Es dauerte eine Weile, bis Inez’ Augen sich an das blaue Licht der High-Roller-Lounge gewöhnt hatten. Sie waren in einem kreisrunden, hohen Raum, der an eine Rotunde erinnerte. Über ihnen war ein Aquarium in die Decke eingelassen, aus dem an den Seiten sanft Wasserdampf stieg, sodass der Raum angenehm kühl war.
Gespenstische Lichter schlichen sich durch den gesamten Raum und brachen sich an den Wänden. Diese waren mit kunstvollen Reliefs verziert, welche die Geschichte Escorials zeigten. Inez kniff die Augen zusammen und musterte die einzelnen Figuren: Es waren vor allem Tiere und obskure Symbole, die in den unterschiedlichsten Konstellationen dargestellt waren. Ein Löwe, der den Mond fraß. Ein Schwert, das einen Schlüssel kreuzte. Und ein goldenes Rad, an dem links und rechts ein Engel und ein Teufel saßen.
Natürlich – es waren die Symbole aus Triptyque.
Sie ließ den Blick weiter schweifen: Genau in der Mitte des Raums war ein schwerer, runder Marmortisch eingelassen, an dem bereits mehrere Personen saßen. Eine ältere Dame, ganz in Weiß gehüllt, die mit einer für diesen Raum merkwürdigen Autorität dasaß und ihr Gegenüber lächelnd anschaute. Ihr graues Haar war kunstvoll hochgesteckt und mit einem massiven Kruzifix fixiert, bei dem sich Inez fragte, wie genau dieses Gebilde an ihrem Kopf platziert wurde. Sie war allein – zumindest schien es so –, doch es lag etwas in ihrer Präsenz, das Inez erschauern ließ. War sie vielleicht eine Saint? Nein, das passte nicht zusammen.
Ihr gegenüber saß ein Mann mit weißem, zurückgekämmtem Haar und einem dunklen, gut sitzenden Anzug. Er machte einen freundlichen Eindruck – zu freundlich für das Sanctum Sins. Einige kunstvoll gemalte Drachen zierten seinen Hals und bildeten eine Hydra, die das Maul weit aufgerissen hatte. Als der Mann sich zurücklehnte, sah Inez eine kleine goldene Hand aufblitzen, die von kleineren weißen Händen getragen wurde. Sie zuckte unwillkürlich zusammen.
Trinitriad – ein Haus in La Perdante, das sich aus den ehemaligen Gewerkschaften von Escorial zusammengeschlossen hatte und sich so gegen die anderen Familien behaupten konnte. Sie waren begnadete Schmuggler und seit einiger Zeit eifrig dabei, Waffen herzustellen und zu verkaufen. Sie blickte unwillkürlich zu Lyz herüber. Hoffentlich hatte sie nicht eben diesen Trinitriad ausgeraubt. Téo wüsste sicher mehr, allerdings konnte sie ihn jetzt schlecht fragen. Hinter dem Mann standen zwei ähnlich gekleidete Begleiter, wohl Leibwächter. Auch sie trugen die Insignien; ihre Hände waren allerdings alle weiß. Auf den ersten Blick schien von ihm keine offensichtliche Gefahr auszugehen.
Noch nicht.
Zuletzt fiel ihr Blick auf den letzten Spieler am Tisch: ein feister Mann, der allerdings piekfein gekleidet und gepflegt war – wenn man von seinem verschwitzten, hochroten Gesicht einmal absah, das er ständig mit einem Tuch abwischte. Er sah vor allem teuer aus, das war das Einzige, was Inez an ihm auffiel. Keine Insignien, kein schlechtes Bauchgefühl, keine merkwürdigen Begleiter. Wahrscheinlich einfach ein reicher Geschäftsmann aus La Perdante oder Altarégia, wo die Clerarchie und ihre Schuldbörse ihren Sitz hatte.
Als die drei Diebe eintraten, drehten sich die Spieler zu ihnen um und reagierten unterschiedlich: Der Trinitriad lächelte ihnen freundlich zu, der feiste Mann würdigte sie keines weiteren Blickes, und die Dame in Weiß schaute sie mit einem fast schon … zufriedenen Blick an? Inez lugte zu Lyz und Téo, die eingeschüchtert wirkten – sie wusste allerdings nicht, ob vom Raum oder von seinen Menschen. Die drei Freunde tauschten einen letzten kurzen Blick aus, der ihnen allen unmissverständlich klar machte:
Wir haben eine Chance. Vermasseln wir es nicht.
