



EYES IN THE SKY
»… kannst du es glauben, Valeto hat schon wieder die verdammte Kiste vor dem Fahrstuhl stehen lassen! Ich habe so langsam keine Lust mehr, die immer wieder für ihn nach unten zu bringen … Das nächste Mal lass ich die einfach stehen.«
Der andere schnaubte zustimmend. »Und dann darfst du den Zorn der Vorsitzenden ausbaden. Sag lieber dem Chef Bescheid, dann darf er sich das nächste Mal um die Kabel kümmern.« Inez sah die Schatten am Ende des Ganges näher und näher kommen.
Lyz war die Erste, die reagierte.
»Schnell! Rein da!« Sie deutete auf eine Tür zu ihrer Linken, die ein kleines goldenes Zahnradsymbol zeigte, und preschte vor, ihre beiden Freunde hinter sich herziehend. »Braucht ihr ’ne extra Einladung?«
Das Knäuel, das Lyz, Téo und Inez hieß, bugsierte sich durch die Tür und landete schließlich – keine Sekunde zu früh – in einem dunklen Raum, in dem es entfernt nach Kabeln und Metall roch. Inez meinte vage, golden schimmernde Kisten zu erkennen, bevor Lyz sie an die Wand presste und ihr den Mund zuhielt. Auch Téo hatte sich inzwischen gefangen und schaute sie mit aufgerissenen grauen Augen an, in denen sich das Licht einer Schalttafel spiegelte.
Alle drei versuchten, ihren Atem unter Kontrolle zu bringen und keinen Laut von sich zu geben. Dann wurden die Stimmen von vorhin wieder lauter.
»Und sag ihm, dass er seinen scheiß Overall anziehen muss! Ich habe keine Lust, dass wir schon wieder die Überreste von jemandem von den Fliesen kratzen dürfen, weil er zu dumm war.«
Der andere lachte auf und murmelte zustimmend vor sich hin, bevor sie das Öffnen einer Tür hörten – und dann nichts mehr.
Inez atmete aus – und blinzelte ein paarmal, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen.
Der Lagerraum, in dem sie standen, beherbergte ein Sammelsurium an verschiedenen Kabeln, die mal von der Decke hingen und mal einfach auf Tischen oder auf dem Boden lagen. Einzelne Stahlregale waren vollgestopft mit Werkzeug, kleinen Plastikflaschen mit verblichener Aufschrift und zerknickten Mappen.
Eine massive goldene Kiste aus Metall nahm den Großteil des kleinen Raums ein – sie war mit kleinen Handgriffen an den Seiten ausgestattet und fuhr auf Rädern. Ein dreiköpfiger Drache war in das Metall eingearbeitet und verbarg geschickt die Scharniere der Kiste, die sich anscheinend öffnen ließ. Nur die blinkenden LEDs einer Schalttafel sorgten für ein winziges Licht.
Hinter ihr sperrte Lyz mit einem leisen Klicken die Tür ab und tastete sich an den Wänden entlang. »Verflucht, gibt es hier keinen Lichtschalter?« Téo hatte sich bereits zur Schalttafel vorgekämpft und hantierte vorsichtig daran herum. Inez seufzte und setzte sich auf einen Haufen Kabel auf dem Boden.
Das war ja gerade noch so gut gegangen.
Sie waren jetzt inmitten des Sanctum Sins. Zu diesem Zeitpunkt war ihre angebliche Tarnung nutzlos, und es ging nur noch darum, unentdeckt zur Kamerasteuerung vorzudringen und anschließend zum Fahrstuhl – und dann war es nur noch ein Katzensprung zum Tresor.
Sie erschauderte, wusste aber nicht, ob aus Angst oder Vorfreude.
Als Lyz zum wiederholten Mal gegen ein Regal stieß und Téo mit immer größerer Ungeduld versuchte, den Schaltkasten zu öffnen, räusperte sie sich.
»Leute, wir brauchen einen Plan. Hier könnte jederzeit jemand vorbeikommen und uns dabei erwischen, wie wir alte Kabel und ein paar gammlige Mappen klauen.«
Lyz, die es inzwischen irgendwie in die entlegenste Ecke des Raums geschafft hatte, pflichtete ihr bei.
»Mastermind, wie kommen wir jetzt zu diesem Kameraraum? Klettern wir durch einen Lüftungsschacht? Oder verkleiden wir uns als die Triparques?«
Téo hatte inzwischen den Schaltkasten aufbekommen und eine Taschenlampe gefunden, die er nach mehrmaligem Klopfen auch anbekam. In dem schwachen Licht sah sein Gesicht gespenstisch aus. »Also … gute oder schlechte Nachricht zuerst?«
Lyz und Inez sprachen zeitgleich.
»Die gute.«
»Die schlechte.«
Sie blickten sich in der Dunkelheit hypothetisch an – bis Lyz geschlagen den Kopf senkte. »Na gut. Ladies first.«
Téo schwenkte die Taschenlampe durch den Raum, bis sie an einem grauen Overall hängen blieb, der vergessen an einem Stuhl hing. »Ich weiß, wie wir zum Serverraum kommen.«
Lyz hatte inzwischen mit Mühe und Not den Weg zu ihr zurückgefunden und lehnte sich an ihre Schulter.
»Spuck’s schon aus. Was ist die schlechte Nachricht?«
Die Taschenlampe wanderte zu der goldenen Kiste. »Ihr werdet meinen Plan nicht mögen.«
Sie spürte, wie Lyz leicht von ihrer Schulter wegglitt. »Also, wenn du mir sagen möchtest, dass sich in dieser Kiste eine dicke Knarre befindet, mit der wir uns einfach mit Stil zum Tresor durchschießen, dann lautet die Antwort Ja. Wenn ich in diesen Blechsarg klettern soll, dann würde ich gern mit einer Gegenfrage antworten.« Sie beugte sich vor. »Soll ich dir jetzt oder später den Schädel einschlagen?«
Inez hörte die Frustration aus Téo Stimme. »Es ist der sicherste Weg. Ich schiebe euch einfach bis zum Serverraum und hacke in Nullkommanix die Kameras. Und …« Er leuchtete die Kiste aus, als wolle er sie besonders schmackhaft machen. »… wir hätten sogar unser Fluchtfahrzeug bis zum Fahrstuhl.«
Inez blickte auf die Kiste, und ihr lief etwas Kaltes den Rücken hinunter. Sie würden dort wohl reinpassen, allerdings war sie schon einmal bequemer gereist. Wie Käfer, dachte sie sich. Wie Käfer würden wir da drin liegen.
Das weitaus größere Problem war jedoch, dass Téo dann bis zum Serverraum auf sich allein gestellt wäre. Er war ein Genie, keine Frage – allerdings weder ein Kämpfer noch ein Mann der großen Worte. Es hatte einen Grund, wieso er bei Verhandlungen zu Aufträgen und Bezahlungen nie zugegen war und sie sich häufig von Lyz begleiten ließ.
Sie hielt Lyz, die sich versuchte, einen Weg zu Téo zu bahnen, am Arm fest und deutete auf die Kiste. »Was ist mit dir? Die Kiste schiebt sich nicht von selbst, und die Wachen werden dich wohl kaum bis zum Server spazieren lassen.« Téo nickte und leuchtete auf den Overall. »Dafür hab ich das Schmuckstück hier.« Er hob ihn an und hielt ihn vor die beiden. Der Overall klapperte, fast als würde er dagegen protestieren, vom Stuhl genommen zu werden. »Uff, der wiegt weitaus mehr, als er aussieht …« Téo roch vorsichtig an dem grauen Stoff und verzog sofort das Gesicht. »Riecht aber so, wie er aussieht. Also: Ich tue einfach so, als ob ich ein Techniker wäre und die Server warten will.« Er lächelte schwach. »Wer würde schon einen langweiligen Techie anhalten?«
Inez wusste, dass Téo versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen, allerdings machte ihm sein eigener Plan eine Heidenangst. Wenn sie ihm jetzt vorschlagen würde, allein gegen den Pitbull einen Faustkampf zu bestreiten, würde er sich sofort auf den Weg machen. Aber die Vorstellung, dass ihn jemand ausfragen könnte, ihn dazu zwingen könnte, sich eine Geschichte aus dem Ärmel zu ziehen … das war eine Horrorvorstellung für ihn. Inez seufzte. »Vielleicht doch die Lüftungsschächte?« Er schüttelte den Kopf. »Geht leider nur in Filmen und Büchern, Nez.«
Lyz hatte ihren Angriff auf Téo inzwischen aufgegeben und blickte Inez mit flehendem Blick an. »Wenn du mich wirklich liebst, Geliebte … dann lässt du mich nicht in diesen Sarg steigen. Die Sangrada wird das sicher verstehen, es gibt doch Grenzen …«
Doch ihre Geliebte auf Zeit hatte sich bereits zu der Kiste gemacht und fuhr mit den Fingern vorsichtig über das Metall. Die Kiste war weitaus massiver, als es den Anschein hatte, und ließ sich nur schwer bewegen. Ein einzelnes Rad hatte sich wohl leicht verklemmt und gab ein nervtötendes, quietschendes Geräusch von sich. Sie bemerkte allerdings auch ein kleines eingraviertes »F«, aus dem einige stilisierte Flammen schossen. Feuvigil. Fast konnte sie Montclaros Stimme hören.
Solides Material. Kisten, Waffen, Schutzmaßnahmen – alles Feuvigil.
Gemeinsam mit Téo öffnete sie die Kiste und klappte die oberste Platte nach oben – zum Vorschein kam ein gedämmter Hohlraum, in dem sich ein einzelner Koffer befand – derselbe, der auch bei Triptyque für die Einsätze benutzt wurde –, auf dem zwei eigenartige Geräte lagen, die an Telefone erinnerten, nur dass sie weitaus klobiger waren. Téo stieß ein anerkennendes Brummen aus.
