, und selbst Lyz pfiff durch die Zähne. »Na, sieh mal einer an.«
Vor ihnen, ganz am Ende des Ganges, lag eine gewaltige Tresortür, aus der drei verzierte stählerne Drachenköpfe sie hämisch angrinsten.
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LA DYM EN ROSE


ÜBERLEBE DIE FALLE DER DOLOREA