Inez nickte den anwesenden Spielern zu und setzte sich an den letzten verfügbaren Platz, genau gegenüber der Dame in Weiß. Es war ein massiver Thron aus weißem Marmor, der alles andere als bequem war. Sie drehte sich leicht nach hinten und sah einen eingravierten Mond auf der Rückenlehne hinter sich.
Die Karte der Offenbarung und der Geheimnisse.
Lyz stellte sich neben sie und ließ wie beiläufig ihre Hand auf der ihren ruhen. Sie war eiskalt. Inez verschränkte ihre Finger mit den ihren, und so blieben sie einen Herzschlag lang, bevor Inez den Anwesenden zulächelte. Sie hörte, wie Téo sich – ganz seiner Rolle entsprechend – ein wenig zurückzog, sie aber weiterhin im Blick behielt. Alle waren in Position. Sie atmete tief durch.
Dann wollen wir mal spielen.
»Guten Abend, werte Dame, meine Herren …« Sie war sofort in ihrer Rolle: Esierra Dante, eine reiche Erbin eines Immobilienmoguls, der nach Escorial zugezogen war. Téo hatte einige Datenbanken gefälscht, sodass sie einer Überprüfung standhalten sollte. Sie lächelte den Anwesenden höflich, aber mit der genau richtigen Portion Arroganz zu. »Esierra Dante. Sehr erfreut, solch … illustre« – sie zog dieses letzte Wort bewusst in die Länge – »… Persönlichkeiten kennenzulernen.«
Der Trinitriad war der Erste, der reagierte. Er senkte huldvoll den Kopf und bot ihr seine ausgestreckte Hand an, die sie kurz berührte, allerdings nicht umschloss – das hätte bedeutet, dass sie der Trinitriad in ewiger Loyalität verbunden war.
»Zhenferro.« Er lächelte jetzt und zog die Hand wieder zurück. »Schön, dass wir eine letzte Spielerin gefunden haben.«
»Wurde auch mal Zeit …« Der feiste Mann, der gesprochen hatte, schaute sie mit zusammengekniffenen Augen an und nickte knapp. »Séverin Montclaro … Feuvigil.« Der Mann reckte stolz die Brust und schaute sich nach links und rechts um, als ob er Beifall für seinen Namen – oder den seiner Corporación – erwartete. Zhenferro kicherte und schüttelte kaum sichtbar den Kopf.
Feuvigil also. Der Waffenriese, der Exklusivverträge mit der Clerarchie hatte und die Confesseure mit der nötigen Feuerkraft ausstattete. Manche munkelten, selbst die Inquistadores würden ihre Waffen von Feuvigil beziehen, aber das war nur ein Gerücht. Obgleich die Corporación der De-facto-Marktführer in Escorial war, stand es in letzter Zeit nicht allzu gut um den Waffenbauer. Die Ardientia, einer der Ordres von La Gagnante, befand sich in einem bewaffneten Konflikt mit Feuvigil, den die Clerarchie im Moment duldete – sofern die Ablasssummen fristgerecht gezahlt wurden.
Beide Waffenschmieden stellten tödliche Thermitmunition her und beanspruchten ein Monopol für sich, sodass Reibereien vorprogrammiert waren. Auch in La Perdante lief es alles andere als glatt: Ausgerechnet die Trinitriad hatte den Waffenmarkt für sich entdeckt und wichtige Produktionsstandorte und Infrastrukturketten entweder vernichtet oder übernommen.
Inez lächelte. Böses Blut an diesem Tisch? Das konnte sie nutzen.
Sie nickte Montclaro zu und wandte sich schließlich der Dame in Weiß zu, die ihr gegenübersaß und sie mit verschränkten Händen musterte. Sie hatte blaue, fast schon weiße Augen und musste um die fünfzig sein – wäre allerdings das Haar nicht, hätte Inez sie auf Mitte dreißig geschätzt. Die Frau sah gesund und geradezu muskulös aus. So sahen keine reichen, verwöhnten Damen aus La Perdante aus. Vielleicht war sie tatsächlich eine ehemalige Saint, die ihren Lebensabend mit Triptyque und kühlen Getränken verbrachte. Irgendwie konnte Inez das allerdings nicht glauben. Die Dame in Weiß lächelte jetzt.