»Das sind die Kisten, die für die Jetons und die Einnahmen verwendet werden. Hier drin werden täglich tausende Escodinar und Jetons transportiert. Und diese Schätzchen …« Er nahm ein ‚Telefon‘ in die Hand und wog es vorsichtig. »… sind Kurzstreckenfunkgeräte. Damit können wir in Kontakt bleiben, wenn ihr in der Kiste seid. Ich glaube nämlich …« – nach einem Blick auf Lyz, die immer interessierter den geschlossenen Lüftungsschacht anstarrte, senkte er die Stimme – »… dass es dort komplett schalldicht ist.«
Inez flüsterte zurück. »Ist dort dann nicht auch nur begrenzt Luft?« Er zögerte. »Für den Weg sollte es auf jeden Fall reichen. Atmet … einfach nicht so viel, okay?«
Beste Voraussetzungen also.
Téo deutete auf die Wand, an der Lyz bereits mit betrübtem Gesicht stand. »Dreh dich mal um. Ich muss dieses Ding hier anziehen.« Inez schüttelte grinsend den Kopf, gehorchte aber. Sie kannten sich seit Jahren, waren durch dick und dünn gegangen, mehrmals dem Tod entsprungen … aber beim kleinsten bisschen nackter Haut zog Téo die Grenze. Sie stellte sich zu Lyz und legte ihr den Arm um die Schulter.
»Lyz?«
Sie antwortete nicht und legte stattdessen den Kopf auf ihre Schulter.
»Wir kriegen das hin. Wir sind da gemeinsam drin, das weißt du doch?«
Sie schüttelte kaum merklich den Kopf.
»Hey … okay, ich mach dir einen Vorschlag.«
Jetzt waren ihre Ohren gespitzt.
»Wenn wir den Schädel geklaut haben … wenn wir ihn der Sangrada gegeben haben … dann gehen wir zu dem Kino. Deal?«
Das alte Autokino in Vita Nera, das schon Jahre stillstand, war ihr Ort. Dort gingen sie immer hin, wenn es etwas Wichtiges zu besprechen gab oder das Leben in La Perdante mal wieder besonders schwer war. Es war ein kleiner Rückzugsort vor dem Wahnsinn, der Escorial hieß, und ihnen bisher noch nicht genommen wurde. Früher waren sie fast jeden Tag da, inzwischen konnte sie sich nicht einmal daran erinnern, wann sie das letzte Mal dort gewesen war.
Sie merkte, wie Lyz lächelte. Auch sie musste jetzt an einen Schwall Erinnerungen denken. »Also ein Date?«
Die Frage traf sie unvorbereitet, und sie spürte, wie ihr eine leichte Röte ins Gesicht stieg - dann Lavendel und Rauch. Ein Date?
»Also … wenn du es so nennen willst … wie früher halt, weißt du?«
Lyz grinste und hob den Kopf von ihrer Schulter. »Ein Date. Und ich steig mit dir in die Kiste.«
Inez lachte, als Téo hinter ihr protestierte. »Ohne mich! Wartet wenigstens, bis ich euch nicht mehr hören kann!« Sie hob die Hand. »Deal.«
Die beiden Mädchen
schlugen ein.
Téo war inzwischen fertig und stand vor ihnen. »Also … wie sehe ich aus?«
Beide starrten ihn an.
Der Overall war ihm mindestens eine Nummer zu groß und hatte einige Löcher, die notdürftig geflickt waren. An einigen Stellen wölbte er sich, als würde dort irgendwas versteckt sein. Téo hatte Glück, dass er so breite Schultern hatte, sonst hätte er den Overall vermutlich als Rock tragen müssen. Inez fand als Erste die Stimme wieder. »Willst du zuerst die schlechte … oder die noch schlechtere Nachricht hören?«
Er schnaubte nur und klopfte auf die Kiste. »Jetzt macht schon. Rein mit euch.«
Inez machte den ersten Schritt und kletterte in die Kiste, aus der Téo bereits den Koffer genommen hatte. Durch die Isolierung vor der gepanzerten Innenseite war es erstaunlich weich an ihrem Rücken. Sie blickte zu Lyz, deren Augen sie zögerlich aus dem Halbdunkel anstarrten.
»Kommst du, Geliebte?« Sie sah, wie Lyz seufzte und sich kurz bekreuzigte, bevor auch sie zu ihr stieg. Jetzt war es gemütlich hier drin, ihre Knie berührten sich, und der Bewegungsspielraum war eingeschränkt. Lyz schluckte.
»Wir sind hier schneller raus, als du dir Sorgen machen kannst.« Sie nickte nur. Téo reichte ihr das Funkgerät und zeigte auf die Knöpfe. »Ich lass meins an, dann hört ihr, was ich höre. Wenn ihr mir irgendwas sagen wollt, dann drückt auf den Knopf hier. Der Deckel ist auch von innen zu öffnen, falls was ist. Und denkt dran, dass euch jederzeit jemand hören könnte, alles klar?«
Er schaute auf sie hinab wie ein Geist, der sein Schicksal mit einem gequälten Grinsen akzeptiert hatte. »Ja. Und du … pass auf dich auf, okay?« Er nickte knapp. »Showtime«, murmelte er und schloss den Deckel.
Mit einem Mal war es vollständig dunkel. Das leise Fiepen von Lyz holte sie zurück. »Shhh … es ist alles in Ordnung.«
Sie hörte draußen nichts mehr; nur ihr eigenes Atmen und das von Lyz war in der Kiste zu vernehmen. Dann knackte das Funkgerät, und sie zuckte zusammen. »Hört ihr mich? Over.«
Inez runzelte die Stirn und versuchte in der Dunkelheit den Knopf zu erwischen, den Téo ihr gezeigt hatte. Dann entriss ihr eine kalte Hand das Funkgerät. »Hier spricht irgend so ein Idiot in das Funkgerät. Soll das so sein? Over.«
Na also. Lyz war wieder da.
Auf der anderen Seite drang nach einer kurzen Pause die genervte Stimme von Téo zu ihnen durch. »Laut und deutlich also. Und jetzt leise. Ich gehe los.«
Die Kiste – sie versuchte angestrengt, nicht an das Wort Grab zu denken – setzte sich in Bewegung und warf sie leicht hin und her. Schnell merkte sie, dass sich über die Beschaffenheit des Bodens in etwa nachvollziehen ließ, wo sie waren. Die Kiste rollte jetzt über ebenmäßigen Boden, der dem Flur gehören musste. Schließlich gab es einen kleinen Sprung, und sie wurde nach rechts gedrückt – da, sie hatten die Ecke genommen und mussten jetzt kurz vor dem Serverraum sein. Sie grinste. »Schau, wir haben es fast geschafft, das war doch gar nicht so …«
Mit einem Ruck, der sie gegen Lyz stieß, kam der Wagen zum Stehen. Lyz’ Knöchel trafen sie mitten im Gesicht und trieben ihr Tränen in die Augen. Lyz fluchte. »Kann der nicht mal ’ne Kiste schieben? Was ist los mit diesem …«
Ein Knacken unterbrach sie – und die tiefe Stimme eines Mannes sprach direkt zu ihnen durch. »Wer du bist, habe ich gefragt! Ich habe dich hier noch nie gesehen … was ist das eigentlich für eine seltsame Aufmachung?«
Inez erstarrte. Dann Téos sanftes, zitterndes Stimmchen: »Wer … ich bin? Ich arbeite hier, ich bin Techniker, ich …«
»Lauter, Junge! Wer hat dich eigentlich zum Techniker gemacht? Hast du überhaupt schon mal irgendwas mit Kabeln und Metall in der Hand gehabt, so was Richtiges? Ich glaube nämlich …« – die Stimme des Mannes wurde bedrohlicher – »… du gehörst gar nicht hierher!«
Im Bruchteil einer Sekunde schossen alle möglichen Gedanken durch ihren Kopf. Das würde ihr Ende sein, sie würden jeden Moment entdeckt werden und aus dem Casino gezerrt – wenn sie nicht vorher erschossen würden. Dann zwang sie sich zur Ruhe.
Konzentration. Noch war nichts verloren. Selbst in diesem goldenen Sarg hatten sie Optionen.
Sie dachte an Téo. An den nervösen, schüchternen Téo, der sich fremden Menschen nur langsam öffnete und Konfrontationen verabscheute. Würde er den Wachmann von seiner Rolle überzeugen können? Sie wusste es nicht. Aber war das wirklich Téo? Der Mann sprach zu einem Techniker – vielleicht konnte Téo, wenn er nicht in seiner eigenen Haut steckte, die Lüge aufrechterhalten. Alles, was sie tun mussten, war, sich nicht zu bewegen und Téo machen zu lassen – und vielleicht würde sich das Problem von selbst lösen.
Dann das Funkgerät – ihre einzige Verbindung zur Außenwelt. Sie war immer noch La Cara – das Gesicht ihrer Gruppe, das mit seiner Stimme ebenso gut umgehen konnte wie Lyz mit ihren Händen und Téo mit seinem Verstand. Es wäre eine Herausforderung, jemanden zu überzeugen, ohne ihn zu sehen, aber es wäre vielleicht einen Versuch wert. Der Mann konnte nicht wissen, dass sie nur einen halben Meter neben ihm saß und über das Funkgerät mit ihm sprach – vielleicht würden ihre Worte dennoch auf taube Ohren stoßen und ihr Schicksal in diesem Sarg besiegeln.
»Inez! Téo packt das nicht! Wir sind zu dritt, er ist alleine – schnappen wir uns den Mistkerl!« Die Stimme von Lyz holte sie aus den Gedanken. Natürlich. Sie könnten auch die Klappe aufstoßen und mit dem Überraschungsmoment auf ihrer Seite einen Angriff wagen. Sie waren – vermutlich – in der Überzahl und aus dem Sichtkegel der Kamera. Téo wusste allerdings nichts von ihrem Plan, und sie konnten nicht genau einschätzen, wo der Mann stand.
Sie spürte, wie die Luft immer dünner wurde. Was sollte sie nur tun?