»Schön, dich kennenzulernen … Esierra.« Sie versah diesen Namen mit einer eigenartigen Melodie, die Inez die Nackenhaare aufstellte. Was war nur mit dieser Dame, das ihr so viel Angst einjagte? Die Dame schien ihre Reaktion zu genießen. »Anaïs … der Name sollte für den heutigen Abend reichen, nicht wahr? Und wer ist denn deine reizende Begleitung?« Sie blickte Lyz direkt in die Augen, die hörbar schluckte, dann aber trotzig das Kinn reckte. »Lucille … auch das sollte reichen, oder?«
Anaïs lachte kurz und nickte anschließend. »Das tut es wohl, Kind, das tut es wohl …« Sie lehnte sich wieder zurück und blickte zu ihren Mitspielern. »Wie unser geschätzter Kollege von Feuvigil bereits festgestellt hat, sind wir nun komplett … ich denke, wir sollten ein Spiel wagen, findet ihr nicht?«
Wie als hätte er nur auf diesen Augenblick gewartet, öffnete ein piekfein gekleideter, gestriegelter Mann in einem blauen Anzug eine massive Holztür im Raum und näherte sich gemessenen Schrittes dem runden Tisch. Er war perfekt rasiert, hatte kurze Haare, die er dennoch zurückgegelt hatte, und ein kräftiges Gesicht mit sanften Augen, die an einen Hund erinnerten und nicht zu dem Rest des Mannes passten. Inez merkte, wie Lyz’ Hand sich kurz zusammenzog.
Der Pitbull war da.
»Hoher Tisch, es ist mir eine Ehre, den heutigen Abend Triptyque für Sie zu leiten.« Der Pitbull schaute jedem einzelnen der Spieler kurz in die Augen und verbeugte sich, bevor er wieder nach vorn blickte und weitersprach. Inez merkte, wie seine Augen sie für einen Moment scannten und tausende Überlegungen gleichzeitig anstellten. Sein Blick fiel auf ihre Hand, die sanft von Lyz gehalten wurde, und für einen winzigen, kaum wahrnehmbaren Augenblick zuckte sein Blick, bevor er sich wieder vollständig unter Kontrolle hatte. Er hatte alles, zu jeder Zeit, im Blick.
Dies würde nicht so einfach werden, das war sicher.
»Mein Name ist Zerard Duvalczak – ich habe die Ehre, das Sanctum Sins zu leiten und über die Einhaltung aller Regeln und aller Spiele zu wachen.« Er lächelte knapp. »Sie sind in guten Händen.« Dann fiel er wieder in seine kühle Professionalität zurück.
»Bevor das Spiel beginnt – darf ich den Damen und Herren eine Erfrischung oder sonstige Annehmlichkeiten anbieten?«
Bei diesen Worten richtete sich Montclaro, der bis dahin gelangweilt an die Decke gestarrt und den Fischen hinterherglotzt hatte, auf und rieb sich feixend die Hände. »Eine hübsche Dosis Dym würde mir jetzt richtig guttun …«
Dym … Inez erschauerte. Dieses Wort trug viel Dunkles mit sich.
In Escorial war Weihrauch lange etwas ganz Alltägliches gewesen, das für die diversen Messen, Zeremonien, Andachten – und irgendwann auch Partys – genutzt wurde. Was zunächst allgegenwärtig und kein Problem war, verpestete irgendwann die Stadt, sodass die Clerarchie strenge Regelungen beschloss.
Natürlich hielten sich nicht alle daran – und lagerten und entsorgten den Weihrauch dort, wo es niemandem auffiel … in der Viadombra. Der Weihrauch reagierte zusammen mit den Substanzen in den Katakomben – Schimmel, Rost, Chemikalien … und Schlimmeres – und bildete ein tödliches Gas, das große Bereiche der Viadombra verseuchte. Man nannte es Dym.
Inez, Lyz und Téo hatten immer einen großen Bogen um die Viadombra gemacht – wenn sie sich doch einmal in den Katakomben verstecken mussten, waren sie beim kleinsten Geruch von Weihrauch sofort verschwunden. Inez kannte Menschen, die mit Dym in Berührung gekommen waren: Einige waren am ganzen Körper entstellt, andere wurden wahnsinnig.
Doch Escorial wäre nicht Escorial, wenn aus dem Heiligen – oder Unheiligen – nicht dennoch Profit geschlagen würde.
Die Familie Dolorea entwickelte synthetischen Dym, der in genau dosierten Mengen einen Rausch auslöste, in dem die Menschen in wohligen Träumen versanken. Es war allerdings sehr leicht, eine Überdosis zu bekommen – und die Drogentoten von Vita Nera sprachen Bände darüber.
Inez presste die Lippen zusammen. Sie hasste diesen Geruch.