»… kannst du es glauben, Valeto hat schon wieder die verdammte Kiste vor dem Fahrstuhl stehen lassen! Ich habe so langsam keine Lust mehr, die immer wieder für ihn nach unten zu bringen … Das nächste Mal lass ich die einfach stehen.«
Der andere schnaubte zustimmend. »Und dann darfst du den Zorn der Vorsitzenden ausbaden. Sag lieber dem Chef Bescheid, dann darf er sich das nächste Mal um die Kabel kümmern.« Inez sah die Schatten am Ende des Ganges näher und näher kommen.
Lyz war die Erste, die reagierte.
»Schnell! Rein da!« Sie deutete auf eine Tür zu ihrer Linken, die ein kleines goldenes Zahnradsymbol zeigte, und preschte vor, ihre beiden Freunde hinter sich herziehend. »Braucht ihr ’ne extra Einladung?«
Das Knäuel, das Lyz, Téo und Inez hieß, bugsierte sich durch die Tür und landete schließlich – keine Sekunde zu früh – in einem dunklen Raum, in dem es entfernt nach Kabeln und Metall roch. Inez meinte vage, golden schimmernde Kisten zu erkennen, bevor Lyz sie an die Wand presste und ihr den Mund zuhielt. Auch Téo hatte sich inzwischen gefangen und schaute sie mit aufgerissenen grauen Augen an, in denen sich das Licht einer Schalttafel spiegelte.
Alle drei versuchten, ihren Atem unter Kontrolle zu bringen und keinen Laut von sich zu geben. Dann wurden die Stimmen von vorhin wieder lauter.
»Und sag ihm, dass er seinen scheiß Overall anziehen muss! Ich habe keine Lust, dass wir schon wieder die Überreste von jemandem von den Fliesen kratzen dürfen, weil er zu dumm war.«
Der andere lachte auf und murmelte zustimmend vor sich hin, bevor sie das Öffnen einer Tür hörten – und dann nichts mehr.
Inez atmete aus – und blinzelte ein paarmal, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen.
Der Lagerraum, in dem sie standen, beherbergte ein Sammelsurium an verschiedenen Kabeln, die mal von der Decke hingen und mal einfach auf Tischen oder auf dem Boden lagen. Einzelne Stahlregale waren vollgestopft mit Werkzeug, kleinen Plastikflaschen mit verblichener Aufschrift und zerknickten Mappen.
Eine massive goldene Kiste aus Metall nahm den Großteil des kleinen Raums ein – sie war mit kleinen Handgriffen an den Seiten ausgestattet und fuhr auf Rädern. Ein dreiköpfiger Drache war in das Metall eingearbeitet und verbarg geschickt die Scharniere der Kiste, die sich anscheinend öffnen ließ. Nur die blinkenden LEDs einer Schalttafel sorgten für ein winziges Licht.
Hinter ihr sperrte Lyz mit einem leisen Klicken die Tür ab und tastete sich an den Wänden entlang. »Verflucht, gibt es hier keinen Lichtschalter?« Téo hatte sich bereits zur Schalttafel vorgekämpft und hantierte vorsichtig daran herum. Inez seufzte und setzte sich auf einen Haufen Kabel auf dem Boden.
Das war ja gerade noch so gut gegangen.
Sie waren jetzt inmitten des Sanctum Sins. Zu diesem Zeitpunkt war ihre angebliche Tarnung nutzlos, und es ging nur noch darum, unentdeckt zur Kamerasteuerung vorzudringen und anschließend zum Fahrstuhl – und dann war es nur noch ein Katzensprung zum Tresor.
Sie erschauderte, wusste aber nicht, ob aus Angst oder Vorfreude.
Als Lyz zum wiederholten Mal gegen ein Regal stieß und Téo mit immer größerer Ungeduld versuchte, den Schaltkasten zu öffnen, räusperte sie sich.
»Leute, wir brauchen einen Plan. Hier könnte jederzeit jemand vorbeikommen und uns dabei erwischen, wie wir alte Kabel und ein paar gammlige Mappen klauen.«
Lyz, die es inzwischen irgendwie in die entlegenste Ecke des Raums geschafft hatte, pflichtete ihr bei.
»Mastermind, wie kommen wir jetzt zu diesem Kameraraum? Klettern wir durch einen Lüftungsschacht? Oder verkleiden wir uns als die Triparques?«
Téo hatte inzwischen den Schaltkasten aufbekommen und eine Taschenlampe gefunden, die er nach mehrmaligem Klopfen auch anbekam. In dem schwachen Licht sah sein Gesicht gespenstisch aus. »Also … gute oder schlechte Nachricht zuerst?«
Lyz und Inez sprachen zeitgleich.
»Die gute.«
»Die schlechte.«
Sie blickten sich in der Dunkelheit hypothetisch an – bis Lyz geschlagen den Kopf senkte. »Na gut. Ladies first.«
Téo schwenkte die Taschenlampe durch den Raum, bis sie an einem grauen Overall hängen blieb, der vergessen an einem Stuhl hing. »Ich weiß, wie wir zum Serverraum kommen.«
Lyz hatte inzwischen mit Mühe und Not den Weg zu ihr zurückgefunden und lehnte sich an ihre Schulter.
»Spuck’s schon aus. Was ist die schlechte Nachricht?«
Die Taschenlampe wanderte zu der goldenen Kiste. »Ihr werdet meinen Plan nicht mögen.«
Sie spürte, wie Lyz leicht von ihrer Schulter wegglitt. »Also, wenn du mir sagen möchtest, dass sich in dieser Kiste eine dicke Knarre befindet, mit der wir uns einfach mit Stil zum Tresor durchschießen, dann lautet die Antwort Ja. Wenn ich in diesen Blechsarg klettern soll, dann würde ich gern mit einer Gegenfrage antworten.« Sie beugte sich vor. »Soll ich dir jetzt oder später den Schädel einschlagen?«
Inez hörte die Frustration aus Téo Stimme. »Es ist der sicherste Weg. Ich schiebe euch einfach bis zum Serverraum und hacke in Nullkommanix die Kameras. Und …« Er leuchtete die Kiste aus, als wolle er sie besonders schmackhaft machen. »… wir hätten sogar unser Fluchtfahrzeug bis zum Fahrstuhl.«
Inez blickte auf die Kiste, und ihr lief etwas Kaltes den Rücken hinunter. Sie würden dort wohl reinpassen, allerdings war sie schon einmal bequemer gereist. Wie Käfer, dachte sie sich. Wie Käfer würden wir da drin liegen.
Das weitaus größere Problem war jedoch, dass Téo dann bis zum Serverraum auf sich allein gestellt wäre. Er war ein Genie, keine Frage – allerdings weder ein Kämpfer noch ein Mann der großen Worte. Es hatte einen Grund, wieso er bei Verhandlungen zu Aufträgen und Bezahlungen nie zugegen war und sie sich häufig von Lyz begleiten ließ.
Sie hielt Lyz, die sich versuchte, einen Weg zu Téo zu bahnen, am Arm fest und deutete auf die Kiste. »Was ist mit dir? Die Kiste schiebt sich nicht von selbst, und die Wachen werden dich wohl kaum bis zum Server spazieren lassen.« Téo nickte und leuchtete auf den Overall. »Dafür hab ich das Schmuckstück hier.« Er hob ihn an und hielt ihn vor die beiden. Der Overall klapperte, fast als würde er dagegen protestieren, vom Stuhl genommen zu werden. »Uff, der wiegt weitaus mehr, als er aussieht …« Téo roch vorsichtig an dem grauen Stoff und verzog sofort das Gesicht. »Riecht aber so, wie er aussieht. Also: Ich tue einfach so, als ob ich ein Techniker wäre und die Server warten will.« Er lächelte schwach. »Wer würde schon einen langweiligen Techie anhalten?«
Inez wusste, dass Téo versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen, allerdings machte ihm sein eigener Plan eine Heidenangst. Wenn sie ihm jetzt vorschlagen würde, allein gegen den Pitbull einen Faustkampf zu bestreiten, würde er sich sofort auf den Weg machen. Aber die Vorstellung, dass ihn jemand ausfragen könnte, ihn dazu zwingen könnte, sich eine Geschichte aus dem Ärmel zu ziehen … das war eine Horrorvorstellung für ihn. Inez seufzte. »Vielleicht doch die Lüftungsschächte?« Er schüttelte den Kopf. »Geht leider nur in Filmen und Büchern, Nez.«
Lyz hatte ihren Angriff auf Téo inzwischen aufgegeben und blickte Inez mit flehendem Blick an. »Wenn du mich wirklich liebst, Geliebte … dann lässt du mich nicht in diesen Sarg steigen. Die Sangrada wird das sicher verstehen, es gibt doch Grenzen …«
Doch ihre Geliebte auf Zeit hatte sich bereits zu der Kiste gemacht und fuhr mit den Fingern vorsichtig über das Metall. Die Kiste war weitaus massiver, als es den Anschein hatte, und ließ sich nur schwer bewegen. Ein einzelnes Rad hatte sich wohl leicht verklemmt und gab ein nervtötendes, quietschendes Geräusch von sich. Sie bemerkte allerdings auch ein kleines eingraviertes »F«, aus dem einige stilisierte Flammen schossen. Feuvigil. Fast konnte sie Montclaros Stimme hören.
Solides Material. Kisten, Waffen, Schutzmaßnahmen – alles Feuvigil.
Gemeinsam mit Téo öffnete sie die Kiste und klappte die oberste Platte nach oben – zum Vorschein kam ein gedämmter Hohlraum, in dem sich ein einzelner Koffer befand – derselbe, der auch bei Triptyque für die Einsätze benutzt wurde –, auf dem zwei eigenartige Geräte lagen, die an Telefone erinnerten, nur dass sie weitaus klobiger waren. Téo stieß ein anerkennendes Brummen aus.
»Das sind die Kisten, die für die Jetons und die Einnahmen verwendet werden. Hier drin werden täglich tausende Escodinar und Jetons transportiert. Und diese Schätzchen …« Er nahm ein ‚Telefon‘ in die Hand und wog es vorsichtig. »… sind Kurzstreckenfunkgeräte. Damit können wir in Kontakt bleiben, wenn ihr in der Kiste seid. Ich glaube nämlich …« – nach einem Blick auf Lyz, die immer interessierter den geschlossenen Lüftungsschacht anstarrte, senkte er die Stimme – »… dass es dort komplett schalldicht ist.«
Inez flüsterte zurück. »Ist dort dann nicht auch nur begrenzt Luft?« Er zögerte. »Für den Weg sollte es auf jeden Fall reichen. Atmet … einfach nicht so viel, okay?«
Beste Voraussetzungen also.
Téo deutete auf die Wand, an der Lyz bereits mit betrübtem Gesicht stand. »Dreh dich mal um. Ich muss dieses Ding hier anziehen.« Inez schüttelte grinsend den Kopf, gehorchte aber. Sie kannten sich seit Jahren, waren durch dick und dünn gegangen, mehrmals dem Tod entsprungen … aber beim kleinsten bisschen nackter Haut zog Téo die Grenze. Sie stellte sich zu Lyz und legte ihr den Arm um die Schulter.
»Lyz?«
Sie antwortete nicht und legte stattdessen den Kopf auf ihre Schulter.
»Wir kriegen das hin. Wir sind da gemeinsam drin, das weißt du doch?«
Sie schüttelte kaum merklich den Kopf.
»Hey … okay, ich mach dir einen Vorschlag.«
Jetzt waren ihre Ohren gespitzt.
»Wenn wir den Schädel geklaut haben … wenn wir ihn der Sangrada gegeben haben … dann gehen wir zu dem Kino. Deal?«
Das alte Autokino in Vita Nera, das schon Jahre stillstand, war ihr Ort. Dort gingen sie immer hin, wenn es etwas Wichtiges zu besprechen gab oder das Leben in La Perdante mal wieder besonders schwer war. Es war ein kleiner Rückzugsort vor dem Wahnsinn, der Escorial hieß, und ihnen bisher noch nicht genommen wurde. Früher waren sie fast jeden Tag da, inzwischen konnte sie sich nicht einmal daran erinnern, wann sie das letzte Mal dort gewesen war.
Sie merkte, wie Lyz lächelte. Auch sie musste jetzt an einen Schwall Erinnerungen denken. »Also ein Date?«
Die Frage traf sie unvorbereitet, und sie spürte, wie ihr eine leichte Röte ins Gesicht stieg - dann Lavendel und Rauch. Ein Date?
»Also … wenn du es so nennen willst … wie früher halt, weißt du?«
Lyz grinste und hob den Kopf von ihrer Schulter. »Ein Date. Und ich steig mit dir in die Kiste.«
Inez lachte, als Téo hinter ihr protestierte. »Ohne mich! Wartet wenigstens, bis ich euch nicht mehr hören kann!« Sie hob die Hand. »Deal.«
Die beiden Mädchen
schlugen ein.
Téo war inzwischen fertig und stand vor ihnen. »Also … wie sehe ich aus?«
Beide starrten ihn an.
Der Overall war ihm mindestens eine Nummer zu groß und hatte einige Löcher, die notdürftig geflickt waren. An einigen Stellen wölbte er sich, als würde dort irgendwas versteckt sein. Téo hatte Glück, dass er so breite Schultern hatte, sonst hätte er den Overall vermutlich als Rock tragen müssen. Inez fand als Erste die Stimme wieder. »Willst du zuerst die schlechte … oder die noch schlechtere Nachricht hören?«
Er schnaubte nur und klopfte auf die Kiste. »Jetzt macht schon. Rein mit euch.«
Inez machte den ersten Schritt und kletterte in die Kiste, aus der Téo bereits den Koffer genommen hatte. Durch die Isolierung vor der gepanzerten Innenseite war es erstaunlich weich an ihrem Rücken. Sie blickte zu Lyz, deren Augen sie zögerlich aus dem Halbdunkel anstarrten.
»Kommst du, Geliebte?« Sie sah, wie Lyz seufzte und sich kurz bekreuzigte, bevor auch sie zu ihr stieg. Jetzt war es gemütlich hier drin, ihre Knie berührten sich, und der Bewegungsspielraum war eingeschränkt. Lyz schluckte.
»Wir sind hier schneller raus, als du dir Sorgen machen kannst.« Sie nickte nur. Téo reichte ihr das Funkgerät und zeigte auf die Knöpfe. »Ich lass meins an, dann hört ihr, was ich höre. Wenn ihr mir irgendwas sagen wollt, dann drückt auf den Knopf hier. Der Deckel ist auch von innen zu öffnen, falls was ist. Und denkt dran, dass euch jederzeit jemand hören könnte, alles klar?«
Er schaute auf sie hinab wie ein Geist, der sein Schicksal mit einem gequälten Grinsen akzeptiert hatte. »Ja. Und du … pass auf dich auf, okay?« Er nickte knapp. »Showtime«, murmelte er und schloss den Deckel.
Mit einem Mal war es vollständig dunkel. Das leise Fiepen von Lyz holte sie zurück. »Shhh … es ist alles in Ordnung.«
Sie hörte draußen nichts mehr; nur ihr eigenes Atmen und das von Lyz war in der Kiste zu vernehmen. Dann knackte das Funkgerät, und sie zuckte zusammen. »Hört ihr mich? Over.«
Inez runzelte die Stirn und versuchte in der Dunkelheit den Knopf zu erwischen, den Téo ihr gezeigt hatte. Dann entriss ihr eine kalte Hand das Funkgerät. »Hier spricht irgend so ein Idiot in das Funkgerät. Soll das so sein? Over.«
Na also. Lyz war wieder da.
Auf der anderen Seite drang nach einer kurzen Pause die genervte Stimme von Téo zu ihnen durch. »Laut und deutlich also. Und jetzt leise. Ich gehe los.«
Die Kiste – sie versuchte angestrengt, nicht an das Wort Grab zu denken – setzte sich in Bewegung und warf sie leicht hin und her. Schnell merkte sie, dass sich über die Beschaffenheit des Bodens in etwa nachvollziehen ließ, wo sie waren. Die Kiste rollte jetzt über ebenmäßigen Boden, der dem Flur gehören musste. Schließlich gab es einen kleinen Sprung, und sie wurde nach rechts gedrückt – da, sie hatten die Ecke genommen und mussten jetzt kurz vor dem Serverraum sein. Sie grinste. »Schau, wir haben es fast geschafft, das war doch gar nicht so …«
Mit einem Ruck, der sie gegen Lyz stieß, kam der Wagen zum Stehen. Lyz’ Knöchel trafen sie mitten im Gesicht und trieben ihr Tränen in die Augen. Lyz fluchte. »Kann der nicht mal ’ne Kiste schieben? Was ist los mit diesem …«
Ein Knacken unterbrach sie – und die tiefe Stimme eines Mannes sprach direkt zu ihnen durch. »Wer du bist, habe ich gefragt! Ich habe dich hier noch nie gesehen … was ist das eigentlich für eine seltsame Aufmachung?«
Inez erstarrte. Dann Téos sanftes, zitterndes Stimmchen: »Wer … ich bin? Ich arbeite hier, ich bin Techniker, ich …«
»Lauter, Junge! Wer hat dich eigentlich zum Techniker gemacht? Hast du überhaupt schon mal irgendwas mit Kabeln und Metall in der Hand gehabt, so was Richtiges? Ich glaube nämlich …« – die Stimme des Mannes wurde bedrohlicher – »… du gehörst gar nicht hierher!«
Im Bruchteil einer Sekunde schossen alle möglichen Gedanken durch ihren Kopf. Das würde ihr Ende sein, sie würden jeden Moment entdeckt werden und aus dem Casino gezerrt – wenn sie nicht vorher erschossen würden. Dann zwang sie sich zur Ruhe.
Konzentration. Noch war nichts verloren. Selbst in diesem goldenen Sarg hatten sie Optionen.
Sie dachte an Téo. An den nervösen, schüchternen Téo, der sich fremden Menschen nur langsam öffnete und Konfrontationen verabscheute. Würde er den Wachmann von seiner Rolle überzeugen können? Sie wusste es nicht. Aber war das wirklich Téo? Der Mann sprach zu einem Techniker – vielleicht konnte Téo, wenn er nicht in seiner eigenen Haut steckte, die Lüge aufrechterhalten. Alles, was sie tun mussten, war, sich nicht zu bewegen und Téo machen zu lassen – und vielleicht würde sich das Problem von selbst lösen.
Dann das Funkgerät – ihre einzige Verbindung zur Außenwelt. Sie war immer noch La Cara – das Gesicht ihrer Gruppe, das mit seiner Stimme ebenso gut umgehen konnte wie Lyz mit ihren Händen und Téo mit seinem Verstand. Es wäre eine Herausforderung, jemanden zu überzeugen, ohne ihn zu sehen, aber es wäre vielleicht einen Versuch wert. Der Mann konnte nicht wissen, dass sie nur einen halben Meter neben ihm saß und über das Funkgerät mit ihm sprach – vielleicht würden ihre Worte dennoch auf taube Ohren stoßen und ihr Schicksal in diesem Sarg besiegeln.
»Inez! Téo packt das nicht! Wir sind zu dritt, er ist alleine – schnappen wir uns den Mistkerl!« Die Stimme von Lyz holte sie aus den Gedanken. Natürlich. Sie könnten auch die Klappe aufstoßen und mit dem Überraschungsmoment auf ihrer Seite einen Angriff wagen. Sie waren – vermutlich – in der Überzahl und aus dem Sichtkegel der Kamera. Téo wusste allerdings nichts von ihrem Plan, und sie konnten nicht genau einschätzen, wo der Mann stand.
Sie spürte, wie die Luft immer dünner wurde. Was sollte sie nur tun?