Anaïs stieß ein leises Lachen aus und schüttelte den Kopf. »Keine gute Idee, mein Lieber. Sie wollen doch nicht diesen edlen Raum ruinieren …«
Montclaro schnaubte und starrte sie mit seinen kleinen Augen an. »Was meinen Sie? Wieso nicht?«
Anaïs antwortete nicht sofort und legte stattdessen den Kopf in den Nacken, beobachtete die Fische, bevor sie antwortete. Die bunten Farben zogen anmutige Bahnen, die ebenso schnell verschwanden, wie sie auftauchten. Sie hob eine Hand und ließ die Tröpfchen darauf niederregnen.
»Der Wasserdampf. Synthetisierter Dym löst sich erstaunlich schnell in Wasser auf …« Sie schaute wieder hoch und zwinkerte Inez zu. »Wenn es so große Mengen Wasser oder Dampf in diesem Raum gibt … dann haben Sie Flecken an den Wänden – die kriegen Sie nie wieder raus. Wie schade!« Sie blickte Inez weiterhin unverwandt an, bis diese den Blick senkte. Was war nur mit dieser Frau?
Montclaro schnaubte und verschränkte die Arme. Er stierte einen Moment nach unten, bevor er sich direkt an den Pitbull wandte. »Stimmt das?« Dieser nickte kurz und lächelte Anaïs zu. »Señorita Anaïs ist gut informiert. In der Tat – Dym müssten Sie in der Lounge in der Haupthalle zu sich nehmen.« Montclaro stieß einen tiefen, brummenden Seufzer aus und winkte ab. »Schon gut. Ein andermal.« Der Pitbull nickte.
»Nun, wenn es nichts Weiteres gibt …?« Er wartete exakt drei Sekunden, bevor er weitersprach und seine Miene eine feierliche Ernsthaftigkeit annahm. »Dann bitte ich Sie, Ihre Einsätze zu präsentieren.« Der Pitbull breitete die Hände aus, und Inez sah ein Glitzern, das ihren Atem zum Stocken brachte.
Für einen kurzen Moment sah sie die Schlüsselkarte, die sie kopieren mussten, bevor sie ebenso schnell wieder verschwand. Am unruhigen Hin- und Herschieben von Lyz merkte sie, dass auch sie es gesehen hatte. Téos vorsichtiges Räuspern machte ihr Trio komplett. Es half jedoch nichts – der Pitbull musste direkt zu ihnen, zu Lyz, kommen.
Mit einem Mal erwachte die Spielgemeinschaft zum Leben: Zhenferro stieß ein leises Pfeifen aus, auf das seine Begleiter sofort reagierten und einen verzierten Koffer auf den Tisch legten, der dem ihrer Gruppe sehr ähnlich sah. Montclaro zog denselben Koffer unter dem Tisch hervor und schob ihn vor sich, bevor er sich an den Verschlüssen abmühte. Nur Anaïs ließ sich Zeit, schaute weiter den Fischen zu und beachtete die anderen nicht.
Auch Inez schnippte einmal und zitierte Téo herbei, der mit gemessenen Schritten zum Tisch kam und den Koffer präsentierte. Kurz bevor er sich wieder entfernte, hörte sie sein leises Flüstern: »Fünf Sekunden …«
Inez nickte und drückte Lyz’ Hand. Sie mussten sich in Stellung bringen.
Der Pitbull nickte allen Spielern zu und blieb schließlich bei Anaïs hängen. Er räusperte sich. »Señorita Anaïs? Ihr Einsatz?« Die Dame in Weiß löste ihren Blick langsam von den Fischen und lächelte entschuldigend. »Natürlich. Verzeihen Sie bitte meine Unachtsamkeit, ich war … ganz vertieft, wissen Sie? Solch zarte Kreaturen …« Ihr Blick wurde träumerisch, bevor sie aus dem Nichts eine Münze in ihrer Hand auftauchen ließ, die in ein tiefes Violett gehüllt war. Ein »L« mit einem horizontalen Strich war darauf geprägt.
Lyz stieß ein anerkennendes Pfeifen aus, das ihr ein entschuldigendes Lächeln von Anaïs einbrachte. 50 000 Escodinar in einem Jeton.
Diese Frau musste schwerstreich sein.
Der Pitbull nickte und entnahm aus einem versteckten Fach einen verzierten goldenen Stab. Dann schaute er in die Runde. »Sie sind mit den Regeln von Triptyque vertraut?« Die Anwesenden nickten, Anaïs hob jedoch die Hand.
»Würden Sie mir den Gefallen tun? Ich möchte schließlich …« – sie schaute wieder zu Inez und Lyz, die unverwandt zurückschauten – »… dass alle dieselben Chancen haben, wissen Sie? Die Vergesslichkeit einer alten Dame, entschuldigen Sie.«
Der Pitbull nickte und begann zu erklären.
»Triptyque ist ein uraltes Ritual, erwachsen aus den alten Zeiten unserer Stadt. Damals wurden die Karten genutzt, um eines jeden Schicksal zu bestimmen; heute dient ihr Glück einzig dem Wunsch nach Gewinn. Wir spielen mit einem Iconarium aus dreiunddreißig einzigartigen Karten. Jeder erhält zu Beginn drei Karten verdeckt. In der Mitte liegen vier Karten offen: Dies ist unser Reliquiar und bleibt während der Runde stets bei vier. Alles, was im Lauf der Runde offen abgelegt wird, sammelt sich in der Ablage. Geht der Stapel aus, mischen wir die Ablage auf und spielen ohne Unterbrechung weiter.«
Er ließ den Stab über den Tischrand wandern, wo kleine Embleme eingelassen waren. »Ihr Ziel ist es, am Ende der Runde höchstens dreiunddreißig Punkte zu halten und näher an dieser Zahl zu liegen als die übrigen. Treffen Sie die Dreiunddreißig genau, nennen wir das perfectio; in diesem Fall gehört Ihnen der Pot und ein kleiner Bonus des Hauses. Überschreiten Sie die Dreiunddreißig, ist die Hand aus der Wertung.« Er nickte den Spielern der Reihe nach zu. »Wenn Sie an der Reihe sind, wählen Sie eine Geste: Sie können ziehen und die oberste Karte auf die Hand nehmen. Sie können tauschen und eine Ihrer verdeckten Karten gegen eine Karte aus dem Reliquiar wechseln – der Markt wird sofort wieder auf vier ergänzt. Oder Sie offenbaren und decken eine Ihrer Handkarten auf, um ihre Kraft auszulösen. Nach drei eigenen Gesten knien Sie, das heißt, Sie sind für die Runde fertig. Erst wenn alle gekniet haben, folgt der Showdown: Alle Hände werden aufgedeckt; überschrittene Summen scheiden aus; die höchste Summe unter oder gleich Dreiunddreißig gewinnt – bei Gleichstand wird geteilt.«
Er führte den Stab zurück zur Mitte. »Die Karten gehören drei Familien an, und ihre Kräfte gelten beim Offenbaren. Venatio ist die Jagd.« Er zog eine Karte mit einer stilisierten Katze. »Sie ziehen zufällig eine Handkarte von einem Nachbarn und legen anschließend eine Ihrer Handkarten offen auf die Ablage.
Machinatio ist das Werkzeug.« Er deutete auf eine Karte mit einem verzierten goldenen Schädel, aus dessen Mund Münzen kamen. »Sie korrigieren den Wert einer offenen Karte um eins oder zwei – bei sich oder bei jemand anderem – oder Sie tauschen verdeckt eine Handkarte gegen eine Karte aus dem Reliquiar.«
Er hielt einen Moment inne, bevor er feierlich weitersprach und eine Karte mit einer verzierten Rose offenbarte. »Prodigio ist das Vorzeichen: Sie ziehen eine Karte; ist ihr Wert zehn oder weniger, behalten Sie sie, ist er elf oder höher, legen Sie die gezogene Karte offen in die Ablage und dürfen wahlweise die Deckoberseite oder eine verdeckte Karte eines Spielers ansehen.«
Dann zeigte er drei einzelne Plättchen, deren Gold im blauen Licht matt schimmerte. »Dazu kommen die Sakraria, selten und mächtig. Sanctus mit dem Wert vier erlaubt Ihnen im Showdown einen einmaligen Schritt um eins nach oben oder unten auf Ihre Gesamtsumme. Rota mit dem Wert sieben veranlasst, dass alle aktiven Spieler eine Handkarte verdeckt ablegen, aufdecken und im Uhrzeigersinn weitergeben; danach dürfen Sie eine Ihrer verdeckten Karten mit dem Reliquiar tauschen. Peccator mit dem Wert neun stellt jemanden vor eine klare Wahl: Entweder er zeigt eine seiner verdeckten Karten – oder er zieht eine Karte und legt anschließend eine Handkarte offen in die Ablage.«
Er legte den Stab beiseite, faltete die Hände und ließ einen Moment vergehen, als gäbe er den Worten Platz. »Zwei Hinweise noch, der Ordnung halber. Erstens: Pro Spieler berührt in jeder Runde genau eine Aktion den Stapel – sei es das Ziehen, der Prodigio-Zug oder der Tausch mit dem Reliquiar. Alles andere arbeitet mit Hand, Markt und Ablage. Zweitens: Wir spielen bei Maximaleinsätzen eine einzelne Messe, also einen einzigen Durchgang; der Prior dieser Runde beginnt, danach ist Schluss.«
Zhenferro lächelte und klopfte anerkennend auf den Tisch, während Montclaro seine Jetons wie ein Drache anstierte.