EYES IN THE SKY

»… kannst du es glauben, Valeto hat schon wieder die verdammte Kiste vor dem Fahrstuhl stehen lassen! Ich habe so langsam keine Lust mehr, die immer wieder für ihn nach unten zu bringen … Das nächste Mal lass ich die einfach stehen.« Der andere schnaubte zustimmend. »Und dann darfst du den Zorn der Vorsitzenden ausbaden. Sag lieber dem Chef Bescheid, dann darf er sich das nächste Mal um die Kabel kümmern.« Inez sah die Schatten am Ende des Ganges näher und näher kommen.
Lyz war die Erste, die reagierte.
»Schnell! Rein da!« Sie deutete auf eine Tür zu ihrer Linken, die ein kleines goldenes Zahnradsymbol zeigte, und preschte vor, ihre beiden Freunde hinter sich herziehend. »Braucht ihr ’ne extra Einladung?«
Das Knäuel, das Lyz, Téo und Inez hieß, bugsierte sich durch die Tür und landete schließlich – keine Sekunde zu früh – in einem dunklen Raum, in dem es entfernt nach Kabeln und Metall roch. Inez meinte vage, golden schimmernde Kisten zu erkennen, bevor Lyz sie an die Wand presste und ihr den Mund zuhielt. Auch Téo hatte sich inzwischen gefangen und schaute sie mit aufgerissenen grauen Augen an, in denen sich das Licht einer Schalttafel spiegelte.
Alle drei versuchten, ihren Atem unter Kontrolle zu bringen und keinen Laut von sich zu geben. Dann wurden die Stimmen von vorhin wieder lauter.
»Und sag ihm, dass er seinen scheiß Overall anziehen muss! Ich habe keine Lust, dass wir schon wieder die Überreste von jemandem von den Fliesen kratzen dürfen, weil er zu dumm war.«
Der andere lachte auf und murmelte zustimmend vor sich hin, bevor sie das Öffnen einer Tür hörten – und dann nichts mehr. Inez atmete aus – und blinzelte ein paarmal, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen.
Der Lagerraum, in dem sie standen, beherbergte ein Sammelsurium an verschiedenen Kabeln, die mal von der Decke hingen und mal einfach auf Tischen oder auf dem Boden lagen. Einzelne Stahlregale waren vollgestopft mit Werkzeug, kleinen Plastikflaschen mit verblichener Aufschrift und zerknickten Mappen. Eine massive goldene Kiste aus Metall nahm den Großteil des kleinen Raums ein – sie war mit kleinen Handgriffen an den Seiten ausgestattet und fuhr auf Rädern. Ein dreiköpfiger Drache war in das Metall eingearbeitet und verbarg geschickt die Scharniere der Kiste, die sich anscheinend öffnen ließ. Nur die blinkenden LEDs einer Schalttafel sorgten für ein winziges Licht.
Hinter ihr sperrte Lyz mit einem leisen Klicken die Tür ab und tastete sich an den Wänden entlang. »Verflucht, gibt es hier keinen Lichtschalter?« Téo hatte sich bereits zur Schalttafel vorgekämpft und hantierte vorsichtig daran herum. Inez seufzte und setzte sich auf einen Haufen Kabel auf dem Boden.
Das war ja gerade noch so gut gegangen.
Sie waren jetzt inmitten des Sanctum Sins. Zu diesem Zeitpunkt war ihre angebliche Tarnung nutzlos, und es ging nur noch darum, unentdeckt zur Kamerasteuerung vorzudringen und anschließend zum Fahrstuhl – und dann war es nur noch ein Katzensprung zum Tresor.
Sie erschauderte, wusste aber nicht, ob aus Angst oder Vorfreude.
Als Lyz zum wiederholten Mal gegen ein Regal stieß und Téo mit immer größerer Ungeduld versuchte, den Schaltkasten zu öffnen, räusperte sie sich.
»Leute, wir brauchen einen Plan. Hier könnte jederzeit jemand vorbeikommen und uns dabei erwischen, wie wir alte Kabel und ein paar gammlige Mappen klauen.«
Lyz, die es inzwischen irgendwie in die entlegenste Ecke des Raums geschafft hatte, pflichtete ihr bei. »Mastermind, wie kommen wir jetzt zu diesem Kameraraum? Klettern wir durch einen Lüftungsschacht? Oder verkleiden wir uns als die Triparques?«
Téo hatte inzwischen den Schaltkasten aufbekommen und eine Taschenlampe gefunden, die er nach mehrmaligem Klopfen auch anbekam. In dem schwachen Licht sah sein Gesicht gespenstisch aus. »Also … gute oder schlechte Nachricht zuerst?«
Lyz und Inez sprachen zeitgleich.
»Die gute.«
»Die schlechte.«
Sie blickten sich in der Dunkelheit hypothetisch an – bis Lyz geschlagen den Kopf senkte. »Na gut. Ladies first.«
Téo schwenkte die Taschenlampe durch den Raum, bis sie an einem grauen Overall hängen blieb, der vergessen an einem Stuhl hing. »Ich weiß, wie wir zum Serverraum kommen.«
Lyz hatte inzwischen mit Mühe und Not den Weg zu ihr zurückgefunden und lehnte sich an ihre Schulter. »Spuck’s schon aus. Was ist die schlechte Nachricht?«
Die Taschenlampe wanderte zu der goldenen Kiste. »Ihr werdet meinen Plan nicht mögen.«
Sie spürte, wie Lyz leicht von ihrer Schulter wegglitt. »Also, wenn du mir sagen möchtest, dass sich in dieser Kiste eine dicke Knarre befindet, mit der wir uns einfach mit Stil zum Tresor durchschießen, dann lautet die Antwort Ja. Wenn ich in diesen Blechsarg klettern soll, dann würde ich gern mit einer Gegenfrage antworten.« Sie beugte sich vor. »Soll ich dir jetzt oder später den Schädel einschlagen?«
Inez hörte die Frustration aus Téo Stimme. »Es ist der sicherste Weg. Ich schiebe euch einfach bis zum Serverraum und hacke in Nullkommanix die Kameras. Und …« Er leuchtete die Kiste aus, als wolle er sie besonders schmackhaft machen. »… wir hätten sogar unser Fluchtfahrzeug bis zum Fahrstuhl.«
Inez blickte auf die Kiste, und ihr lief etwas Kaltes den Rücken hinunter. Sie würden dort wohl reinpassen, allerdings war sie schon einmal bequemer gereist. Wie Käfer, dachte sie sich. Wie Käfer würden wir da drin liegen.
Das weitaus größere Problem war jedoch, dass Téo dann bis zum Serverraum auf sich allein gestellt wäre. Er war ein Genie, keine Frage – allerdings weder ein Kämpfer noch ein Mann der großen Worte. Es hatte einen Grund, wieso er bei Verhandlungen zu Aufträgen und Bezahlungen nie zugegen war und sie sich häufig von Lyz begleiten ließ.
Sie hielt Lyz, die sich versuchte, einen Weg zu Téo zu bahnen, am Arm fest und deutete auf die Kiste. »Was ist mit dir? Die Kiste schiebt sich nicht von selbst, und die Wachen werden dich wohl kaum bis zum Server spazieren lassen.« Téo nickte und leuchtete auf den Overall. »Dafür hab ich das Schmuckstück hier.« Er hob ihn an und hielt ihn vor die beiden. Der Overall klapperte, fast als würde er dagegen protestieren, vom Stuhl genommen zu werden. »Uff, der wiegt weitaus mehr, als er aussieht …« Téo roch vorsichtig an dem grauen Stoff und verzog sofort das Gesicht. »Riecht aber so, wie er aussieht. Also: Ich tue einfach so, als ob ich ein Techniker wäre und die Server warten will.« Er lächelte schwach. »Wer würde schon einen langweiligen Techie anhalten?«
Inez wusste, dass Téo versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen, allerdings machte ihm sein eigener Plan eine Heidenangst. Wenn sie ihm jetzt vorschlagen würde, allein gegen den Pitbull einen Faustkampf zu bestreiten, würde er sich sofort auf den Weg machen. Aber die Vorstellung, dass ihn jemand ausfragen könnte, ihn dazu zwingen könnte, sich eine Geschichte aus dem Ärmel zu ziehen … das war eine Horrorvorstellung für ihn. Inez seufzte. »Vielleicht doch die Lüftungsschächte?« Er schüttelte den Kopf. »Geht leider nur in Filmen und Büchern, Nez.«
Lyz hatte ihren Angriff auf Téo inzwischen aufgegeben und blickte Inez mit flehendem Blick an. »Wenn du mich wirklich liebst, Geliebte … dann lässt du mich nicht in diesen Sarg steigen. Die Sangrada wird das sicher verstehen, es gibt doch Grenzen …«
Doch ihre Geliebte auf Zeit hatte sich bereits zu der Kiste gemacht und fuhr mit den Fingern vorsichtig über das Metall. Die Kiste war weitaus massiver, als es den Anschein hatte, und ließ sich nur schwer bewegen. Ein einzelnes Rad hatte sich wohl leicht verklemmt und gab ein nervtötendes, quietschendes Geräusch von sich. Sie bemerkte allerdings auch ein kleines eingraviertes »F«, aus dem einige stilisierte Flammen schossen. Feuvigil. Fast konnte sie Montclaros Stimme hören.
Solides Material. Kisten, Waffen, Schutzmaßnahmen – alles Feuvigil.
Gemeinsam mit Téo öffnete sie die Kiste und klappte die oberste Platte nach oben – zum Vorschein kam ein gedämmter Hohlraum, in dem sich ein einzelner Koffer befand – derselbe, der auch bei Triptyque für die Einsätze benutzt wurde –, auf dem zwei eigenartige Geräte lagen, die an Telefone erinnerten, nur dass sie weitaus klobiger waren. Téo stieß ein anerkennendes Brummen aus.