Der Pitbull hielt einen Moment inne. »Wenn es dazu Fragen gibt, beantworte ich sie vor dem Deal. Andernfalls bitte ich jetzt um die Einsätze. Danach öffne ich das Reliquiar, und wir beginnen.« Er schaute vielsagend auf die Spieler. Alle schwiegen, als sie ihre Einsätze platzierten.
Jetons im Wert von 10 000 Escodinar.
Inez schaute den rollenden Münzen wehmütig hinterher, die vom Pitbull geschickt zur Mitte verschoben wurden, wo sich inzwischen ein beachtlicher Berg an Jetons türmte – Anaïs’ violette Münze eine farbige Spitze, die sich von den anderen dunklen Jetons abhob. Der Pitbull gab ihr den Wechsel, dann nickte er.
»Drei Gesten bis zum Kniefall.«
Der goldene Stab zeichnete einen ruhigen Kreis über dem Glas. Inez hörte das leise Schaben, das in der absoluten Stille, nur unterbrochen durch das leise Plätschern des Wassers, ihre ganze Aufmerksamkeit auf sich zog.
Das Spiel der Schicksale hatte begonnen.
Zerard Duvalczak mischte und legte vier Karten offen in die Mitte: Rauch, Schmetterling, Münze, Haus. Das Reliquiar stand. Dann gingen je drei Karten verdeckt an Anaïs, Zhenferro, Montclaro und Inez. Lyz stand neben Inez’ Stuhl, die Hände gefaltet; Téo war einen Schritt zurückgewichen, aber nah genug, um die Schlüsselkarte im Blick zu haben, falls sie sich wieder zeigen sollte.
Der Prior lag auf Anaïs. Sie nahm die erste Geste ohne Eile. »Offenbaren.« Zeit. Wert achtzehn. Prodigio. Sie zog eine zusätzliche Karte, warf sie offen auf die Ablage und blickte, kaum merklich, in Zhenferros verdeckte Karten. Ein kurzes, zufriedenes Nicken, mehr nicht.
Montclaro klopfte mit zwei Fingern auf den Rand. »Offenbaren.« Schwert. vierzehn. Machinatio. »Tausch mit dem Reliquiar«, sagte er, als sei es eine Formalie, nahm das Haus, zwölf, aus dem Reliquiar; der Markt wurde sofort wieder auf vier ergänzt, und er legte im Gegenzug eine seiner Handkarten offen auf die Ablage. »Solides Material«, murmelte er und strich mit dem Daumen über die Kanten. »Wie im Sanctum Sins selbst. Kisten, Waffen, Schutzmaßnahmen – alles Feuvigil …« Er schaute Zhenferro höhnisch an. »Alles … zertifiziert.«
Zhenferro lächelte mit geschlossenen Lippen zurück. »Offenbaren.« Schlange. Venatio. vierzehn. Er zog – wie es die Regel verlangte – blind eine Karte aus Montclaros Hand. Der Pitbull wies mit einer eleganten Geste auf die Ablage; Zhenferro legte eine eigene offene Karte dorthin, den Käfer, und sagte immer noch freundlich: »Ihr Stahl ist hübsch. Unsere Kugeln gehen trotzdem hindurch.«
Montclaro richtete sich auf. »Wie bitte?«
»Sie gehen hindurch«, wiederholte Zhenferro höflich. »Nicht überall. Aber dort, wo es zählt.« Seine Augen blieben freundlich, was es schlimmer machte. Montclaro schnaubte und schaute wieder auf den Stapel an Jetons, der über den Karten thronte. Eine Ader trat an seiner Stirn hervor.
»Señores«, sagte der Pitbull leise, »wir bleiben beim Spiel.« Keine Drohung, nur die Erinnerung an die Grenzen des Spiels – und des guten Geschmacks.
Inez war an der Reihe, blickte auf die vor ihr liegenden verdeckten Karten – und atmete ein. Sie hatte nie den Reiz von Triptyque verstanden; zu kompliziert, zu affektiert kam ihr das Spiel vor. Doch hier ging es nicht nur um Jetons: Diese eine Runde würde darüber entscheiden, ob sie an ihren dringend benötigten Schlüssel kommen würden.
Dann atmete sie aus.
»Offenbaren.« Sie drehte die ganz linke Karte auf.
Mond. Elf. Prodigio.
Natürlich.
Sie zog, legte die gezogene Karte offen in die Ablage, dann hob sie den Blick und sah in eine von Montclaros verdeckten Karten, der zähneknirschend schwieg. Fürst. Sie merkte es sich, ließ es sich nicht anmerken. Lyz’ Hand spannte sich auf ihrer Schulter an, dann wieder locker.
Zweite Runde der Gesten.
Anaïs kippte eine zweite Karte auf: Sanctus – eine junge Frau, die Augen verbunden und im Gebet versunken. Wert vier. Sie sagte nichts weiter; die Wirkung kam später.
Montclaro blies die Luft aus und offenbarte eine weitere Karte – ein kräftiger Mann, eine goldene Schusswaffe in der Hand. »Peccator«, sagte er dann, sichtbar zufrieden, als die Karte mit dem Wert neun auf seiner Seite lag. Der Sünder. »Zhenferro, mein Bester. Confessio oder Tentatio?« Montclaro zwinkerte – eine Geste des Spotts.
Zhenferro hob die Hände, als wöge er zwei gleich schwere Dinge und nickte dann ergeben. »Confessio.« Er drehte eine Karte um. Vögel. elf. »Ich habe nichts zu verbergen.« Er faltete die Hände übereinander und legte den Kopf zur Seite. »Sagen Sie mir, wie ergeht es Ihrer Corporación in letzter Zeit? Es gab Gerüchte, wissen Sie … Gerüchte, dass …«
»Nichts als Schall und Dym«, presste Montclaro hervor. »Feuvigil hat Verträge mit der Clerarchie. Wir beliefern alle relevanten Akteure mit Thermit und Stahl. Was ich von Ihrem … Gewerkschaftshaufen … nicht behaupten kann.« Er zwang sich zu einem dünnen Lächeln. »Und ohne Zertifizierung …«
Anaïs sah zu den Fischen hinauf, als lausche sie einer alten Melodie. »Ach, die Hydra ruft nach einer Plakette«, sagte sie so leise, dass es doch alle hörten.
Der Pitbull räusperte sich. Selbst in diesem Räuspern lag eine offensichtliche Strenge. »Monsieur Montclaro.«
Montclaro straffte die Schultern, jetzt war Zhenferro wieder dran. »Offenbaren.« Rota. sieben. Ein verziertes Rad, irgendwo zwischen Schicksalsrad und Roulette. Der Pitbull nickte und gab das Zeichen. Alle Spieler legten eine Handkarte verdeckt ab, deckten auf und gaben sie offen im Uhrzeigersinn weiter. Anaïs nahm eine Karte, ohne hinzusehen. Inez gab den Hund (13) an Anaïs weiter und erhielt von Zhenferro die Vögel (11). Zhenferro tauschte anschließend – wie es die Rota erlaubte – eine seiner verdeckten Karten gegen den Schlüssel (11) aus dem Reliquiar; der Markt wurde aufgefüllt.
Inez war wieder dran: Sie dachte kurz nach und wandte sich einer weiteren Karte zu. Offenbaren. Maske, Wert fünf. Machinatio. Sie sah auf die offenen Werte, rechnete einmal, dann tippte sie auf ihre Mondkarte. »Minus eins«, sagte sie ruhig. Der Pitbull bestätigte mit einem kaum sichtbaren Nicken und platzierte eine kleine unscheinbare Münze auf der Karte. Eine gewisse Hitze schien von ihr auszugehen.
Montclaro knirschte mit den Zähnen. »Interessant, wie Sie Zahlen biegen, Señora Dante.«
»Nun, wir alle spielen, um zu gewinnen, nicht wahr?«, sagte Inez, und Lyz’ Mundwinkel zuckte.
Dritte Runde.
Anaïs nahm Venatio. Löwe. fünfzehn. Sie zog eine Handkarte bei Montclaro – Zufallswahl durch Duvalczaks Fingerzeig – und legte dafür eine eigene offen auf die Ablage. Montclaro wurde rot. »Das ist ein Witz.«
Anaïs zuckte nur entschuldigend mit den Schultern, bevor der Pitbull Montclaro erwartungsvoll anschaute.