»Das sind die Kisten, die für die Jetons und die Einnahmen verwendet werden. Hier drin werden täglich tausende Escodinar und Jetons transportiert. Und diese Schätzchen …« Er nahm ein ‚Telefon‘ in die Hand und wog es vorsichtig. »… sind Kurzstreckenfunkgeräte. Damit können wir in Kontakt bleiben, wenn ihr in der Kiste seid. Ich glaube nämlich …« – nach einem Blick auf Lyz, die immer interessierter den geschlossenen Lüftungsschacht anstarrte, senkte er die Stimme – »… dass es dort komplett schalldicht ist.«
Inez flüsterte zurück. »Ist dort dann nicht auch nur begrenzt Luft?« Er zögerte. »Für den Weg sollte es auf jeden Fall reichen. Atmet … einfach nicht so viel, okay?«
Beste Voraussetzungen also.
Téo deutete auf die Wand, an der Lyz bereits mit betrübtem Gesicht stand. »Dreh dich mal um. Ich muss dieses Ding hier anziehen.« Inez schüttelte grinsend den Kopf, gehorchte aber. Sie kannten sich seit Jahren, waren durch dick und dünn gegangen, mehrmals dem Tod entsprungen … aber beim kleinsten bisschen nackter Haut zog Téo die Grenze. Sie stellte sich zu Lyz und legte ihr den Arm um die Schulter.
»Lyz?«
Sie antwortete nicht und legte stattdessen den Kopf auf ihre Schulter.
»Wir kriegen das hin. Wir sind da gemeinsam drin, das weißt du doch?«
Sie schüttelte kaum merklich den Kopf.
»Hey … okay, ich mach dir einen Vorschlag.«
Jetzt waren ihre Ohren gespitzt.
»Wenn wir den Schädel geklaut haben … wenn wir ihn der Sangrada gegeben haben … dann gehen wir zu dem Kino. Deal?«
Das alte Autokino in Vita Nera, das schon Jahre stillstand, war ihr Ort. Dort gingen sie immer hin, wenn es etwas Wichtiges zu besprechen gab oder das Leben in La Perdante mal wieder besonders schwer war. Es war ein kleiner Rückzugsort vor dem Wahnsinn, der Escorial hieß, und ihnen bisher noch nicht genommen wurde. Früher waren sie fast jeden Tag da, inzwischen konnte sie sich nicht einmal daran erinnern, wann sie das letzte Mal dort gewesen war.
Sie merkte, wie Lyz lächelte. Auch sie musste jetzt an einen Schwall Erinnerungen denken. »Also ein Date?«
Die Frage traf sie unvorbereitet, und sie spürte, wie ihr eine leichte Röte ins Gesicht stieg. Lavendel und Rauch. Ein Date?
»Also … wenn du es so nennen willst … wie früher halt, weißt du?«
Lyz grinste und hob den Kopf von ihrer Schulter. »Ein Date. Und ich steig mit dir in die Kiste.«
Inez lachte, als Téo hinter ihr protestierte. »Ohne mich! Wartet wenigstens, bis ich euch nicht mehr hören kann!« Sie hob die Hand. »Deal.«
Die beiden Mädchen schlugen ein.
Téo war inzwischen fertig und stand vor ihnen. »Also … wie sehe ich aus?«
Beide starrten ihn an.
Der Overall war ihm mindestens eine Nummer zu groß und hatte einige Löcher, die notdürftig geflickt waren. An einigen Stellen wölbte er sich, als würde dort irgendwas versteckt sein. Téo hatte Glück, dass er so breite Schultern hatte, sonst hätte er den Overall vermutlich als Rock tragen müssen.
Inez fand als Erste die Stimme wieder. »Willst du zuerst die schlechte … oder die noch schlechtere Nachricht hören?«
Er schnaubte nur und klopfte auf die Kiste. »Jetzt macht schon. Rein mit euch.«
Inez machte den ersten Schritt und kletterte in die Kiste, aus der Téo bereits den Koffer genommen hatte. Durch die Isolierung vor der gepanzerten Innenseite war es erstaunlich weich an ihrem Rücken. Sie blickte zu Lyz, deren Augen sie zögerlich aus dem Halbdunkel anstarrten. »Kommst du, Geliebte?« Sie sah, wie Lyz seufzte und sich kurz bekreuzigte, bevor auch sie zu ihr stieg. Jetzt war es gemütlich hier drin, ihre Knie berührten sich, und der Bewegungsspielraum war eingeschränkt. Lyz schluckte.
»Wir sind hier schneller raus, als du dir Sorgen machen kannst.« Sie nickte nur. Téo reichte ihr das Funkgerät und zeigte auf die Knöpfe. »Ich lass meins an, dann hört ihr, was ich höre. Wenn ihr mir irgendwas sagen wollt, dann drückt auf den Knopf hier. Der Deckel ist auch von innen zu öffnen, falls was ist. Und denkt dran, dass euch jederzeit jemand hören könnte, alles klar?«
Er schaute auf sie hinab wie ein Geist, der sein Schicksal mit einem gequälten Grinsen akzeptiert hatte. »Ja. Und du … pass auf dich auf, okay?« Er nickte knapp. »Showtime«, murmelte er und schloss den Deckel.
Mit einem Mal war es vollständig dunkel. Das leise Fiepen von Lyz holte sie zurück. »Shhh … es ist alles in Ordnung.«
Sie hörte draußen nichts mehr; nur ihr eigenes Atmen und das von Lyz war in der Kiste zu vernehmen. Dann knackte das Funkgerät, und sie zuckte zusammen. »Hört ihr mich? Over.«
Inez runzelte die Stirn und versuchte in der Dunkelheit den Knopf zu erwischen, den Téo ihr gezeigt hatte. Dann entriss ihr eine kalte Hand das Funkgerät. »Hier spricht irgend so ein Idiot in das Funkgerät. Soll das so sein? Over.«
Na also. Lyz war wieder da.
Auf der anderen Seite drang nach einer kurzen Pause die genervte Stimme von Téo zu ihnen durch. »Laut und deutlich also. Und jetzt leise. Ich gehe los.«
Die Kiste – sie versuchte angestrengt, nicht an das Wort Grab zu denken – setzte sich in Bewegung und warf sie leicht hin und her. Schnell merkte sie, dass sich über die Beschaffenheit des Bodens in etwa nachvollziehen ließ, wo sie waren. Die Kiste rollte jetzt über ebenmäßigen Boden, der dem Flur gehören musste. Schließlich gab es einen kleinen Sprung, und sie wurde nach rechts gedrückt – da, sie hatten die Ecke genommen und mussten jetzt kurz vor dem Serverraum sein. Sie grinste. »Schau, wir haben es fast geschafft, das war doch gar nicht so …«
Mit einem Ruck, der sie gegen Lyz stieß, kam der Wagen zum Stehen. Lyz’ Knöchel trafen sie mitten im Gesicht und trieben ihr Tränen in die Augen. Lyz fluchte. »Kann der nicht mal ’ne Kiste schieben? Was ist los mit diesem …«
Ein Knacken unterbrach sie – und die tiefe Stimme eines Mannes sprach direkt zu ihnen durch. »Wer du bist, habe ich gefragt! Ich habe dich hier noch nie gesehen … was ist das eigentlich für eine seltsame Aufmachung?«
Inez erstarrte. Dann Téos sanftes, zitterndes Stimmchen: »Wer … ich bin? Ich arbeite hier, ich bin Techniker, ich …«
»Lauter, Junge! Wer hat dich eigentlich zum Techniker gemacht? Hast du überhaupt schon mal irgendwas mit Kabeln und Metall in der Hand gehabt, so was Richtiges? Ich glaube nämlich …« – die Stimme des Mannes wurde bedrohlicher – »… du gehörst gar nicht hierher!«
Im Bruchteil einer Sekunde schossen alle möglichen Gedanken durch ihren Kopf. Das würde ihr Ende sein, sie würden jeden Moment entdeckt werden und aus dem Casino gezerrt – wenn sie nicht vorher erschossen würden. Dann zwang sie sich zur Ruhe.
Konzentration. Noch war nichts verloren. Selbst in diesem goldenen Sarg hatten sie Optionen.
Sie dachte an Téo. An den nervösen, schüchternen Téo, der sich fremden Menschen nur langsam öffnete und Konfrontationen verabscheute. Würde er den Wachmann von seiner Rolle überzeugen können? Sie wusste es nicht. Aber war das wirklich Téo? Der Mann sprach zu einem Techniker – vielleicht konnte Téo, wenn er nicht in seiner eigenen Haut steckte, die Lüge aufrechterhalten. Alles, was sie tun mussten, war, sich nicht zu bewegen und Téo machen zu lassen – und vielleicht würde sich das Problem von selbst lösen.
Dann das Funkgerät – ihre einzige Verbindung zur Außenwelt. Sie war immer noch La Cara – das Gesicht ihrer Gruppe, das mit seiner Stimme ebenso gut umgehen konnte wie Lyz mit ihren Händen und Téo mit seinem Verstand. Es wäre eine Herausforderung, jemanden zu überzeugen, ohne ihn zu sehen, aber es wäre vielleicht einen Versuch wert. Der Mann konnte nicht wissen, dass sie nur einen halben Meter neben ihm saß und über das Funkgerät mit ihm sprach – vielleicht würden ihre Worte dennoch auf taube Ohren stoßen und ihr Schicksal in diesem Sarg besiegeln.
»Inez! Téo packt das nicht! Wir sind zu dritt, er ist alleine – schnappen wir uns den Mistkerl!« Die Stimme von Lyz holte sie aus den Gedanken. Natürlich. Sie könnten auch die Klappe aufstoßen und mit dem Überraschungsmoment auf ihrer Seite einen Angriff wagen. Sie waren – vermutlich – in der Überzahl und aus dem Sichtkegel der Kamera. Téo wusste allerdings nichts von ihrem Plan, und sie konnten nicht genau einschätzen, wo der Mann stand.
Sie spürte, wie die Luft immer dünner wurde. Was sollte sie nur tun?

»… kannst du es glauben, Valeto hat schon wieder die verdammte Kiste vor dem Fahrstuhl stehen lassen! Ich habe so langsam keine Lust mehr, die immer wieder für ihn nach unten zu bringen … Das nächste Mal lass ich die einfach stehen.« Der andere schnaubte zustimmend. »Und dann darfst du den Zorn der Vorsitzenden ausbaden. Sag lieber dem Chef Bescheid, dann darf er sich das nächste Mal um die Kabel kümmern.« Inez sah die Schatten am Ende des Ganges näher und näher kommen.
Lyz war die Erste, die reagierte.
»Schnell! Rein da!« Sie deutete auf eine Tür zu ihrer Linken, die ein kleines goldenes Zahnradsymbol zeigte, und preschte vor, ihre beiden Freunde hinter sich herziehend. »Braucht ihr ’ne extra Einladung?«
Das Knäuel, das Lyz, Téo und Inez hieß, bugsierte sich durch die Tür und landete schließlich – keine Sekunde zu früh – in einem dunklen Raum, in dem es entfernt nach Kabeln und Metall roch. Inez meinte vage, golden schimmernde Kisten zu erkennen, bevor Lyz sie an die Wand presste und ihr den Mund zuhielt. Auch Téo hatte sich inzwischen gefangen und schaute sie mit aufgerissenen grauen Augen an, in denen sich das Licht einer Schalttafel spiegelte.
Alle drei versuchten, ihren Atem unter Kontrolle zu bringen und keinen Laut von sich zu geben. Dann wurden die Stimmen von vorhin wieder lauter.
»Und sag ihm, dass er seinen scheiß Overall anziehen muss! Ich habe keine Lust, dass wir schon wieder die Überreste von jemandem von den Fliesen kratzen dürfen, weil er zu dumm war.«
Der andere lachte auf und murmelte zustimmend vor sich hin, bevor sie das Öffnen einer Tür hörten – und dann nichts mehr. Inez atmete aus – und blinzelte ein paarmal, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen.
Der Lagerraum, in dem sie standen, beherbergte ein Sammelsurium an verschiedenen Kabeln, die mal von der Decke hingen und mal einfach auf Tischen oder auf dem Boden lagen. Einzelne Stahlregale waren vollgestopft mit Werkzeug, kleinen Plastikflaschen mit verblichener Aufschrift und zerknickten Mappen. Eine massive goldene Kiste aus Metall nahm den Großteil des kleinen Raums ein – sie war mit kleinen Handgriffen an den Seiten ausgestattet und fuhr auf Rädern. Ein dreiköpfiger Drache war in das Metall eingearbeitet und verbarg geschickt die Scharniere der Kiste, die sich anscheinend öffnen ließ. Nur die blinkenden LEDs einer Schalttafel sorgten für ein winziges Licht.
Hinter ihr sperrte Lyz mit einem leisen Klicken die Tür ab und tastete sich an den Wänden entlang. »Verflucht, gibt es hier keinen Lichtschalter?« Téo hatte sich bereits zur Schalttafel vorgekämpft und hantierte vorsichtig daran herum. Inez seufzte und setzte sich auf einen Haufen Kabel auf dem Boden.
Das war ja gerade noch so gut gegangen.
Sie waren jetzt inmitten des Sanctum Sins. Zu diesem Zeitpunkt war ihre angebliche Tarnung nutzlos, und es ging nur noch darum, unentdeckt zur Kamerasteuerung vorzudringen und anschließend zum Fahrstuhl – und dann war es nur noch ein Katzensprung zum Tresor.
Sie erschauderte, wusste aber nicht, ob aus Angst oder Vorfreude.
Als Lyz zum wiederholten Mal gegen ein Regal stieß und Téo mit immer größerer Ungeduld versuchte, den Schaltkasten zu öffnen, räusperte sie sich.
»Leute, wir brauchen einen Plan. Hier könnte jederzeit jemand vorbeikommen und uns dabei erwischen, wie wir alte Kabel und ein paar gammlige Mappen klauen.«
Lyz, die es inzwischen irgendwie in die entlegenste Ecke des Raums geschafft hatte, pflichtete ihr bei. »Mastermind, wie kommen wir jetzt zu diesem Kameraraum? Klettern wir durch einen Lüftungsschacht? Oder verkleiden wir uns als die Triparques?«
Téo hatte inzwischen den Schaltkasten aufbekommen und eine Taschenlampe gefunden, die er nach mehrmaligem Klopfen auch anbekam. In dem schwachen Licht sah sein Gesicht gespenstisch aus. »Also … gute oder schlechte Nachricht zuerst?«
Lyz und Inez sprachen zeitgleich.
»Die gute.«
»Die schlechte.«
Sie blickten sich in der Dunkelheit hypothetisch an – bis Lyz geschlagen den Kopf senkte. »Na gut. Ladies first.«
Téo schwenkte die Taschenlampe durch den Raum, bis sie an einem grauen Overall hängen blieb, der vergessen an einem Stuhl hing. »Ich weiß, wie wir zum Serverraum kommen.«
Lyz hatte inzwischen mit Mühe und Not den Weg zu ihr zurückgefunden und lehnte sich an ihre Schulter. »Spuck’s schon aus. Was ist die schlechte Nachricht?«
Die Taschenlampe wanderte zu der goldenen Kiste. »Ihr werdet meinen Plan nicht mögen.«
Sie spürte, wie Lyz leicht von ihrer Schulter wegglitt. »Also, wenn du mir sagen möchtest, dass sich in dieser Kiste eine dicke Knarre befindet, mit der wir uns einfach mit Stil zum Tresor durchschießen, dann lautet die Antwort Ja. Wenn ich in diesen Blechsarg klettern soll, dann würde ich gern mit einer Gegenfrage antworten.« Sie beugte sich vor. »Soll ich dir jetzt oder später den Schädel einschlagen?«
Inez hörte die Frustration aus Téo Stimme. »Es ist der sicherste Weg. Ich schiebe euch einfach bis zum Serverraum und hacke in Nullkommanix die Kameras. Und …« Er leuchtete die Kiste aus, als wolle er sie besonders schmackhaft machen. »… wir hätten sogar unser Fluchtfahrzeug bis zum Fahrstuhl.«
Inez blickte auf die Kiste, und ihr lief etwas Kaltes den Rücken hinunter. Sie würden dort wohl reinpassen, allerdings war sie schon einmal bequemer gereist. Wie Käfer, dachte sie sich. Wie Käfer würden wir da drin liegen.
Das weitaus größere Problem war jedoch, dass Téo dann bis zum Serverraum auf sich allein gestellt wäre. Er war ein Genie, keine Frage – allerdings weder ein Kämpfer noch ein Mann der großen Worte. Es hatte einen Grund, wieso er bei Verhandlungen zu Aufträgen und Bezahlungen nie zugegen war und sie sich häufig von Lyz begleiten ließ.
Sie hielt Lyz, die sich versuchte, einen Weg zu Téo zu bahnen, am Arm fest und deutete auf die Kiste. »Was ist mit dir? Die Kiste schiebt sich nicht von selbst, und die Wachen werden dich wohl kaum bis zum Server spazieren lassen.« Téo nickte und leuchtete auf den Overall. »Dafür hab ich das Schmuckstück hier.« Er hob ihn an und hielt ihn vor die beiden. Der Overall klapperte, fast als würde er dagegen protestieren, vom Stuhl genommen zu werden. »Uff, der wiegt weitaus mehr, als er aussieht …« Téo roch vorsichtig an dem grauen Stoff und verzog sofort das Gesicht. »Riecht aber so, wie er aussieht. Also: Ich tue einfach so, als ob ich ein Techniker wäre und die Server warten will.« Er lächelte schwach. »Wer würde schon einen langweiligen Techie anhalten?«
Inez wusste, dass Téo versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen, allerdings machte ihm sein eigener Plan eine Heidenangst. Wenn sie ihm jetzt vorschlagen würde, allein gegen den Pitbull einen Faustkampf zu bestreiten, würde er sich sofort auf den Weg machen. Aber die Vorstellung, dass ihn jemand ausfragen könnte, ihn dazu zwingen könnte, sich eine Geschichte aus dem Ärmel zu ziehen … das war eine Horrorvorstellung für ihn. Inez seufzte. »Vielleicht doch die Lüftungsschächte?« Er schüttelte den Kopf. »Geht leider nur in Filmen und Büchern, Nez.«
Lyz hatte ihren Angriff auf Téo inzwischen aufgegeben und blickte Inez mit flehendem Blick an. »Wenn du mich wirklich liebst, Geliebte … dann lässt du mich nicht in diesen Sarg steigen. Die Sangrada wird das sicher verstehen, es gibt doch Grenzen …«
Doch ihre Geliebte auf Zeit hatte sich bereits zu der Kiste gemacht und fuhr mit den Fingern vorsichtig über das Metall. Die Kiste war weitaus massiver, als es den Anschein hatte, und ließ sich nur schwer bewegen. Ein einzelnes Rad hatte sich wohl leicht verklemmt und gab ein nervtötendes, quietschendes Geräusch von sich. Sie bemerkte allerdings auch ein kleines eingraviertes »F«, aus dem einige stilisierte Flammen schossen. Feuvigil. Fast konnte sie Montclaros Stimme hören.
Solides Material. Kisten, Waffen, Schutzmaßnahmen – alles Feuvigil.
Gemeinsam mit Téo öffnete sie die Kiste und klappte die oberste Platte nach oben – zum Vorschein kam ein gedämmter Hohlraum, in dem sich ein einzelner Koffer befand – derselbe, der auch bei Triptyque für die Einsätze benutzt wurde –, auf dem zwei eigenartige Geräte lagen, die an Telefone erinnerten, nur dass sie weitaus klobiger waren. Téo stieß ein anerkennendes Brummen aus.