Dieser griff sich ans Kinn. Dann drehte er eine weitere Karte um. Das Haus, Wert zwölf. »Machinatio.« Er hob eine seiner offenen Karten an – Schwert – und ließ sie wieder los. »Plus zwei.«
Der Pitbull setzte den Wert. Montclaro nickte, als hätte er dem Tisch etwas bewiesen.
Zhenferro machte seine letzte Geste knapp. »Knien.« Er lehnte sich zurück. »Ich bin zufrieden.«
Inez sah auf ihre Hand, auf den offenen Mond und die Maske, das Reliquiar, auf Zhenferros Hals, wo die gemalten Drachen schimmerten. Sie spürte, wie Lyz ihr kurz die Schulter drückte. Das Spiel ging zu Ende, und es würde sogleich zum Showdown kommen – doch ihr eigentliches Ziel hing am Gürtel des Pitbulls und würde über Sieg oder Niederlage entscheiden; über Leben und Tod. Es war an der Zeit, den Pitbull zu sich zu locken, damit Lyz die Karte kopieren konnte.
Sie schaute nach oben zu dem Wasserdampf und merkte, wie winzige Wassertröpfchen ihr Gesicht benetzten – kaum merklich, und doch spürte sie die Kälte, die sich darüber legte. Ihre Augen schlossen sich, und für einen Moment wurde es still. Vor ihrem inneren Blick taten sich drei Karten auf, die ihr ganz eigenes Triptyque darstellten.
Der Hund. Venatio. Wert dreizehn. Sie wusste, dass für Zerard Duvalczak die Regeln und Gesetze des Sanctum Sins heilig waren. Ein einfacher Regelverstoß, eine simple Anpassung ihrer Karte, würde den Wachhund des Sanctum sicherlich zur Rage bringen und ihn zur Kontrolle der Karten zwingen. Sie könnte die kleine Münze nehmen und verschwinden lassen - das Spiel durcheinanderbringen. Genug Zeit also, dass Lyz die Karte kopieren konnte – und sie anschließend um einen Schlüssel reicher waren. Sie würde sich einfach herausreden und es auf ein Versehen schieben; was schadete es schon, dass sie danach nicht mehr weiterspielen konnten? Dennoch regte sich ein leiser Zweifel in ihr. Der Pitbull nahm das Spiel sehr ernst – und möglicherweise auch die notwendigen Konsequenzen eines Regelbruchs.
Das Schwert. Machinatio. Wert vierzehn. Sie hatte gemerkt, wie leicht sich Montclaro in Rage bringen ließ. Der Streit mit Zhenferro war ein Anfang, allerdings konnte sie den Einsatz durchaus noch erhöhen und seine Wut auf die Spitze treiben. Drei gezielte Stiche ins Herz – und schon würde er nicht anders können, als seine Ehre zu verteidigen und die kurze Distanz zu ihr zu überwinden. Der Pitbull würde seiner Pflicht nachkommen, eingreifen und Schaden von seinen Spielern abwenden. Doch wer wusste schon, wie der Waffenhändler reagieren würde? Womöglich würde er sie nur anfauchen und sich anschließend verziehen – und die drei Diebe hätten sich einen neuen starken Feind gemacht.
Dann spürte sie die Hand von Lyz auf ihrer Schulter, und eine leise Röte schlich sich in ihr Gesicht. Die Katze. Venatio. Wert zehn. La Perdante war durchaus weltoffen – wenigstens mehr als La Gagnante –, allerdings war selbst im Sanctum Sins ein gewisser … Anstand zu erwarten. Obgleich alleine die Möglichkeit, darüber nachzudenken, ihr Herz schneller schlagen ließ, könnte sie ihre erfundene Liebesgeschichte durchaus noch … glaubwürdiger machen. Wenn sie Zerard Duvalczak das Gefühl geben konnten, dass sie das Haus und sein Ansehen nicht respektierten, würde das ihn womöglich dazu bringen, die beiden Turteltäubchen zu trennen – oder aber er würde es mit einem müden Lächeln abwinken.
Was immer sie tat – es brauchte die goldene Mitte: Sie musste den Pitbull weit genug von der Leine lassen, dass sie seinen Schlüssel bekamen, durfte ihn allerdings nicht zum Bellen bringen.
Sie öffnete die Augen. Er starrte sie erwartungsvoll an.
»Knien«, sagte sie dann nur.
Der Pitbull ließ den Blick einmal um den Tisch laufen und nickte dann.
»Showdown.«