»Das sind die Kisten, die für die Jetons und die Einnahmen verwendet werden. Hier drin werden täglich tausende Escodinar und Jetons transportiert. Und diese Schätzchen …« Er nahm ein ‚Telefon‘ in die Hand und wog es vorsichtig. »… sind Kurzstreckenfunkgeräte. Damit können wir in Kontakt bleiben, wenn ihr in der Kiste seid. Ich glaube nämlich …« – nach einem Blick auf Lyz, die immer interessierter den geschlossenen Lüftungsschacht anstarrte, senkte er die Stimme – »… dass es dort komplett schalldicht ist.«
Inez flüsterte zurück. »Ist dort dann nicht auch nur begrenzt Luft?« Er zögerte. »Für den Weg sollte es auf jeden Fall reichen. Atmet … einfach nicht so viel, okay?«
Beste Voraussetzungen also.
Téo deutete auf die Wand, an der Lyz bereits mit betrübtem Gesicht stand. »Dreh dich mal um. Ich muss dieses Ding hier anziehen.« Inez schüttelte grinsend den Kopf, gehorchte aber. Sie kannten sich seit Jahren, waren durch dick und dünn gegangen, mehrmals dem Tod entsprungen … aber beim kleinsten bisschen nackter Haut zog Téo die Grenze. Sie stellte sich zu Lyz und legte ihr den Arm um die Schulter.
»Lyz?«
Sie antwortete nicht und legte stattdessen den Kopf auf ihre Schulter.
»Wir kriegen das hin. Wir sind da gemeinsam drin, das weißt du doch?«
Sie schüttelte kaum merklich den Kopf.
»Hey … okay, ich mach dir einen Vorschlag.«
Jetzt waren ihre Ohren gespitzt.
»Wenn wir den Schädel geklaut haben … wenn wir ihn der Sangrada gegeben haben … dann gehen wir zu dem Kino. Deal?«
Das alte Autokino in Vita Nera, das schon Jahre stillstand, war ihr Ort. Dort gingen sie immer hin, wenn es etwas Wichtiges zu besprechen gab oder das Leben in La Perdante mal wieder besonders schwer war. Es war ein kleiner Rückzugsort vor dem Wahnsinn, der Escorial hieß, und ihnen bisher noch nicht genommen wurde. Früher waren sie fast jeden Tag da, inzwischen konnte sie sich nicht einmal daran erinnern, wann sie das letzte Mal dort gewesen war.
Sie merkte, wie Lyz lächelte. Auch sie musste jetzt an einen Schwall Erinnerungen denken. »Also ein Date?«
Die Frage traf sie unvorbereitet, und sie spürte, wie ihr eine leichte Röte ins Gesicht stieg. Lavendel und Rauch. Ein Date?
»Also … wenn du es so nennen willst … wie früher halt, weißt du?«
Lyz grinste und hob den Kopf von ihrer Schulter. »Ein Date. Und ich steig mit dir in die Kiste.«
Inez lachte, als Téo hinter ihr protestierte. »Ohne mich! Wartet wenigstens, bis ich euch nicht mehr hören kann!« Sie hob die Hand. »Deal.«
Die beiden Mädchen schlugen ein.
Téo war inzwischen fertig und stand vor ihnen. »Also … wie sehe ich aus?«
Beide starrten ihn an.
Der Overall war ihm mindestens eine Nummer zu groß und hatte einige Löcher, die notdürftig geflickt waren. An einigen Stellen wölbte er sich, als würde dort irgendwas versteckt sein. Téo hatte Glück, dass er so breite Schultern hatte, sonst hätte er den Overall vermutlich als Rock tragen müssen.
Inez fand als Erste die Stimme wieder. »Willst du zuerst die schlechte … oder die noch schlechtere Nachricht hören?«
Er schnaubte nur und klopfte auf die Kiste. »Jetzt macht schon. Rein mit euch.«
Inez machte den ersten Schritt und kletterte in die Kiste, aus der Téo bereits den Koffer genommen hatte. Durch die Isolierung vor der gepanzerten Innenseite war es erstaunlich weich an ihrem Rücken. Sie blickte zu Lyz, deren Augen sie zögerlich aus dem Halbdunkel anstarrten. »Kommst du, Geliebte?« Sie sah, wie Lyz seufzte und sich kurz bekreuzigte, bevor auch sie zu ihr stieg. Jetzt war es gemütlich hier drin, ihre Knie berührten sich, und der Bewegungsspielraum war eingeschränkt. Lyz schluckte.
»Wir sind hier schneller raus, als du dir Sorgen machen kannst.« Sie nickte nur. Téo reichte ihr das Funkgerät und zeigte auf die Knöpfe. »Ich lass meins an, dann hört ihr, was ich höre. Wenn ihr mir irgendwas sagen wollt, dann drückt auf den Knopf hier. Der Deckel ist auch von innen zu öffnen, falls was ist. Und denkt dran, dass euch jederzeit jemand hören könnte, alles klar?«
Er schaute auf sie hinab wie ein Geist, der sein Schicksal mit einem gequälten Grinsen akzeptiert hatte. »Ja. Und du … pass auf dich auf, okay?« Er nickte knapp. »Showtime«, murmelte er und schloss den Deckel.
Mit einem Mal war es vollständig dunkel. Das leise Fiepen von Lyz holte sie zurück. »Shhh … es ist alles in Ordnung.«
Sie hörte draußen nichts mehr; nur ihr eigenes Atmen und das von Lyz war in der Kiste zu vernehmen. Dann knackte das Funkgerät, und sie zuckte zusammen. »Hört ihr mich? Over.«
Inez runzelte die Stirn und versuchte in der Dunkelheit den Knopf zu erwischen, den Téo ihr gezeigt hatte. Dann entriss ihr eine kalte Hand das Funkgerät. »Hier spricht irgend so ein Idiot in das Funkgerät. Soll das so sein? Over.«
Na also. Lyz war wieder da.
Auf der anderen Seite drang nach einer kurzen Pause die genervte Stimme von Téo zu ihnen durch. »Laut und deutlich also. Und jetzt leise. Ich gehe los.«
Die Kiste – sie versuchte angestrengt, nicht an das Wort Grab zu denken – setzte sich in Bewegung und warf sie leicht hin und her. Schnell merkte sie, dass sich über die Beschaffenheit des Bodens in etwa nachvollziehen ließ, wo sie waren. Die Kiste rollte jetzt über ebenmäßigen Boden, der dem Flur gehören musste. Schließlich gab es einen kleinen Sprung, und sie wurde nach rechts gedrückt – da, sie hatten die Ecke genommen und mussten jetzt kurz vor dem Serverraum sein. Sie grinste. »Schau, wir haben es fast geschafft, das war doch gar nicht so …«
Mit einem Ruck, der sie gegen Lyz stieß, kam der Wagen zum Stehen. Lyz’ Knöchel trafen sie mitten im Gesicht und trieben ihr Tränen in die Augen. Lyz fluchte. »Kann der nicht mal ’ne Kiste schieben? Was ist los mit diesem …«
Ein Knacken unterbrach sie – und die tiefe Stimme eines Mannes sprach direkt zu ihnen durch. »Wer du bist, habe ich gefragt! Ich habe dich hier noch nie gesehen … was ist das eigentlich für eine seltsame Aufmachung?«
Inez erstarrte. Dann Téos sanftes, zitterndes Stimmchen: »Wer … ich bin? Ich arbeite hier, ich bin Techniker, ich …«
»Lauter, Junge! Wer hat dich eigentlich zum Techniker gemacht? Hast du überhaupt schon mal irgendwas mit Kabeln und Metall in der Hand gehabt, so was Richtiges? Ich glaube nämlich …« – die Stimme des Mannes wurde bedrohlicher – »… du gehörst gar nicht hierher!«
Im Bruchteil einer Sekunde schossen alle möglichen Gedanken durch ihren Kopf. Das würde ihr Ende sein, sie würden jeden Moment entdeckt werden und aus dem Casino gezerrt – wenn sie nicht vorher erschossen würden. Dann zwang sie sich zur Ruhe.
Konzentration. Noch war nichts verloren. Selbst in diesem goldenen Sarg hatten sie Optionen.
Sie dachte an Téo. An den nervösen, schüchternen Téo, der sich fremden Menschen nur langsam öffnete und Konfrontationen verabscheute. Würde er den Wachmann von seiner Rolle überzeugen können? Sie wusste es nicht. Aber war das wirklich Téo? Der Mann sprach zu einem Techniker – vielleicht konnte Téo, wenn er nicht in seiner eigenen Haut steckte, die Lüge aufrechterhalten. Alles, was sie tun mussten, war, sich nicht zu bewegen und Téo machen zu lassen – und vielleicht würde sich das Problem von selbst lösen.
Dann das Funkgerät – ihre einzige Verbindung zur Außenwelt. Sie war immer noch La Cara – das Gesicht ihrer Gruppe, das mit seiner Stimme ebenso gut umgehen konnte wie Lyz mit ihren Händen und Téo mit seinem Verstand. Es wäre eine Herausforderung, jemanden zu überzeugen, ohne ihn zu sehen, aber es wäre vielleicht einen Versuch wert. Der Mann konnte nicht wissen, dass sie nur einen halben Meter neben ihm saß und über das Funkgerät mit ihm sprach – vielleicht würden ihre Worte dennoch auf taube Ohren stoßen und ihr Schicksal in diesem Sarg besiegeln.
»Inez! Téo packt das nicht! Wir sind zu dritt, er ist alleine – schnappen wir uns den Mistkerl!« Die Stimme von Lyz holte sie aus den Gedanken. Natürlich. Sie könnten auch die Klappe aufstoßen und mit dem Überraschungsmoment auf ihrer Seite einen Angriff wagen. Sie waren – vermutlich – in der Überzahl und aus dem Sichtkegel der Kamera. Téo wusste allerdings nichts von ihrem Plan, und sie konnten nicht genau einschätzen, wo der Mann stand.
Sie spürte, wie die Luft immer dünner wurde. Was sollte sie nur tun?



